Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Wien, 28. April 1857

Liebe Eltern!

Mittwoch 22/4 langte ich nach grade 12stündiger Fahrt wohlbehalten Abends um 7 Uhr hier in Prag an. Die Fahrt selbst war mir recht angenehm, obwohl ich sie zum größten Theil schon kannte. Die mancherlei Abschiedsgedanken, welche nach der Abfahrt von Berlin sich bunt in meinem Kopfe herumtummelten, und sich bald zu einer übersichtlichen Revue des eben verflossenen Winters gestalteten, verschwammen bei der Eisenbahnfahrt in dem trockenen märkischen Sand, bald zu einem gestaltlosen, aber anmuthigen Nebel, indem der süße Schlaf seine in den letzten Nächten aufgegebenen Rechte wieder in Anspruch nahm und mit unwiderstehlicher Gewalt mir die Augen zudrückte. So erwachte ich denn sehr erquickt erst wieder, als wir uns der Grenze des fruchtbaren Sachsens näherten a wo der junge Frühling überall mit frischem, freiem Blick uns anlachte. Die düstern Kiefernwälder zeigten sich schon hinter Jüterbogk mit zahlreichen, allerliebsten Laubholzgruppen durchsprengt, in denen die frisch knospenden Birken mit ihren freudiggrünen Blattspitzen einen reizenden Kontrast mit dem rothbraunen Reiserwerk der noch ganz erstorbenen Eichen bildeten. Auch die traurige Sandhaide wurde bald durch Felder und Wiesen verdrängt, die im zartesten, frischesten Frühlingsgrün prangten und hinter Röderau anmuthig die muldenförmigen Bodeneinsenkungen auskleideten. Besondere Freude machte mir aber die junge Vegetation, welche sich in und an den wassererfüllten Kanälen, die längs der Eisenbahn beiderseits vorliefen, entwickelt hatte. Bei dem Anblick der reizenden Schaar von weißem Schaumkraut (Cardamine pratensis) und goldgelben, großen Dotterblumen (Caltha palustris) ging einem das Frühlingsherz ganz auf. Auch die hübsche Strecke zwischen Meißen und Dresden, war schon recht frisch grün. In Dresden kamen wir um 12 Uhr an. Die schöne Eisenbahnbrücke über die Elbe ist jetzt ganz fertig, so daß wir direct auf der Verbindungsbahn zwischen dem Leipziger und Böhmischen Bahnhof weiterbefördert wurden. Dieselbe durchschneidet einen Theil der Stadt, zum Theil auf Wällen und Viaducten, die beträchtlich über deren mittlerem Niveau erhaben sind. An einigen Stellen geht die Straße tief unter der Bahn weg. Die schöne Fahrt auf dem linken Elbufer aufwärts, welche ich noch von der Teplitzer Reise her recht gut kannte, bot diesmal ganz eigne Reize. Gleich hinter Dresden ist das Elbthal noch sehr weit und hier setzte sich die prächtig hellgrüne ausgedehnte Fläche desselben sehr scharf von der dunkeln, fast schwarzen Wand von Nadelholz ab, welche wie eine Mauer dasselbe nach Ost begränzte. Diese letztere war nämlich durch ein eigenthümliches Streiflicht nebst den über ihr aufgethürmten dunkeln Wolkenmassen in tiefen Schatten gesetzt, während die die Wolken durchbrechende Sonne jene erstern grell erleuchtete. Weiterhin war die Fahrt durch die eigentliche sächsische Schweiz sehr anmuthig, indem die Obstbäume überall im

