Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Wien, 26. Juni 1857
Mein liebes Mutterchen!
Hoffentlich wirst Du nichts dagegen haben, wenn ich Dir diesmal meine innigen kindlichen Glückwünsche zu Deinem Geburtstage ein paar Tage früher darbringe. Es geschieht dies einfach aus dem Grunde, weil ich die nächsten 3 Tage wahrscheinlich wieder im Lande herumschweifen und dann schwerlich Gelegenheit haben werde, zum ordentlichen Schreiben zu kommen. Auch möchte ich, daß Karl dieser Brief noch in Berlin antrifft. Wir beabsichtigen nämlich morgen früh wieder einmal eine kurze Alpenfahrt zu machen, da Montag wieder ein katholischer Feiertag ist und wir also 3 Ferientage hinter einander haben. Wahrscheinlich werden wir die köstliche Raxalpentour, die uns das erste mal (am Himmelfahrtssonntag) so viel Genuß und Ausbeute gewährte, ganz in derselben Weise wiederholen. Nur wird jetzt, 5 Wochen später, der Character der Landschaft und insbesondere der Alpenflora ein ganz anderer sein, und ich verspreche mir sehr viel davon, namentlich von der prachtvollen Alpenflora, die ich noch nie zu dieser Jahreszeit sah. ||
In diesem Jahre kann ich also wieder bei Deinem Geburtsfeste nicht anwesend sein, meine liebe Herzensmutter, und kann Dir nur schriftlich die herzlichsten und besten Glückwünsche für Dein Wohlergehen senden, von denen Du ja auch ohne viele Worte weißt, wie sie gemeint sind und wie sie aus dem Herzen kommen. Gott gebe vor Allem, daß Deine Gesundheit sich wieder ganz zur alten Frische kräftigt und daß Du Deinen Dich so innig liebenden Jungens noch viele Jahre gesund und kräftig erhalten bleibst. Da Du gar nichts davon schreibst, so hoffe ich, daß die bösen Flechten jetzt ganz geschwunden sind. Sonst würde ich die letzten Reste hoffentlich nach meiner Zurückkunft gänzlich vertreiben, da ich jetzt bei Hebra, dem berühmtesten und eigentlich einzigen Professor für Hautkrankheiten, ein ganz ausgezeichnetes klinisches Colleg darüber höre und, indem ich dabei immer an Deine vorjährigen Leiden denken mußte, ganz speciell in dies Studium, das mich an und für sich sehr wenig interessirt, micha eingelassen habe. Auch inb die übrige Medicin, die mir, wie am Anfang jedes Semesters jedesmal, so auch in diesem Sommer, sehr widrig und schwer wurde, bin ich jetzt wieder durch Gewohnheit ganz hineingekommen und habe bei dem enormen Material des großen Krankenhauses und der durchaus practischen Behandlungsweise Vieles gelernt, wovon ich aber hoffentlich nie Gelegenheit haben werde, Gebrauch zu machen. Mein Hauptstudium ist jetzt die Physiologie, in deren tiefste Tiefen einzudringen ich jetzt wenigstens allmählich die Methode gelernt habe. Das eigentliche tiefere Studium verspare ich mir auf den Sommer, für den ich mir jetzt schon einen ganz herrlichen Studienplan gemacht habe, der mich alle Leiden des || bösen Staatsexamens vergessen machen soll. Physiologie, Vergleichende Histologie, Geologie, Pflanzenanatomie spielen darin eine Hauptrolle und außerdem möchte ich namentlich noch sehr gern die köstlichen philosophischen Vorlesungen von Trendelenburg hören. Das soll einmal eine Freude werden, wenn die ganze Medicin über den Haufen und in den Winkel geworfen wird, und ich nur der reinen Wissenschaft und der Natur leben werde; und das noch dazu in der schönen Wohnung mit dem Reimerschen Garten, und mit euch, liebste Eltern, ganz zusammen. Ich freue mich schon jetzt ganz ungeheuer darauf.
Dann werde ich auch einmal ordentlich anfangen, Mensch zu werden, nachdem ich den Winter ganz verthiert bin. Denn das Examen wird mir noch unmenschliche Arbeit machen. Immerhin habe ich hier jetzt ganz gute Vorbereitung dazu, und so extensiv wir auch alle Sams- und Sonntage verbummeln und botanisiren, so intensiv wird an den übrigen 5 Wochentagen gearbeitet, von früh 5 bis Abends 10. Diese Zeiteintheilung hat sehr viel für sich, da man auf den 2 Excursionstagen immer wieder Kraft genug sammelt, um dann angestrengt und continuirlich unter dem lästigen Wiener Atmosphärendruck arbeiten zu können. Vor 14 Tagen machte ich mit Focke 2 Touren, die wir schon kannten, c Sonnabend (13/6) nach Hütteldorf, von da über die Hohenwand, Sophienalp, Hameaux, Dornbach, Hermannskogel nach Grinzig zurück. Sonntag (14/6) nach Kalksburg, dann über Lichtenstein nach Mödling und die botanische Ausbeute war beidemal reichlich, um vieles reicher aber bei der landschaftlich nicht so lohnenden Tour, welche wir vor 8 Tagen nach Ungarn hinein machten. ||
Wir fuhren mit der Südostbahn (Raab-Szoeniner Bahn) am Samstag (20/6) nach Bruck an der Leitha und Parndorf, von wo wir an den Nordrand des großen Neusiedlersees, nach Neusiedel, Goiss und Winden, herabgingen, wo wir nicht nur auf den ausgedehnten Salzwiesen am flachen Ufer des Salzsees, sondern auch auf dem Haglersberg, dem nördlichsten Ausläufer des Leithagebirgs, eine sehr ausgezeichnete östliche Flora fanden. Auch die aus dem berühmten Leithakalk bestehenden Berge zwischen Winden, Breitenbrunn und Bruck waren sehr merkwürdig, zum Theil schön bewaldet. Von Bruck gingen wir am Sonntag 21/6 über Grammat, Neusiedel, Moosbrunn, Velm, Münchendorf nach Laxenburg, eine traurige flache Ebene, aber zum Theil mit sehr interessanter Flora, namentlich in den Sümpfen bei Moosbrunn und auf den Wiesen bei Laxenburg. Auch den berühmten Park des letztern sahen wir bei dieser Gelegenheit an, ein elend langweiliges und todtes, kaum nennenswerthes Werk.
Von Wiens Sammlungen und andern Merkwürdigkeiten habe ich, die sehr schönen naturhistorischen Sammlungen ausgenommen, noch Nichts gesehen und verspare mir lieber Alles auf die Anwesenheit des Holländer Ehepaars und Karls. –
Gar zu gern hätte ich Dir, liebste Mutter, mit irgend etwas eine Freude zu Deinem Geburtstag gemacht: aber zum Zeichnen konnte ich durchaus nicht kommen; die Pflänzchen habe ich noch nicht ordnen können und das Verschicken macht auch hier auf der Post wegen der Zollgränze immer Schwierigkeiten. Später erhältst Du von mir eine Ansicht von Wien, die aber zum Verschicken zu groß ist. Also mußt Du Dich schon diesmal allein mit meiner herzlichsten Liebe begnügen, vor der Du aber auch sicher sein kannst, daß sie aus treuestem und dankbarstem kindlichen Herzen Dir immer und ewig bleibt.
Nimm zum 1/7 nochmals den herzlichsten Gruß und Kuß von Deinem treuen alten Jungen
Ernst.d
a eingef.: mich; b eingef.: in; c gestr.: Vormitt; d Text weiter auf dem linken Rand: Nimm zum … Jungen Ernst.