Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte, Carl Gottlob und Karl Haeckel, Wien, 21. Juni 1857

Liebe Eltern!

Inliegend folgt die Skizze unserer ungarischen Excursion, die schon lange fertig liegt. Ich wartete mit dem Abschicken immer, weil ich vorher noch von euch einen Brief zu bekommen hoffte; doch bis heute Abend vergebens. Ich schicke nun sie ab, damit sie Karl noch antrifft, der nach seinem letzten Brief ja wohl Sonntag bei euch sein wird.

Ich bitte Dich, lieber Karl, mir aus der mittleren Lade von Vaters Secretär, wo meine Papiere liegen, aus diesen für das Staatsexamen herauszusuchen: 1. Das Original des Abiturientenzeugnisses 2. Das Zeugniß über das Tentamen philosophicum (ein halber Bogen, gestempelt und von Dove unterzeichnet) 3. Die 5 a Universitätsb Abgangszeugniße (drei aus Berlin, zwei aus Würzburg) 4. Einen Abdruck des Diplom. Vorläufig bitte ich diese Papiere in einemn Bogen zusammen apart zu legen. Ferner bitte ich nachzusehen, ob mein alter, grünschwarzer baumwollener Reiseregenschirm noch da ist, den Du mir dann mitbringst. Auch Bädecker nicht zu vergessen. Eine Gletscherbrille brauchst Du nicht. Zum Überfluß hab ich eine hier. Wegen der mitzunehmenden Wäsche etc thust Du wohl Dich möglichst einzuschränken. Ich nehme im Ganzen (inclusive dem, was ich auf dem Leib trage) mit: 1 Plaid, 1 leichten Sommerrock, 1 wollene Sommerhose und 1 Turnhose (die nöthigenfalls als Unterhose dient), 3 Hemden, 4 Schnupftücher, 4 Paar Wollstrümpfe, 1 Mütze, 1 paar leichte Schuh (zugleich als Pantoffeln zu brauchen), 1 Paar Alpenschuh, 1 Regenschirm. Das ist Alles. Einen Reisesack mit Reservewäsche vorauszuschicken, finde ich unnöthig. Es geht das nicht so leicht und bequem wie in der Schweiz, da die Östereichische Post viel theurer und unsicherer ist. Für Wien kann ich Dir ja von meiner Wäsche nachher hier zurücklassen, so viel Du brauchst. Sollte Deine Jagdtasche wirklich zu klein sein? Mir däucht nicht. Sonst ist das Ränzel am Ende doch practischer. Ich nehme meine alte Alpentasche mit, die ich hier habe, und die zusammen mit der Pflanzenpresse eine Art Renzel bildet. Schreib mir nur bei Zeiten über alle etwa noch nöthigen Vorbereitungen.

Euch, lieben Eltern, heut nur noch herzlichen Gruß. Ich lebe schon ganz in Gedanken zu der gemeinschaftlichen Alpenreise mit Karl auf die ich mich außerordentlich freue. Wenn nur das medicinische Staatsexamen nicht wäre. Mein Sitzfleisch, das jetzt sehr fleißig war, fängt schon wieder an abzunehmen. Da hier alles schon von Reisen denkt und spricht, bin ich auch schon etwas zerstreut. Doch verfolge ich mit größtem Interesse die Physiologie bei Bruecke und Ludwig. Auch die Cliniken gefallen mir jetzt wieder besser. || Dieser Tage verlebte ich bei Brücke einen sehr netten Abend. Sonst fehlt mir eigentlich etwas Familienumgang sehr. Bekannte habe ich genug und mit unserm engern nordischen Kreis bin ich täglich viel zusammen. Man wird aber zu einseitig Mediciner. In Berlin wird mirs wieder umgekehrt gehen. –

Auf die Fragen des vorigen Briefs bitte ich, ja zu antworten, namentlich wie viel Dissertationen noch da sind – Herzliche Grüße. Bald mehr.

Euer alter Ernst.

[Beilagen: Berichte über die Exkursion nach Ungarn, 30.5. 2.6.1857und die Exkursion zum Bisamberg, 7.6.1857]

Excursion nach Ungarn.