herrlichsten weißen Blütenflor, wie in einem Schneemantel prangten, und auf den hellen Gründen darunter gelegner junger Matten, sowie auf dem gelben Sandstein der || Uferfelsen sich sehr malerisch abhoben. Die characteristischen kubischen Quaderblöcke des letztern, in sehr abentheuerliche Formen von Wällen, Thürmen, Fenstern etc gruppirt und theils künstlich, theils natürlich vielfach in Tafeln und Klüfte zersprengt, springen nur an wenigen Orten unmittelbar in den Fluß vor, sondern sind an dem geröllbedeckten Fuße fast immer von einem dunkelgrünen Waldsaum umgürtet. Auch der Fluß machte sich recht stattlich, indem eine Menge Schiffe den günstigen Nordwestwind benutzten, um mit vollen Segeln stromauf zu fahren und so die freundliche Landschaft noch mehr belebten. Der reizenden Lage von Pirna, Königsstein, Lilienstein, Bodenbach, Aussig etc erinnert ihr euch wohl noch, so daß ich darüber nichts weiter zu sagen brauche. In Bodenbach wurde während ½ Stunde Aufenthalt die Paß- und Mauth-Revision in ganz ungewohnter Weise sehr human und kurz abgemacht. Die Strecke von b Aussig nach Prag, die ihr noch nicht kennt, ist ebenfalls sehr interessant, obwohl nicht so schön und ganz verschieden von der vorhergehenden. Hinter Aussig überschreitet die Bahn das kleine, hier in die Elbe mündende Nebenflüßchen Biele. Bald darauf erblickt man am rechten Elbufer auf hohem, steilem Fels sehr malerisch gelegen die Ruinen der Burg Schreckenstein. Dann durchschneidet man die weite, fruchtbare Ebene, in der Friedrich d. Große die siegreiche, erste Schlacht des 7jährigen Krieges (bei Lobositz) gewonnen, und an deren Wänden der schöne Czernosecker Wein (den wir hier aus Fürst Schwarzenbergs Keller getrunken) wächst. Weiterhin zeigen sich über diesen grünen das Thal schließenden Höhen, die malerischen Basaltkegel des Mittelgebirgs, das wir von Teplitz aus so oft bewunderten, vor allem der hohe Milleschauer.

Nach Ueberschreitung der Eger zeigt sich links das freundliche Leitmeritz und bald darauf, doch nur mit den Giebeln der Dächer über die Wälle vorragend, das sehr unscheinbare, aber feste Theresienstadt. Weiterhin liegt sehr malerisch an der Elbe das große Schloss von Raudnitz. Hinter dem weinberühmten Melnek geht man vom linken Ufer der Elbe auf das der hier in sie einmündenden Moldau über, und nun wird die Landschaft eine ganz andere. Wie in der sächsischen Schweiz, tritt die Bahn wieder unmittelbar an das Flußufer und folgt, zum Theil auf Wällen und Viaducten, überall genau den vielfachen Windungen desselben, in ein sehr enges Felsenthal eingeschlossen. Aber die Thalwände sind hier sehr von jenen verschieden, keine gelben, kubischen Sandsteinquadern, rings von einer grünen Zone umsäumt, sondern nackte, nur mit kurzem Gras bedeckte, rundlich gewölbte Kuppen und Wellen, steil in das Flussbett abgedacht, oder mit Vorgebirgstrümmern verhüllt. Die Vegetation ist ebenso dürftig als die Kultur, der Character im Ganzen düster traurig, obwohl interessant. Namentlich der Verlauf der Bahn innerhalb der starken Biegungen giebt recht hübsche Bilder. Auf einige Augenblicke sieht man schon die Thurmspitzen des Hradschin, lange bevor man nach Prag selbst hineinkömmt, indem man den Bergrücken dazwischen erst noch im weiten Bogen umfahren, und die Moldau überschreiten muß. Zuletzt fährt man auf hohem auf 87 Bogen ruhendem, über 3 000ꞌ langem Viaduct durch die nordwestliche und gewerbereiche Vorstadt, das Karolinenthal und windet sich endlich durch einen colossalen Bahnhof in die alte Stadt selbst hinein. Im Gasthof (zum schwarzen Roß) angelangt, legte ich mich sehr ermüdet, bald nieder. ||

Prag selbst hat mir, soweit ich es jetzt habe kennen gelernt, trotz des elendesten Wetters (der Regen hat in den 3 Tagen noch gar nicht aufgehört und dabei ist es so kalt, daß Freitag früh Alles mit einer dicken Schneelage bedeckt war) ganz vorzüglich gefallen und meine ziemlich hohen Erwartungen noch übertroffen. Vor Allem reizend ist die herrliche Lage, die wohl die sämmtlichen andern deutschen Städte von dieser Größe (150,000 Einwohner), und selbst die vieler kleinerer berühmter Schönheiten übertrifft. Heidelberg, Salzburg, Insbruck, den Rheinstädten kann sie sich gewiß an die Seite stellen, obwohl sie ganz verschieden und eigenthümlich ist. Der Moldaustrom, der die Stadt von Nord nach Süd mitten durchschneidet, ist viel breiter, als weiter unterhalb bis zur Elbe hin. Westlich erheben sich die Häuserreihen der Kleinseite terrassenförmig an dem steilen Uferabhang bis zum hohen Hradschin hinauf. Östlich liegt unmittelbar am Fluß die Altstadt, im weiten Ring von der schönen Neustadt umsäumt, welche dann von den überall den Horizont umziehenden Höhen malerisch überragt wird. Auch die Bauart ist sehr schön, in den älteren Theilen enge alterthümliche Gassen mit zierlichen Giebeln, Balkonen etc, in der Neustadt schöne, breite, lichtvolle Straßen mit eleganten, aber freundlichen neuen Gebäuden. –

