Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Gottlob und Charlotte Haeckel, Wien, 12.5.1857.

Wien 12 / 5 1857.

Liebe Eltern!

Heute sind es nun schon 14 Tage, daß ich hier in Wien ankam, und ich habe mich in der Zeit schon ziemlich in die ganz fremden, neuen Verhältnisse eingelebt, was mir diesmal durch die Menge alter Bekannten, die mich hier empfingen, sehr leicht geworden ist. Nicht nur bilden den grösseren Theil der ausländischen Mediciner solche, die ich in Würzburg, Berlin und auf meinen Reisen kennen gelernt, sondern es finden sich unter denselben auch einige meiner besten Freunde. Dahin gehören namentlich Richthofen und Call, und diese haben mich mit zwei von ihren Freunden bekannt gemacht, mit denen ich schon in der kurzen Zeit unseres Umgangs so vertraut geworden bin, als wären wir jahrelang beisammen gewesen. Diese beiden vortrefflichen Leute sind Tyroler aus Hohenems in Vorarlberg und heißen Brettauer und Steinach. Beide sind persönlich sehr liebenswürdig und nett, dabei wissenschaftlich hoch gebildet und schließen sich dadurch, sowie durch ihr reges ideales Interesse viel mehr an uns Norddeutsche, als an ihre Landsleute an, die alle weit hinter ihnen zurückstehen. Da wir in allen wesentlichen Ansichten übereinstimmen und fast den ganzen Tag, sowohl in den Collegien, als am Mittag und Abend zusammen sind, so sind wir schon sehr aneinander gewöhnt und gewinnen uns immer lieber. Namentlich ist Brettauer ein ganz herrlicher Mensch, den ich mit Beckmann, Richthofen etc. in eine Linie stellen möchte. Auch wissenschaftlich harmoniren wir sehr gut, obwohl wir ganz verschiedene Schulen durchgemacht haben. Sie sind beide tüchtige Schüler Bruecke‘s und überflügeln mich daher weit an physiologischen Kenntnissen, während ich ihnen an morphologischen überlegen bin und wir uns so gewissermaßen ergänzen. Ein dritter Freund dieses trefflichen Kreises ist ein Mecklenburger, Becker aus Ratzeburg, ebenfalls ein netter, tüchtiger Mensch, mit dem ich durch botanische Neigungen verbunden bin, den wir aber seltener sehen, da er zugleich Hauslehrer in einer Familie ist. Außer Chamisso gehört dann noch zu unserem täglichen Umgang ein Dr. Krabbe aus Koppenhagen, auch ein recht lieber, nur etwas stiller Mann, den ich bei Müller in Berlin kennen gelernt. Jüngst hat sich endlich noch Theodors Freund, Mr. Cowen aus Edinburgh, angeschlossen, den wir aber fast nur bei Tisch sehen. In den Kliniken treffe ich außerdem ganze Kreise von frühern Bekannten, so von Baiern: Port, Fuchs, Seiser, etc, von Schweizern: D'Apples, D'Or, Ruedi etc, von Frankfurtern: Wecker, Spiess etc, von Badensern: Bertheau, Dyckerhoff etc., kurz ich habe eine überreiche Auswahl von Leuten des verschiedensten Genres, die mir z.[um] Th[ei]l noch von der Virchow‘schen Assistenz her sehr wohl gewogen sind. Um so weniger habe ich nöthig, nach Oesterreichischen und speciell Wiener Bekanntschaften zu suchen und habe daher bis jetzt nur den einen Empfehlungsbrief abgegeben, nämlich den von Tante Sacks[?] Freundin, Frau Milawski, an ihren Vater, den Commercienrath Tichy. Ein sonderbarer Zufall fügte es, daß auch Richthofen an denselben ganz speciell empfohlen war und ihn schon länger kennt. Er lud uns beide zusammen ein, eines Mittags mit ihm zu speisen. D. h. da er allein wohnt, ging er mit uns in ein großes Hotel (z. Kaiserin Elisabeth), wo wir nach Wiener Art bei gutem Essen und Trinken etwa 4 Stunden sehr gemüthlich verplauderten. Hr. T. ist ein sehr liebenswürdiger alter Mann, dabei sehr gebildet, und viel herumgereist, in der Türkei, Griechenland, Kleinasien etc[.] Eine Zeit lang war er preußischer Consul in Triest, wohin er jetzt auch bald zum Besuch seiner dort verheiratheten Tochter reisen wird. Von dort geht er zu einer dritten, bei Stockholm verheiratheten Tochter, wo er auf der Durchreise auch Fr. Milawski in Berlin besucht, und ihr ihn vielleicht zufällig seht. │