Wir hatten beschlossen, die Pfingstferien, die vom 30/5 bis 4/6 dauerten, mit einer Fahrt nach Ofen und Pesth auszufüllen und fanden uns demgemäß am Morgen früh um 6 Uhr (Samstag 30/5) am Landungsplatz unterhalb der Ferdinandsbrücke zusammen, wo uns ein kleiner Dampfer aufnahm und am Prater vorbei durch den Donaukanal zu dem großen Dampfschiff brachte, das an der Einmündung des letztern in den Hauptstrom lag. Wir waren diesmal unserer Fünf, lauter „Nordländer“, wie man uns in Wien antagonistisch bezeichnet; nämlich: Krabbe (Kjoebenhavn), Cowan (Edinburgh), Focke (Bremen), Chamisso und ich. Die 13stündige Donaufahrt befriedigte unsere Erwartungen nicht, obwohl sie in mancher Hinsicht sehr eigenthümlich ist. An landschaftlich schönen Bildern bietet sie nur sehr wenig und auch dies wenige steht weit hinter den obern Strecken des Flußes (von Regensburg bis Passau, Linz, Wien etc) zurück. Mit Ausnahme weniger kurzer, unten zu erwähnenden Strecken bietet der Fluß selbst überall denselben einförmigen Character: Ein trübes schmutzig-gelbgraues, undurchsichtiges Wasser von bedeutender Breite, und ziemlich starke Strömung, das aber im größten Theil seines Laufs durch Inselbildung sich sehr zersplittert und verliert. Die Ufer sehr flach, eben, kaum ein paar Fuß über dem Niveau erhoben, mit kiesigem oder lehmigem Gehänge, von dem, da nirgends etwas für Flußkultur und Uferbauten geschehen ist, beständig große Stücke abgespült und weggerissen werden. Über diesem niedrigen, unterminirten, oft mit niedern Sträuchern besetzten Absturz dehnt sich entweder in unendlicher Einförmigkeit und trostloser Leerheit die weite grüne Steppe aus, überall Gras und nichts als Gras dem umsonst nach einem Ruhepunkt suchenden Auge bietend, oder es wird der weitere Umblick durch dichte Wälder von dichtgedrängten, schöngewachsenen, hohen Weidenbäumen abgeschnitten, welche aber in Wuchs, Größe und Mischung ebenso viel Monotonie bieten, wie die weiten Grasfluren der Steppe. Man glaubt sich in der That ganz außerhalb || des civilisirten Mitteleuropa versetzt, so unbewohnt, leer und öde erscheint des ganze Land, und man braucht nur wenig Phantasie um sich einzubilden, man führe auf einem kaum erst entdeckten Flusse des nördlichen Amerika oder Asiens. Namentlich an die Bilder von Uferlandschaften im südlichen Kamtschatka, die Kittlitz in seinen Vegetationsansichten so trefflich dargestellt, wurde ich lebhaft erinnert. Mit diesen eigenthümlichen, einförmigen Vegetationsverhältnissen stimmt der Character der thierischen und menschlichen Bevölkerung dieser ungarischen Donauufer trefflich zusammen. Hinsichtlich des erstern ist zu bemerken, daß die Ufer noch am meisten durch zahlreiche Rinderheerden belebt werden, die sehr malerisch am Ufer oder Waldrand gelagert sind, oder auf der Steppe grasen und sich tummeln, oder, was ihnen besonders Vergnügen zu machen scheint, bis über die Kniee im seichteren c Wasser stehen und sich von den Wellen anspülen lassen. Überall ist es dieselbe characteristische Race: hochgebaute, schlanke, relativ wenig plumpe und massive Thiere mit durchgehends weißer Farbe und sehr langen, weit divergirenden [Zeichnung Rinderkopf] schwarzen Hörnern. Auch ihr schwarzes Auge und ihre intelligente Physiognomie zeichnen sie nicht wenig vor unserm gemeinen Rindvieh aus. Kaum minder zahlreich sind, besonders auf den Grasfluren, die großen Pferdeheerden, bei denen man ebenso wenig als bei den Rindern, Hund und Hirten bemerkt, und die sich ebenfalls in ungebundener Freiheit ihres Lebens freuen. d Es sind kleine, gedrungene Thiere mit langen Mähnen und Schweifen, sehr unbändig, flink und schnell. Außer diesen beiden tritt nur noch ein drittes thierisches Element in großer Masse ine der Landschaft auf: zahllose Schaaren von großen, schwarzen wilden Enten, Tauchern, Wasserhühnern etc, welche dichtgedrängt die ausge-||dehnten Inseln in den vielen Donauarmen bewohnen und auf einem Beine stehend mit großer Bedächtigkeit sich das vorüber sausende Dampfschiff betrachten, an dessen Anblick