Das Volksleben ist sehr interessant und abweichend von Allem bisher mir Bekannten. Sprache, Tracht, Sitten, Physiognomien sehr eigenthümlich, trotz des die kleinere Hälfte bildenden deutschen Elements doch entschieden slavischen Typus. Was endlich unsere speciellen medicinischen Institutionen betrifft, so sind dieselben wirklich ausgezeichnet, und thut es mir nur leid, sie nicht zu längerem Studium benutzen zu können. Zu diesem, d. h. zum berühmten Allgemeinen Krankenhaus, war auch mein erster Ausgang am Donnerstag (23/4) früh gerichtet. AIs ich eben aus dem Thorweg des Hotels austrat, kam grade Chamisso an, zufällig auch in denselben Gasthof gelaufen, da c die beiden, die wir verabredet hatten, schon ganz voll waren. Wir bezogen ein Zimmer in diesem gemeinschaftlich, mit freundlicher Aussicht in einen Garten, wofür wir (wohl als Drr!) nur 48 xr täglich zahlen, obwohl das schwarze Roß (wie wir nachträglich erfuhren) der theuerste Gasthof I Klasse hier sein soll. Während Chamisso auspackte, ging ich durch die prächtige breite Kollowratstraße und den noch großartigeren Wenzelsplatz nach dem Allgemeinen Krankenhaus. Ich war noch d 3 oder 4 Querstraßen davon entfernt, als ich e von Ferne einen echt mosaischen Typus direct auf mich lossteuern sah. Der krummbeinige Ebräer machte einen tiefen Kratzfuß, entblößte seinen viereckigen, kahlen Schädel und sagte mit vieler Salbung: „Ah, guten Morgen Herr Dr! Freut mich sehr, daß wir die Ehre haben, Sie auch hier zu sehen; hoffentlich bleiben Sie recht lange hier. Schauns, ich bin der „Spitaljud“, wenn‘s irgend was haben zu verkaufen, alte Kleider etc., zahle ich die besten Preise etc.“. – Trotz meiner Versicherung, daß ich nicht hier bliebe, verfolgte mich der edle Mann doch mit einer Reihe anderer Anerbietungen, Wohnung etc bis zum Spital, wo er sich mit der Bitte um geneigte Berücksichtigung unter vielen Bücklingen trennte. Ich mußte natürlich sehr über diesen Prager Willkommen lachen, fühlte mich aber doch nicht wenig geschmeichelt, schon so einen erhabenen Doctortypus an der Stirn zu tragen, daß selbst ein Spitaljud einem von weitem daran erkennt! – Im Spital selbst war das erste, das mir aufstieß, eine Schaar alter Würzburger Bekannter aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands, Oldenburger, Badenser, Thüringer, Sachsen, Baiern, Nassauer, Rheinpreussen, Westfalen etc, auch eine ganze Schaar Schweizer, welche mich alle, zum Theil im Andenken an meine Virchowsche Assistenz, so ungemein herzlich und freundlich begrüßten und mich mit den Prager und Wiener Verhältnissen bekannt machten, daß mir ganz warm und weich dabei wurde. Ein großer Theil von dem angenehmen Eindruck, || den Prag auf mich gemacht hat, verdanke ich jedenfalls ihrer liebenswürdigen Freundschaft. Sogar der erste Östreicher, den ich beim Eintritt in die Klinik begrüßte, war ein alter Bekannter, Dr. Kaulich aus Adersbach, mein erster Reisegefährte auf der Salzburg-Tyroler Reise, mit welchem ich in Gesellschaft von noch 5 andern Prager Studenten von Linz nach Hallstadt und Ischl gewandert war. Er war gegenwärtig Assistent bei Prof. Jaksch und machte mich als solcher auch mit den übrigen Assistenten bekannt, die meinen Namen schon von der Affaire mit Prof. Heschl in der Wiener medicinischen Wochenschrift kannten. So war ich in kurzer Zeit hier ganz bekannt und heimisch. Von 8–10 Uhr blieb ich in der medicinischen Klinik des Prof. Jaksch, eines leidlich tüchtigen Arztes, aber starken Renommisten, der alle Augenblick seinen phrasenreichen Vortrag durch erbauliche Excurse über den Werth und die Würde des ärztlichen Standes, die man nicht hoch genug schätzen könne, unterbricht. Übrigens war grade ein recht interessanter Fall, von Caries vertr. lumbal. mit Abszess frigid und Periprostitis da. Weit bedeutender und ganz ausgezeichnet ist die chirurgische Klinik von Prof. Pitha, die ich von 10–12 Uhr besuchte. Pitha ist einer der ersten deutschen Chirurgen, wo nicht der Allererste und wird von Vielen über Langenbeck gestellt. Obwohl er mir sehr wohl gefiel, so möchte ich doch diesem letzteren Urtheil nicht beitreten. Nach den wenigen Stunden, in denen ich ihn sah, ist er umsichtiger und besonnener als Langenbeck, aber auch weniger kühn, rasch und elegant im Operiren. Seine wissenschaftliche Bildung, namentlich die pathologisch anatomische scheint bedeutender, sein Operationstalent aber geringer. Die Art, wie er mit den Patienten umgeht, ist sehr nett und human.