Noch weniger als die Wiener, habe ich das Innere von Wien bisher kennen gelernt, woran theils die alle Zeit absorbirende Beschäftigung im Krankenhaus und im physiologischen Institut, theils das jämmerliche Wetter Schuld ist, welches bis vor wenig Tagen noch eben>so< kalt, regnerisch und trüb war, als wir es in Prag leider fast immer hatten. Erst vor 3 Tagen habe ich die ersten Excurse in die Umgegend gemacht; bevor ich euch davon erzähle, will ich kurz den Verlauf der ersten 14 Tage recapituliren. Wie ich euch auch schon im letzten Briefe schrieb, langten wir Dienstag 28/4 früh 7 Uhr nach 12stündiger nächtlicher Fahrt von Prag glücklich hier an und wurden von unserm treuen Richthofen am Bahnhof empfangen. Dieser wollte uns gleich mit zu sich nehmen; da er aber an dem der Alser entgegengesetzten Stadtende wohnt, zogen wir es vor, sogleich in die erstern (die Alservorstadt am Westende, das Medicinerviertel) zu gehen, und uns in der Nähe des Spitals einzumiethen. So wanderten wir denn alle 3 zunächst zu Call, den wir indeß nicht zu Haus trafen. Dann begaben wir uns auf Wohnungen suchen und setzten dieses schöne Geschäft, nachdem Call endlich um 11 U. erschien, in Begleitung dieses kundigen Führers bis 2 U. Mittags fort. Indeß war es trotz unserer vereinten Bemühungen rein unmöglich, in der ganzen Alserstadt eine Wohnung sogleich zu finden, da gerade jetzt alles überfüllt war und wir mußten endlich froh sein, eine Stube für uns beide zusammen nur provisorisch zu finden, in welche wir aber auch erst am 6/5 einziehen konnten. Bis dahin waren wir also gezwungen, woanders zu campiren, und da auch alle Hotels in den Alpen überfüllt waren, nahmen wir das freundliche Anerbieten unserer beiden Reichsgeologen an, vorläufig bei ihnen Schlafstelle zu nehmen, und zwar Chamisso bei Stache, ich bei Richthofen. Freilich hatten wir von da zum Spital eine gute halbe Stunde zu laufen, was mir indeß nach meiner traurigen Alltagsstrecke vom Hafenplatz zur Ziegelstraße nicht sehr neu und ungewohnt vorkam. Wir zogen dann auch sogleich hinaus in die Vorstadt Landstraße, am Ostende der Stadt, wo unsere Freunde in der Nähe der geologischen Reichsanstalt wohnen. Die reichen geologischen Sammlungen der letztern nahmen wir zunächst in Augenschein. Sie sind sehr reich und geschmackvoll aufgestellt in den prächtigen Palais des Fürsten Lichtenstein, dessen weite Räume und herrlichen Park >von< den Reichsgeologen gemiethet sind. Richthofen sowohl als Stache haben dort ein beneidenswerthes Arbeitszimmer, wie denn überhaupt ihre ganze Stellung höchst beneidenswerth ist: im Sommer mehrere Monate in den Alpen bummeln[?] und geologisch reisen, im Winter die gewonnenen Resultate in Wien verarbeiten, veröffentlichen und dadurch berühmt werden; und dafür jährlich ein ansehnliches Gehalt beziehen!! –

Denselben Abend wurde zufällig auch noch eine Sitzung der geol.[ogischen] Gesellschaft gehalten, die letzte, bevor ihre Mitglieder nach allen Seiten auseinanderstäuben, um im Winter sich wieder zu vereinigen. Wir hörten mehrere Vorträge, sahen aber nicht den Präsidenten und Stifter der höchst verdienstlichen Anstalt den alten Haidinger, der uns jedoch einige Tage später im Prater begegnete. Die Anstalt hat zunächst den Zweck eine möglichst vollständige geologische Erforschung der Österreichischen Staaten, sie bisher noch nirgends in solchem Umfang ausgeführt wurde; daneben aber auch mancherlei andere wissenschaftliche Zwecke, für die jüngst sehr tüchtige junge Kräfte gewonnen sind, vor allem unser lieber Richthofen, der sich neulich auch als Privatdocent hier habilitirt hat. – │