sie schon ganz gewöhnt scheinen, wie sie denn auch außerdem wohl kaum von Menschen beunruhigt werden. Auch einzelne Reiher und Kraniche bemerkten wir, die am Ufer fischten. Von Fischen selbst sah ich Nichts. Viel rarer, als die Bestien, sind die Magyaren, von denen man auf der ganzen Fahrt nur wenig sieht und zwar nur 2 Formen, nämlich Schiffer und Wassermüller. Die erstern haben einen ebenso einförmigen Habitus, wie Alles andere: braune, hagere, sehnige Gestalten mit feurigen dunkeln Augen und bis über die Schultern herabhängenden rabenschwarzen Haaren, meist edle, scharf geschnittene Züge. Ein paar sehr weite, fast rockartige, weiße Leinwandhosen, eine ebensolche kurze Jacke und ein schwarzer Filzhut mit breiter Krämpe und rundem Deckel. So sitzen sie phlegmatisch auf ihren kunstlos zusammengezimmerten Flößen und Schiffen, welch letztere freilich kaum diesen Namen verdienen. Starke breite Bohlen und Planken sind in einfachster Weise zu einer Fähre zusammengefügt, auf der eine ebenso roh gezimmerte Hütte steht. Alle Schiffskünste sind hier noch auf den ersten Stadien der Kultur stehen geblieben. Diese Flöße sind erst im untern Theil häufiger, überhaupt aber sehr wenig zahlreich. Und von andern Schiffen wird der Fluß auch nicht befahren, die wenigen Schleppdampfer ausgenommen, die eiserne Schleppkähne stromauf transportiren. Der Fluß selbst erscheint weithin ebenso todt und öde, wie seine Ufer, an denen einzelne Dörfer und Hütten sehr selten sind, und nur in großen Zwischenräumen ein einzelner größerer Flecken auftritt. Die meisten menschlichen Wohnungen, denen man begegnet, sind die schwimmenden Schiffmühlen, die mitten im Strom vor Anker liegen, meist zu Gruppen von 20–30, oft aber auch von 80–100 vereinigt. || Selbst die größeren Städte, die in weiten Zwischenräumen an den Ufern zerstreut liegen, bieten nur sehr wenig Eigenthümliches oder Auszeichnendes. Sie sind still und wenig belebt, die Häuser alle nach einem Schnitt: breit und niedrig, 1–2, selten 3stöckig, weiß angestrichen mit schwarzen Dächern und wenigen kleinen Fenstern. Die erste interessantere Zwischenstrecke auf der langen, einförmigen Fahrt bietet die Grenze zwischen Östreich und Ungarn und der Eintritt in letzteres. Die Donau bricht hier mitten durch die südwestlichen Ausläufer der Karpathen durch, deren Fortsetzung nach Süden und zugleich Verbindung mit den Alpen das östlich das Wiener Becken begrenzende Leithagebirge bildet. Nachdem der Strom das lange, weite durch die Napoleonischen Schlachten berühmte Marchfeld durchschnitten, zwängt er sich da, wo von Norden die March in ihn einmündet, durch das ungarische Donauthor, das links von den gesprengten Ruinentrümmern der Felsenfestung Theben, rechts von dem sehr malerisch mit seiner Schloßruine am Fuße bewaldeter Hügel vortretenden Hainburg, eingeschlossen wird. 1 Stunde weiter hinab liegt die alte ungarische Königsstadt Preßburg, die nachd eben so wenig aussieht, als die starke, am Einfluß der Waag gelegene Festung Comorn, von der man nur ein paar Mauern und Thürmchen sieht. Viel stattlicher nimmt sich weiterhin, an der Einmündung der Gran, die ansehnliche Stadt Gran aus, mit einem auf einem Berg sehr schön gelegenen, colossalen Kuppeldom, nach dem Muster der Peterskirche in Rom gebaut. Auch die vom hohen Fels bis zum Flußufer herabziehenden Trümmer der Bergfestung Wissegrad bringen Abwechslung in die Gegend, die überhaupt auf dieser Strecke, von Gran bis Waizen, noch den meisten Reiz hat. Die öde flache Steppe wird hier von einer Kette dichtbewaldeter Kalk und Porphyrhügel unterbrochen, zwischen denen die Donau in anmuthigen Krümmungen sich durchwindet, und die mit ausgedehnten Weinpflanzungen geschmückt sind. Hinter Waizen, wo die Donau in rechtem Winkel nach Süden umbiegt, wird die Gegend wieder flacher bis bald im Hintergrund der Blocksberg erscheint und am Fuße desselben die Thürme und Dächer von Pesth, wo wir endlich Abends um 7 Uhr anlangten und im „Schwan“, wo wir recht gut und relativ billig wohnten, abstiegen. ||