Bei den Fällen, die grade vorkamen, hatte ich Gelegenheit, die Indolenz und den cholerisch phlegmatischen Character der Czechen zu bewundern. Ein Knabe und ein alter Mann mußten 2 sehr schmerzhafte und langwierige Operationen ohne Chloroform aushalten und äußerten dennoch kaum einen Laut des Schmerzes. Ersterer war mit tief greifender, sehr entwickelter Hasenscharte geboren, sammt Wolfsrachen, welche sehr fein zusammengenäht wurden. Letzterer hatte ein großes Carcinom am Hals, zwischen die großen Gefäße tief hineingreifend mit 3 Wurzeln, die alle einzeln unterbunden wurden. Dann wurde u. A. ein sehr merkwürdiges Präparat von einer Littré’schen Hernie gezeigt, wo nur ein sehr kleines Stück der feinen Intestinalwand eingeklemmt war, und die Einklemmung sich auch nach der völligen Reposition nicht gehoben hatte, obwohl der ganze Hernialsack dabei nach innen eingestülpt war. –

f Ein sehr komisches Rencontre hatte ich auf einer Bank des Auditorium, indem hier des Bild eines alten Würzburger Bekannten, Kreuz, (den wir wegen seines absonderlichen Aussehns immer „Fitzliputzli, der Sonnengott der Peruaner“ genannt hatten) unübertrefflich ähnlich in das Holz der Tafel eingegraben war. Um 12 Uhr ging die gesammte Deutsche Doctorschaft zu dem constanten, ihr besonders zugeeigneten Mittagstisch von Binder, wobei der 4te Vers des berühmten Prager Medicinerliedes gesungen wurde: „Dann euch hin zum edlen Binder, will ich sein des Pfades Finder, wo der Haase golden hüpft, wo des lieblichen Tokayer, kühlend süßes Freudenfeuer, willig durch den Pharynx schlüpft!“ Eine ganz famose, höchst originelle Kneipe, sehr ähnlich Auerbachs Keller in Leipzig, mit sehr gutem und relativ billigem Essen und dem köstlichsten Ungarwein, den wir uns gehörig schmecken ließen. Nach Tisch ging ich von dem Pulverthurm (neben dem Hôtel) durch die Zeltnergasse, den belebtesten und buntesten Straßenzug der Altstadt zum „großen Ring“, dem größten Platz derselben, dessen eine Seite die alte Hussitenkirche (Teynkirche), dessen andere das schöne, im gothischen Styl gebaute, neue Rathhaus einnimmt. Dann über den kleinen Ring, an dem Collegium Clementinum vorbei, dem ungeheuren Universitätsgebäude, das fast ein ganzes Stadtviertel bildet, zu der berühmten 16bogigen, alten, colossalen Brücke, welche unterhalb der neuen Kettenbrücke über die Moldau führt und den Hradschin mit der Altstadt verbindet. || Die Aussicht, die man von dieser Karlsbrücke genießt, ist ganz köstlich, namentlich auf die ungeheuren Häusermassen des Hradschin, welche sich terrassenförmig auf dem steil ansteigenden linken Ufer erheben. Dann der Blick hinunter auf die Befestigungen und hinauf auf die Kettenbrücke, sowie entlang des Paläste reichen Quai! Die Bogenbrücke selbst ist mit einer Menge Standbilder von Heiligen verziert, von denen das bedeutendste das des Nepomuk, der einem in Prag in allen Gestalten und in allen Momenten seiner Wasserfahrt überall in Bild und Stein begegnet. Neben dem Brückenthurm des rechten Ufers steht die schöne Erzgußtatue des Gründers der Universität, Carls IV. auf einem Piedestal mit den 4 Facultäten. Von hier wanderte ich längs des schönen Quai hin an dem prächtigen Monument Franz I. vorbei (einer schönen gothischen Spitzsäule, deren Piedestal mit 16 Statuen geziert ist, und unter deren Kuppel die Reiterstatue steht) zu der herrlichen Kettenbrücke, der schönsten und grössten, die ich gesehen. Sie besteht eigentlich aus 2 einzelnen Kettenbrücken, die in der Mitte des grade hier sehr breiten Stroms, auf einer kleinen Insel zusammentreffen und gemeinsamen Fuß fassen. Von da kehrte ich zum Allgemeinen Krankenhaus zurück, wo ich von 4–5 Uhr die Visite in der chirurgischen Klinik mit dem ersten Assistenten, Dr. Guentner, einem sehr netten und gebildeten Manne, machte und eine Reihe sehr interessanter und seltener Fälle sah. Weniger interessant war die Visite mit Dr. Petters in der medicinischen Klinik v. Jaksch, von 5–6. Abends machten wir noch einen kleinen Spaziergang auf die Bastei, an dem erhöhten Ende des Wenzelsplatzes, von wo man einen