Die 8 Tage, in denen ich auf Richthofens Sopha übernachtete, (bei Dr. jur. Schmidt in der Sterngasse) waren durch das Zusammensein mit ihm sehr gemüthlich, welches freilich auf die Zeit vor 7 Uhr früh und nach 7 Uhr Abends beschränkt war. Doch haben wir uns einmal recht ausgeplaudert. Abends waren wir meist mit Stache und Chamisso zusammen. An einem der folgenden Abende waren wir in einer Sitzung der Akademie der Wissenschaften, wo ein Dr. Jaeger aus Württemberg, ein junger Privatdocent der Zoologie, mit großer Dreistigkeit in einem höchst unsinnigen Vortrag <über> ein neues, auf Axensymetrie gegründetes System der Zoologie explicirte, welches trotz seines crassen Unsinns, ganz nach Art der alten Okenschen oder Hegelschen Naturphilosophie aufgeputzt, bei den gelehrten Herren der Akademie (mit Ausnahme weniger Vernünftiger, wie Bruecke) großen Beifall fand, weil keiner etwas davon verstand. Das Beste dabei war, daß ein Vortrag über einige Mineralien Südtyrols, den Richthofen unmittelbar vorher gehalten hatte, dadurch nur in ein um so glänzenderes Licht gesetzt wurde. Interessanter war eine Sitzung der hiesigen geographischen Gesellschaft, der wir vorige Woche beiwohnten. Dieselbe ist lange nicht so bedeutend, wie die Berliner, sondern erst im Entstehen begriffen, wie alle Wissenschaft in Östreich. Doch hörten wir einen sehr hübschen Vortrag des Botanikers Kotschy, der lange Zeit im Orient gereist war, über die Pflanzenformationen und den Landschaftscharakter Aegyptens. Da ich ihn in Berlin bei Braun kennen gelernt, erneuerten wir nachher unsere alte Bekanntschaft die mir hier von großem Werthe sein kann. Wir verkneipten mit ihm einen sehr gemüthlichen Abend. Einen andern Abend waren wir im K.K. Burgtheater, wo wir ein Lustspiel-Erziehungsresultat sahen, das sowohl im Ganzen recht gut gegeben wurde, als auch durch das ganz vorzügliche Spiel einer früheren Würzburgerin, Frl. Goßmann, eines recht naturmässigen, wilden Dinges, sehr gehoben wurde. Samstag Abends waren wir zweimal im "Schwabenkränzchen", einem kleinen Kreise von circa 15–20 Ausländern (meist Westdeutschen), dem auch Richthofen und die andern Bekannten unseres Mittagstisches (am Schottenthor) angehören. Dergleichen Verbindungen von Leuten "aus dem Reich", wie sie die Deutschen hier heißen, existiren viele, da fast überall die Deutschen von den Oestreichern sich absondern und auch von diesen gemieden werden. Zum Theil ist dies schon durch den viel niedereren Bildungsgrad der letztern, zum Theil aber auch durch das ganz verschiedene Nationalgefühl und den Volkscharacter bestimmt, der in beiden so verschieden sich ausspricht. Im allgemeinen gefällt es den meisten Nichtöstreichern, die ich bisher gesprochen, nicht besonders. Das ganze Leben hat zu viel Fremdartiges, unsern Ansprüchen, namentlich denen der Norddeutschen, wenig Entsprechendes; von der berühmten "Wiener Gemüthlichkeit", von der man bei uns so viel redet, sieht man hier wenig. Die Masse des Volks, sowohl in den höhern, als niedern Ständen, ist genuss- und prunksüchtig und kann bei dem jetzt sehr gestiegenen Wohlstande dieser Neigung in vollem Maaße fröhnen. Einen guten Begriff von dem Glanz und der Pracht, aber auch von der dahinter versteckten Hohlheit und Leerheit bekam ich am ersten Mai und dem darauffolgenden Sonntag Nachmittag, wo ich 2 Mal die so berühmten Corso-Fahrten im Prater ansah. Auf einer einzigen langen, beiderseits von Parkanlagen eingeschlossenen Allée fährt da die gesammte vornehme Welt den ganzen Nachmittag im Gänsemarsch spazieren, Wagen hinter Wagen, auf der linken Seite hinauf, auf der rechten herab. │ Der alleinige Zweck ist gegenseitige Bewunderung der Gesichter und Toiletten und edler Wettstreit um den Sieg in Prunk und Glanz. Nebenher läuft dann das gemeine Volk (zu dem auch wir, Gott sei Dank, gehören!) zu Fuß und bewundert die glänzende Flitterwirthschaft, oder macht sich auch darüber lustig, je nachdem! Nebenan auf dem zerstreuten, mit einzelnen Bäumen besetzten und durch Gebüsch getrennten Wieseninseln des Prater macht sich das Volk bei Musik, Spiel, Tanz und Gelagen auf seine Art lustig, und man hat da rechte Gelegenheit, das nur auf Vergnügen berechnete „In den Tag Hineinleben“ der Wiener kennen zu lernen. Auch auf den Parthien am Sonntag und Samstag, die wir nach Schoenbrunn, auf dem Kahlenberg und in die Bruehl machten, sahen wir drastische Proben davon. –