Ofen und Pesth (ungarisch: Buda und Pestjne) befriedigten unsere Erwartungen nicht in dem Grade, als wir erwartet hatten. Von magyarischem Nationalleben, welches noch vor 1848 die beiden Schwesternstädte sehr ausgezeichnet haben soll, merkt man jetzt nur wenig mehr. Ofen ist fast ganz deutsch, und Pesth welches noch jetzt überwiegend magyarisch und die bedeutendste Handelsstadt Ungarns ist, war in den beiden Pfingstfeiertagen während deren wir dort waren, sehr still und leer. Das Beste ist noch die schöne Lage und Umgebung der beiden Orte, die wir aber wegen des traurigen Regenwetters auch weniger ausbeuten konnten, als wir wünschten. Schon am Morgen des Pfingstsonntages (31/5) wich das am Tag vorher noch so schöne Wetter einem anhaltenden Platzregen, der uns zwang, die kostbare Zeit mit Schachspiel todtzuschlagen, da die einzige Sehenswürdigkeit Pesths, das Nationalmuseum, feiertagshalber geschlossen war. Erst gegen Mittag hellte es sich etwas auf und wurde späterhin noch recht klar. Wir benutzten dies, um auf die andere Seite nach Ofen zu gehen, wo der Zufall uns zuerst in die Kapelle der k. k. Hofburg führte. Hier war in feierlichem Gepränge, umgeben von 6 fackeltragenden Grenadieren der Kaisergarde, die Leiche der tags zuvor verstorbenen 4jährigen Erzherzogin Sophie, der älteren Tochter des Kaisers, öffentlich ausgestellt und wurde von vielen Leuten der verschiedensten Klassen theils laut betrauert, theils still verehrt; ein seltenes und sehr eigentümliches Schauspiel. Durch diesen plötzlichen Todesfall war die unter so günstigen Umstände eingeleitete Reise der k. k. Majestäten plötzlich abgeschnitten worden. Wir fanden noch überall, in den Städten sowohl, als auf der Hin- und Rückreise unterwegs, die Reste der großen Feierlichkeiten, die bei dem Besuch des Kaiserpaars stattgefunden hatten: Längs der Donau zahlreiche Empfangspforten und Triumphbögen, an den Thoren und Brücken Ehrensäulen und Flaggenthürme, dann in der Stadt hohe, in der Eile aus Brettern errichtete, aber sehr geschmackvoll decorirte Monumente und Bildwerke. Auch die Häuser waren noch zum großen Theil mit Flaggen und reich drapirten Guirlanden, Kränzen etc festlich geschmückt. || Nachdem wir uns das schöne gußeiserne Hentzidenkmal (dem 1849 bei der Vertheidigung der Festung gegen die Ungarn gefallenen General Hentzi zu Ehren errichtet) auf dem Schloßplatz angesehen, stiegen wir von der Festung Ofen hinüber auf den Blocksberg, dem höchsten und schönsten Punkt in der Umgebung der beiden Städte (765ꞌ ü. M.) von dem man eine prachtvolle Aussicht über beide genießt, die nebst der sehr interessanten Flora an seinen Abhängen, den belohnendsten Theil unserer Ungarfahrt bildete. [Zeichnung: Lageskizze] Der Blocksberg ist ein vollkommen isolirter, ganz kahler, oben mit Festungswerken gekrönter, runder Kuppelberg, der am Südwestende der Städte sehr steil vom rechten Donauufer aufsteigt. Von der Festung Ofen ist er durch einen tiefen Spalt getrennt, der die sogenannte Raitzenstadt ausfüllt. Dieser ganz eigenthümliche Stadtheil bildet zwischen beiden Bergen ein von der Donau aufsteigendes Dreieck, das aus lauter ganz kleinen einstöckigen Häusern von weißer Farbe mit schwarzen Dächern und 2 kleinen Fenstern, besteht und ausschließlich von dem eigentümlichen Volksstamm der Raitzen bewohnt wird, lauter Weinbauern, die zur nicht unirten griechischen Kirche gehören. Über diesem sonderbaren Dorfe, das sehr von der übrigen Stadt, namentlich von der großen Häuserreihe der Donau-Zeil (am linken Ufer-Quai) absticht, steigt nördlich der schöne länglichrunde grüne Bergrücken auf, dessen Plateau mit den Festungswerken der Citadelle Ofen geziert ist: vornan das schöne stattliche kaiserliche Schloß, das mit seinen gelben Mauern, schwarzen Schieferzinnen und grünen Jalousieen recht nett aus dem niederen Mauerwerk mit vielen kleinen Thürmen hervortritt. Im Westen der Festung ziehen sich fruchtbare, grüne Felder, Gärten und Weinberge zu den waldbekränzten Höhen und Hügelketten hinan, die als || „Ofner Wald“ die Stadt im weiten Halbkreis westlich