schönen Blick auf den Hradschin hat und brachten dann den Abend mit allen unsern alten Würzburger Freunden sehr vergnügt und fidel im sogenannten „Hopfenstock“ zu. Freitag, 24/4 ging ich schon früh um 7 Uhr auf den hohen Windberg, hinter dem Spital auf einem der höchsten Hügel der Stadt gelegen, wo sich das sehr umfangreiche Gebärhaus, eine der umfangreichsten deutschen Entbindungsanstalten befindet. Die Klinik des Prof. Seiffert ist wegen ihres außerordentlichen Reichthums an Material (fast immer über 300 Patienten) sehr nutzbringend für den, der sich tiefer in dies edle Studium einlassen will; da es mir aber von jeher unter allen Zweigen der traurigen praktischen Medicin der allertraurigste schien und überdies || der Vortrag und die Manier des Herrn Seiffert weder in wissenschaftlicher noch sonstiger Hinsicht mich befriedigten, so konnte ich das allgemeine Entzücken meiner jungen Collegen über diese Probe der Prager Universität nicht theilen. Etwas Anderes ist es freilich, wenn man sich einmal speciell damit zu beschäftigen und geburtshilflich zu practicieren gedenkt. Dann mag die ungeheure Masse verwerthbareng Materials und die unbeschränkte Freiheit der Benutzung desselben unschätzbar sein, namentlich wenn man, wie die meisten ausländischen Doctoren thun, seine Wohnung im Gebärhause selbst aufschlägt, wo man dann alle Augenblick sich kann rufen lassen. Doch gehört immer ein eigner Appetit dazu, da diese sogenannten „Kasernen“ von parasitischen Gliederthierchen aller Art ordentlich wimmeln. Ich beneide sie nicht! – Übrigens entgeht einem hier, sowie in dem Krankenhause, sehr viel dadurch, daß die meisten Kranken nur böhmisch sprechen, von deutsch keinen Begriff haben und daher nur mittelst eines Dolmetschers examinirt werden können. – Von 8–10 Uhr hörte ich einen ziemlich langweiligen und phrasenreichen Vortrag des Prof. Jacsch über „Typhus“ an, mit zahlreichen Excursen über den Werth des ärztlichen Standes gemünzt. Dann sah ich von 10–12 wieder bei Prof. Pitha ein paar sehr schwierige und mit größtem Geschick ausgeführte Operationen (u. a. zahlreiche Tenotomieen an beiden Füßen, die in Folge von Scarlatina contrahirt waren). Von 12–1 Uhr wurde, wie alle folgendenh Tage beim kleinen possirlichen „Hasenbinder“ gegessen und dabei das schöne Mediciner Album, in dem auch das berühmte Prager Mediciner-Lied steht, studirt. Nachmittag bestiegen wir trotz fortdauerndem Regenwetters den Hradschin und erfreuten uns der prachtvollen Aussicht, die am schönsten vom höchsten Punkte desselben, der Spitze des hohen Domthurmes, sich gestaltete und den Fluß hinauf und hinab möglichst weit verfolgen läßt, zu den Füßen das prächtige Häusermeer. Auch das Innere des Doms besahen wir, das durch edle gothische Architectur ausgezeichnet und dem des Kölner Doms ähnlich, aber durch Überladung mit Vergoldung und || buntem Farbenwerk verunziert ist. Besonders merkwürdig darin sind die prächtigen Marmordenkmäler der böhmischen Könige, die Gußstatuen des h. Wenzel in einer mit lauter geschliffenen Edelsteinen ausgelegten Kapelle, das 30 Centner Silber haltende Grabmal des h. Nepomuk, eine schöne Marmorstatue der strangulirten heiligen Ludmila u. A. Nachdem wir in Gesellschaft des Dr. Geigel aus Würzburg und eines praktischen Arztes aus Dresden uns auch in den weitläufigen Räumen der königlichen Burg umgesehen, kneipten wir noch ein paar Stunden sehr fidel im Palais des Fürst Schwarzenberg bei ein paar Flaschen köstlichen Czernoseckers. Dann gingen Chamisso, H. Mueller und ich in das Theater, wo wir die berühmte Marie Seebach als Adrienne Lecouvreur sahen. Das Stück selbst, echt französisch hohl und flach, voll Phrasen und Effecthascherei, mißfiel uns sehr und das an und für sich höchst ausdrucksvolle und echt weibliche Spiel der Frl. Seebach paßte doch grade zu dieser unweiblichen Rolle gar nicht und wurde außerdem durch die mit einer einzigen Ausnahme (der väterliche Freund der Adrienne) ganz unter aller Kritik spielenden übrigen Schauspieler so beeinträchtigt, daß der Totaleffect unsere Erwartungen nicht erreichte. –