In unserer provisorischen Wohnung (Spitalgasse 345 bei Herrn Prof. Dlauhy in der Alserstadt) zogen wir am 6ten Mai ein. Indessen mietete ich mir schon am folgenden Tage eine andere, da es mir äußerst genant ist, mit einem anderen zusammen zu wohnen, und da unsere jetzige, ein großes schönes Zimmer mit 2 Fenstern nach dem Spital zu, auch theuer ist. Chamisso ist zwar sehr verträglich und gutmüthig aber auch langweilig und nicht ohne Berliner Blasirtheit, welche mir schrecklich ist. Ich bin ihm dagegen zu roh und formlos, unruhig und rastlos, so daß wir also Beide nicht verlieren, wenn wir von einander wegziehen. Lieber Inhalt ohne Form als Form ohne Inhalt! –

Für unsere jetzige Wohnung zahlen wir 22 fl monatlich, hier der gewöhnliche Durchschnittspreis für ein Zimmer mit Kammer. Unter 12–15 fl ist überhaupt kaum eine Wohnung zu haben, also das drei bis vierfache von den Würzburger Preisen. Viele Studenten geben für 2 kleine meublirte Zimmer bis 25–30 fl. Überhaupt ist hier die Theuerung sehr groß; im Durchschnitt sind alle Preise für Lebensmittel etc doppelt so hoch, vieles dreifach, als in Würzburg. Das einfachste, frugalste Mittagessen kostet wenigstens ½ fl und man hat dafür nicht so viel, als in Würzburg für 15 xr (¼ fl). Ein kleines (Wein-)Glas K…. 9 xr. Dazu noch die leidige Sitte, überall 1 xr Trinkgeld für den Kellner zu geben. Wie ich da mit meinem Wechsel auskommen und noch dazu Ausflüge in die Umgegend machen werde, ist mir vollkommen schleierhaft! –

Über die Hauptsache, nämlich über den wissenschaftlichen Theil meines Wiener Aufenthalts , sowie über die beiden Ausflüge an den ersten schönen Tagen werde ich mich das nächste Mal ausführlich schreiben da ich heute noch einen Brief an Claparède einlegen will, hinsichtlich des erstern heute nur ganz kurz, daß ich vieles ganz anders hier gefunden, als ich erwartet. Die Medicin hat mir >jetzt< fast eben so viel Widerwillen und Überwindung gekostet, ehe ich mich daran wieder gewöhnt, wie in früheren Semestern. Es ist eben hier noch dieselbe jämmerliche, unwissenschaftliche Quacksalberei, wie an >allen< andern Orten, rohe Empirie, falsch aufgefaßt, unsicher, haltlos, ein trostloses Hin und Her tappen im Finstern ohne allen reellen Halt. Dagegen ist mir zum Ersatz ein glänzender Stern der Freude und Hoffnung hier aufgegangen in der herrlichsten der Wissenschaften, der Physiologie, die ich bei dem vortrefflichen Prof. Bruecke, einer der Bedeutendsten von Muellers Schülern hier so ausgezeichnet vortragen höre und sehe, wie ich es mir nur[?] immer wünschte, aber bisher noch nie genoß. Doch darüber näher das nächste Mal. │

[Ohne Unterschrift, Rest fehlt?]

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
12.05.1857
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37736
ID
37736