umgeben. Nach Norden sieht man zur Donau herabziehen die Häuser und Straßen der durch ihre großen Schiffswerften berühmten Vorstadt Altenofen. Sehr eigenthümlich contrastirt mit dieser malerischen, abwechslungsvollen Umgebung, die nördlich und westlich Ofen am linken Ufer umzieht, die weite, höchst einförmige Ebene, welche südlich und östlich hinter Pesth am rechten Ufer unabsehbar sich ausdehnt: eine einzige, große grüne Fläche: Wiesen und Felder, nur hie und da von einzelnen kleinen Häusergruppen unterbrochen, sonst überall eine menschenleere Steppe bis zum gradlinigen Horizont sich ausdehnend. Je einförmiger und öder diese weite, grüne Ebene erscheint, desto sonderbarer contrastirt damit das umfangreiche Häusermeer der sehr weitläufig gebauten Stadt Pesth, die aber auch an sich wenig Abwechslung darbietet. Nur die vorderste Häuserreihe, die „Donauzeil“, die, Ofen gegenüber, sehr lang am linken Ufer-Quai sich hinzieht, bildet eine sehr ausgezeichnete fortlaufende Reihe prächtiger palastähnlicher Häuser, von 5–6 Stockwerken, die in ihrer zusammenhängenden Linie, am Ufer des mächtigen Stroms, einen imposanten Anblick gewähren. Dagegen zeichnen sich die Straßen der übrigen Stadt durch nichts aus. Sie sind sehr breit, leer und langweilig (wenigstens an Festtagen), die Häuser schmucklos, groß und weit, aber ohne Geschmack gebaut. Kirchen oder sonstige öffentliche Gebäude zeichnen sich nirgends aus und namentlich vermißt man die Kirchenthürme sehr, die bei so großen Häusermassen eine wesentliche Zierde abgeben. Dadurch steht Pesth namentlich sehr hinter Prag zurück, mit dem seine ganze Lage sonst auffallend viel Ähnlichkeit hat. Selbst zwischen den einzelnen Theilen lassen sich treffende Parallelen ziehn, in der Art, daß Pesth der Alt- und Neustadt von Prag, Stadt Ofen der Kleinseite, Festung Ofen dem Hradschin, die Raitzenstadt dem hohlen Weg unterhalb Strahow und endlich der Blocksberg dem Laurentiusberg recht passend sich vergleichen läßt. Pesth Ofen ist allerdings viel umfangreicher, || Prag aber viel mannichfaltiger und schöner. Außerdem ist die Moldau gerade hier noch etwas breiter als die sonst viel bedeutendere, aber grade in Ofen Pesth sehr schmale Donau, und endlich wird erstere von 2 Brücken, einem steinernen Bogen und einer eisernen Kettenbrücke überspannt, während die Donau nur die letztere besitzt. Diese ist übrigens eine Zierde der beiden Städte, wie man sie nicht leicht anderswo so großartig wiederfindet. Wie in Prag die Schützen- und Hetz-Insel, so bilden in Buda Pesth die Ofner und Margarethen-Insel kleine Wälder mitten im breiten Strom, die nicht wenig zum Schmuck des Bildes beitragen. Nachdem wir wohl ein paar Stunden lang die herrliche Rundsicht vom Gipfel des Blocksbergs nach allen Seiten genügend genossen, kletterten wir auch noch eine gute Weile an seinen kahlen, felsigen Abhängen umher, die uns ganz unerwartet ein schönes Probestück östlicher ungarischer Flora lieferten, so daß wir auf kleinem Raume eine ganze Menge neuer und sehr characteristischer, zum Theil in Deutschland ganz fehlender Pflanzen fanden: Ranunculus Illyricus, Reseda Phytheuma, fast ein Dutzend neuer Cruciferen, darunter das merkwürdige Lepidium perfoliatum, ferner Herniaria incana, Paronychia capitata, Convolvulus Cantabrica, Alcine Jacquini, Glaucium phoeniceum, Astragalus Onobrychi und viele andere Arten, deren Namen wir jetzt noch nicht wissen. Erst spät Abends kamen wir (nachdem wir uns im Vorbeigehen auch noch das berühmte heiße Bruckbad am Fuß des Blocksbergs angesehen) nach Pesth zurück, wo wir auch den berühmten Ungarwein, und zwar den edelen Tokayer, in seinem Vaterland einmal kosteten. Übrigens war er hier kaum so billig und gut, wie in Wien, wo man den trefflichsten Ungar für ein wahres Spottgeld bekömmt (jedenfalls eine der wenigen Tugenden der östreichischen Kaiserstadt!). Auch spazierten wir bei Mondschein noch etwas am Quai auf und ab, wo viele Sonntagsspaziergänger lustwandelten, und von wo sich die zahlreichen Lichterchen auf dem andern Ufer in Ofen sehr gut ausnahmen. ||