Samstag, 25/4 i besuchten wir früh das böhmische Nationalmuseum, eine reiche und mannichfaltige Sammlung der verschiedensten Kunst- und Naturgegenstände unter letzteren namentlich schöne Petrefacten aus der Prager Steinkohle, unter ersterer sehr alte czechische Handschriften, altböhmische Waffen, Modelle etc. Dann machten wir einen vergeblichen Versuch, die Kunst- und Gemäldesammlungen im Wallensteinschen und Rostitzschen Palais zu sehen, welche wegen Anwesenheit der Herrschaften nicht geöffnet waren. Nachmittag besuchten wir die ganz in sich abgeschlossene Judenstadt, am nordwestlichen Winkel der Altstadt von der übrigen Häusermasse scharf gesondert, auch leicht kenntlich ohne ihre characteristischen Bewohner, die ausgeprägter als irgendwo ihre Eigenthümlichkeiten beibehalten haben. Dann ging ich mit Chamisso und Müller, von der Karlsbrücke anfangend, in weitem Bogen rings um die ganze Alt- und Neustadt herum, anfangs an der Moldau hinab, dann hoch oben auf den Wällen und der Bastei hin. || Der Blick auf die Stadt und ihre Außenwerke, auf die gewerbereiche nördliche Vorstadt Karolinenthal, die lange Eisenbahnbrücke, die letztere über der Hetzinsel durchschneidet, sowie den colossalen Bahnhof, sind sehr interessant. Durch das blinde Thor gelangten wir an das Südwestende der Stadt, stiegen hier in eine Schlucht hinab und dann ziemlich steil einen nackten, stark befestigten Kuppelberg hinan, welcher als isolirtes Außenwerk und zugleich südlichster Punkt der ganzen Stadt unmittelbar an der Moldau kühn sich erhebt. Es ist dies die jetzige Bergfestung „Whisserhad“, früher die Burg der mährchenhaften Böhmenkönigin Libussa. Wohl über eine Stunde kletterten wir auf allen Spitzen und in allen Winkeln dieses interessanten Felsennestes umher, dessen einzelne Punkte sehr schöne Aussicht auf Stadt, Fluß und Hradschin gewähren, die man hier in ihrer ganzen westöstlichen Breite erblickt. Besonders schön und sonst an keinem andern Punkt Prags ist der Blick auf die Krümmungen des Moldauthals stromaufwärts gegen Süden, deren Ufer von freundlichen weißen Dörfern, Kapellen etc geschmückt sind. Steil stiegen wir auf vorspringenden Felsen zur Moldau hinunter, setzten auf das linke Ufer der letztern über und gingen auf demselben noch mit mehrfachen Abwegen über die Stadt Smichow, die Villa Kinsky, den botanischen Garten etc nach Haus zurück. Abends wurde mit den alten Freunden im Hopfenstock gekneipt.

Sonntag 26/4 war früh wieder das rauheste und unfreundlichste Schneewetter, so daß wir unsern Plan auf den Hradschin und Lorenzoburg aufgeben und uns damit begnügen mußten, etwa ½ Dutzend verschiedene Kirchen zu sehen, meist sehr geschmacklos mit Vergoldung und Schnitzwerk überladen. Sehr überrascht wurde ich, nachdem ich meine alten 6 böhmischen Reisegefährten aus dem Salzkammergut noch einmal vergeblich aufgesucht, durch die Ankunft meines alten Würzburger Freundes Dreier aus Bremen, welche mich bestimmte, auch Montag noch dazubleiben. Mittag 2 Uhr war ich zu einem Kaffee mit türkischem Taback von dem Privatdocent der pathologischen Anatomie, Dr. Lambl (der einst Nachfolger von Virchow werden sollte und sich dazu schon vorigen Herbst präsentirte) geladen. Ich traf dort die beiden Assistenten des Prof. Treitz, die Dr. Breisky, 2 recht nette pathologische Anatomen und Menschen, ferner einen ziemlich langweiligen Dr. Kilian aus Bonn und später kamen noch 2 alte Lausanner Bekannte, Dr. D’Or und Dr. Saucin. Der Nachmittag von 2–6 wurde sehr vergnügt und munter verplaudert, wobei ich viel von meinen Reisen erzählen mußte. Lambl war auch in Nizza vorigen Herbst gewesen. Um 6 Uhr ging ich mit Chamisso, Mueller, Dreyer, Evers und Maaß auf die, in Mitten der Kettenbrücke gelegene Schützeninsel, wo hübsches Koncert war und man das Volksleben der indifferenten Czechen am Sonntagnachmittag bewundern konnte. Von da gingen wir zu Binder am Ring (dem j Onkel des kleinen „Hasenbinder“), wo wir bei köstlichem Ungarwein bis tief in die Nacht außerordentlich fidel waren und eine Masse alter, lieber Erinnerungen wieder aufwärmten. Der edelste Trank, fast das schönste, was ich je gekostet, war Menescher Ausbruch, an dem man fast zum Süffel werden könnte, namentlich bei der riesigen Billigkeit desselben (1 Flasche 1 fl). Maass war äußerst witzig; Dreyer sehr gemüthlich. –