Am zweiten Pfingsttag (1/6) fing leider wieder dasselbe traurige Regenwetter, wie Tags zuvor an, nur mit dem Unterschiede, daß es den ganzen Tag fast ununterbrochen fortdauerte, so daß ein in einer regenfreien Zwischenpause gemachter Versuch, auf den Schwabenberg, den höchsten der westlich hinter Ofen sich erhebenden Hügelkette, zu kommen, völlig mißglückte. Doch konnten wir heut wenigstens das ungarische Nationalmuseum sehen, wo eine Menge interessanter Alterthümer, namentlich aus der Zeit der Römerherrschaft und der Türkenkriege, aufgespeichert sind. Abends waren wir im ungarischen Nationaltheater, wo ein magyarisches Originalstueck gegeben wurde, von dem wir natürlich kein Wort verstanden. Doch wurde es sehr gut gespielt, und war in so fern recht interessant, als wir dabei mehr von dem ungarischen Nationalleben, ihre Tracht, Sprache, Sitten und Gebräuche kennen lernten, als während unsers übrigen Aufenthalts.

– Dienstag (2/6) früh war ich mit Focke schon um 4 Uhr auf den Beinen, um noch einmal die schöne Aussicht vom Ofner Schloßberg und seinen verschiedenen Seitenhängen zu genießen. Doch fing leider wieder der unaufhörliche Regen bald an, so daß wir uns entschlossen, um 9 Uhr mit der Eisenbahn nach Wien zurückzufahren, wo wir Abends 6 Uhr ankamen. Die Bahn bleibt am nördlichen Donauufer, bietet aber noch weniger Mannichfaltigkeit und noch größere Einförmigkeit, als die Schiffahrt auf der Donau herab. Fast ununterbrochen fährt man entweder über die nackte, endlose Grassteppe (Pußta), oder durch flachhügeliges, fruchtbares Ackerland. Nur etwas mehr Häuser und Dörfer sieht man, als am Fluß. Auch nehmen sich einzelne Orte, namentlich Waitzen, Gran, Preßburg, von dieser Seite weit schöner und stattlicher aus, als von der Donau. Das Interessanteste war die sehr eigenthümliche Wiesenflora, die Focke und ich mit großem Vergnügen vom Waggon aus verfolgten und diagnosticirten und die wir gar zu gern uns auch etwas näher angesehen hätten, was aber leider nicht ging. || Außerdem hatte ich im Waggon ein recht interessantes Vis-à-vis, einen schlesischen Gutsbesitzer aus Oderberg, der mehrere Wochen im Innern von Ungarn umhergereist war und mir sehr Viel davon zu erzählen wußte. – Zu guter letzt hatten Focke und ich noch das Vergnügen, uns in Neu-Haeusel (Ersek-Ujvar) wo Mittag gegessen wurde, mit einem echt ungarischen Nationalgericht zu vergiften. Es ist das berühmte Gullasch, eine mit spanischem Pfeffer (Paprika) furchtbar scharf gewürzte Rindfleischspeise, die wir kaum trotz unsers Hungers hinunterbrachten. Nach 2 Stunden bekamen wir heftiges Erbrechen, Schwindel bis fast zur Ohnmacht, leichtes Fieber etc und als wir in Wien ankamen, auch noch heftige Diarrhoe etc. Kurz, eine förmliche Gastro-Enteritis, an deren Nachwehen wir noch mehrere Tage stark laborirten, trotzdem eine sogleich eingeschlagene, kräftige Therapie wenigstens die Hauptsymptome bald stillte. So glorios endete unsere verregnete Pfingsttour.