Montag, 27/4 um 7 Uhr war ich trotz des Abschiedskneipens sehr munter und schon zu rechter Zeit in der geburtshilflichen Klinik auf dem Windberg, dessen Institution ich mir noch einmal gründlich ansah. k Von 8–10 Uhr wurden wir drei, nämlich der Dresdner Practicus, Chamisso und ich, nachdem wir uns dem Prof. Kostly, Director der Irrenanstalt, hatten vorstellen lassen, in dieser aufs freundlichste herumgeführt. Dieselbe gehört zu den größten deutschen Instituten und enthält fast immer über 700 (!) Irre. Die Einrichtung, und namentlich die Räume sind wie bei allen Prager Krankenanstalten, sehr groß und prächtig. Auch sahen wir eine Menge interessanter Fälle. Der Herr Prof. aber, ein kleines, wunderliches Männchen, machte mit seinen Behandlungsmethoden einen ziemlich schwachen Eindruck. Characteristisch ist es, daß die große Mehrzahl der Irren Deutsche sind. || Um 10 ging ich in das Clementinum hinunter, um den jüngst hierher gekommenen Professor der Zoologie, Stein aus Tharand zu hören, einen sehr tüchtigen Naturforscher, der mir sehr wohlgefiel. Er sprach sehr interessant und fließend über die vergleichende Anatomie des Schädels und Gehirns. Mir wurde dabei ganz wehmüthig warm, und das ganze medicinische Bewußtsein fiel mir vor die Füße. − Nachher wollte ich noch das anatomische Museum sehen, konnte aber keinen Zutritt erlangen. Mittag bei Binder wieder ein paar andre alte Würzburger Mediciner, die heute angekommen: Althof aus Amerika etc. Der Nachmittag war noch ganz leidlich obwohl ohne Sonnenschein (den wir leider in dem herrlichen Prag gar nicht gesehen haben). Wir kletterten deßhalb (Chamisso, Mueller, l Dreyer, ich) auf den höchsten Punkt von Prag herauf, die Kapelle des h. Laurentius, welche auf dem Berge südlich oberhalb des Hradschin liegt und von der wir die prachtvollste Aussicht auf Prag und seine herrliche nahe und ferne Umgebung genossen. Unten Fluß und Stadt, darüber Höhen, nordwestlichm Erzgebirge, Mittelgebirge, nordöstlichn Riesengebirge, südlich Böhmerwald. Herrlich auch der Blick auf die Hradschinpaläste, auf die Abtei Strahow, die Festungswerke, die Brücken etc. Nur jammerschade, daß hier kein ordentlicher Aussichtsthurm ist. Man muß durch 3 Dachlucken nach 3 verschiednen Seiten sehen, zu welchen man auf Leitern emporklettern muß. Jedenfalls ist dies eine der herrlichsten Aussichten Deutschlands, nicht reizend genug zu schildern, selbst Salzburg und Heidelberg in vieler Hinsicht übertreffend. Viel schwächer ist die Aussicht vom Hradschin und von der zwischen beiden gelegenen stattlichen Praemonstratenser-Abtei Strahow, die wir nachher nocho besuchten. Auf dem Herunterwege sahen wir noch die Loretto-Kapelle auf dem Hradschin, der italischen Santa Casa nachgeahmt, ferner das prachtvolle Graeflich Czerninsche Majorathaus, einen der stattlichsten Paläste Deutschlands und nahmen endlich noch von Dom, Hradschin, Brücke und der interessanten Stadt selbst ungern Abschied. ||

Nach herzlichem Abschied von den vielen lieben alten Bekannten, und von dem prachtvollen Prag, das uns außerordentlich gefallen, fuhren wir am Abend des Montag (27/4) um 7¼ Uhr von da ab. Wie die Häringe in einen schlechten Wagen III. Classe gepöckelt, kamen wir nach grade 12stündiger Fahrt heute (Dienstag) früh 7¾ Uhr hier wohlbehalten, obgleich sehr müde und zerschlagen an.

Von Wien werde ich euch das nächste mal schreiben. Heute nur soviel, daß wir trotz aller Mühe keine Wohnung bekommen konnten, auch nicht die erbärmlichste. Doch soll grade jetzt die schlimmste Zeit und in 14 Tagen Ueberfluß davon sein. Vorläufig wohne ich bei Richthofen, Chamisso bei Stachow. Den Brief bitte ich zunächst zu adressiren: Dr. Haeckel aus Berlin, p. Adr. Herrn Dr. v. Call, p Wien, Alservorstadt, Schlösselgasse N. 27. II Stiege. Thür 16. Unsre lieben Freunde haben uns aufs herzlichste aufgenommen.

Auch hier wimmelt es von 1 Masse alter Würzburger. An alle Verwandten und Bekannten die herzlichsten Grüße. Euch selbst, liebste Alten, den herzlichsten Gruß, Dank und Kuß von eurem alten, treuen, immer muntern und fidelen Ernst.

Ist wohl der rothe Baedeker an la Valette, und die Broschüre an Virchow besorgt?

a gestr.: und; b gestr.: Pr; c gestr.: der; d gestr.: über; e gestr.: nicht; f gestr.: Um 12 U. gingen; g korr. aus: werthbaren; h gestr.: vorher gehenden; eingef.: folgenden; i gestr. Freitag 24/4 eingefügt Samstag 25/4; j gestr.: Vate; k gestr.: Um; l gestr.: ich; m korr. aus: westlich; n korr. aus: östlich; o eingef.: noch; p gestr.: Prag; q Wort wegen Papierausriss teilweise unleserlich

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
28.04.1857
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37746
ID
37746