[Exkursion zum Bisamberg]

Am Sonntag 7/6, einem sehr schönen, aber auch sehr heißen Sommertag, machten wir 5 „Nordländer“ eine Excursion auf einen der berühmtesten botanischen Punkte in der Umgegend von Wien, den oberhalb Enzersdorf (einer Station an der Stockerauer Bahn) am linken Donauufer gelegenen Bisamberg, einem buschigen Kalkhügel, auf dem wir die sonst nirgends in Deutschland wachsende Vinca herbacea fanden, ferner eine Menge Orobanchen, Jurinea mollis, Linum flavum et hirsutum, Prunus Chamaecerasus etc etc. Die Aussicht war sehr hübsch, ganz verschieden von denen der andern Punkte um Wien und reichte namentlich weit die Donau hinauf und in das Innere des Wiener Walds hinein. Besonders schön nahm sich der Leopoldsberg aus, den wir am Nachmittag, indem wir nach Kloster Neuburg übersetzten, erstiegen, und von dessen Plattform wir ebenfalls noch eine prächtige Aussicht genossen. Über Leopoldsberger Doerfel und Nußdorf spät Abends zurück. –

a gestr.: 6; b eingef.: Universitäts; c gestr.: Ufer; d gestr.: Außer diesen; e eingef.: in; f eingef.: nach

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
21.06.1857
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37742
ID
37742