Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 22. August 1856

Würzburg 22/8 56

Abends 8 Uhr

Liebe Eltern!

So eben langen gleichzeitig die beiden äußerst wichtigen Briefe an, die ich seit 8 Tagen mit sehnlichster Ungeduld erwartet habe und deren frohen Inhalt ich mich euch mitzutheilen beeile.

Der eine, von Tante Bertha, bringt mir den Paß, den zu erlangen es die äußerste Mühe gekostet hat und der schließlich nur durch die Güte des Geheimen Rath Ernst vermittelt worden ist.

Der andere Brief, von Koelliker, theilt mir mit, daß ich erst am 11ten September in Vevay einzutreffen habe, da wir erst am 12ten von dort abgehen. Ich werde also frühstens am Montag den 8ten September von hier abgehen und ihr könnt mich mithin doch vielleicht noch besuchen. Daß ihr mir und euch dadurch eine große Freude machen würdet, wißt ihr; namentlich möchte ich doch sehr gern Mutterchen mein altes liebes Würzburg zeigen, dem ich für meine ganze wissenschaftliche und menschliche Ausbildung so außerordentlich viel Dank schuldig bin, und welches jetzt definitiv zu verlassen in mancher Beziehung mir ordentlich schwer, in anderer freilich auch sehr leicht fällt. ||

Andererseits wünsche ich aber nicht, daß die Bonner dadurch zu kurz kommen und einen Theil eurer zugedachten Besuchszeit einbüßen. Auch möchte ich nicht, daß ihr bloß meinetwegen herkömmt, da ich natürlicherweise meinen ganzen Kopf jetzt so voll Reiseideen, Thieren, Pflanzen, Microscopiren, Seeabentheuer etc etc habe, daß ich als Mensch nicht übermäßig brauchbar sein werde. Wünscht aber Mutterchen doch nach Würzburg zu kommen, so würdet ihr mir allerdings durch euren Besuch noch eine außerordentliche Vorfreude vor der schönen Reise machen. Dann würde ich euch aber bitten, am 4ten oder 5ten September zu kommen, damit ich euch doch noch ordentlich hier herum führen und Alles recht zeigen kann. Mit eurer Meinung wegen des Geldes, daß ihr vorläufig nur 50 rℓ mitgebt und das Andere mir durch Creditbrief zukommen laßt, bin ich ganz einverstanden. Sollte es aber nicht das Beste sein, daß ich den Creditbrief von hier mitnehme? Doch ich verstehe diesen Geldkram nicht; das müßt ihr besser wissen. Jetzt hat es ja auch noch Zeit genug, es ordentlich zu überlegen. ||

Habt ihr denn meinen letzten Brief nach Aurich noch bekommen, worin ich euch wegen des Mitnehmens von Beckmann schrieb? Die Geschichte ist mir noch sehr viel im Kopf herumgegangen, doch bin ich schließlich immer bei derselben Meinung geblieben, daß es gewiß ein außerordentlich gutes Werk von Menschenliebe sein würde, wenn man auf irgend eine Weise, vielleicht durch Familien-Collecte, das nöthige Geld, von 120–140 Gulden zusammenbringen könnte, um dem prächtigen Menschen, dem lieben Kleinen, die Möglichkeit eines vierwöchentlichen Aufenthalts in Nizza, den wir ihm alle von Herzen wünschen, möglich zu machen. Wie ich euch damals schon schrieb, kann und will ich euch nicht direct darum bitten, da ich unnütze Range euch ohnehin schon mehr als zuviel Geld koste. Papa wird gewiß bei meinem Vorschlag kopfschüttelnd gesagt haben: „Der Junge muß denken, wir haben Geld, wie Heu!“ Dem ist indeß nicht so; ich meine nur, daß es eine ganz vortreffliche Applicationsweise einiger 50 rℓ wäre, wenn man dadurch den herrlichen Beckmann, gewiß den edelsten, besten Menschen, || (Richthofen vielleicht ausgenommen!) den ich noch habe kennen lernen, einige Wochen in Nizza unterhielte. Wie gesagt, kömmt es bloß auf den dortigen Unterhalt an, da Kölliker die Hin- und Rück-Reise zahlt. Ich werde mich jedenfalls dann aufs Äußerste (die Bestien natürlich abgerechnet!) einschränken, und von den mir zur Reise zugedachten 200 rℓ hoffentlich 50 abzwacken und sparen, so daß damit schon etwas geholfen wäre. Könnte nicht am Ende Adolph Schubert dazu etwas thun!? –

Unsere Expedition ist jetzt schon zu 4 Mann gestiegen, da zu uns dreien, Kölliker, Müller und mir sich noch ein Dr. med. Kunde aus Berlin, ein recht netter Mann, den Karl 1848 öfters bei Eichmanns oder Jacobis gesehen hat, gesellt hat. Wo nun erst 4 beisammen sind, da kann gewiß auch der fünfte (nämlich der kleine Beckmann!) noch mitexistiren, ohne daß es eben viel mehr Geld kostet, namentlich wenn wir zusammen wohnen. Doch ich will euch davon weiter Nichts vorreden, da ihr am Ende denken könntet, daß ich euch wider euren Willen und eure bessere Überzeugung dazu überreden will, was keineswegs der Fall ist. ||

Mein hiesiges Leben ist natürlich jetzt schon halb todt, da ich mindestens mit der Hälfte meiner Gedanken nur in Nizza bin und im Mittelmeere Salpen, Pteropoden, Cephalopoden, Pyrosomen, Holothurien, Siphonophoren etc und vieles andre herrliche Viehzeug, was ich in Helgoland nie zu Gesicht bekam, fische, angle, bewundre, zerlege, microscopire etc. Kaum kann ich die Zeit erwarten, wo ich dies zoologische Paradies betreten soll. Oft will mir Alles nur noch wie ein Traum vorkommen und um so größer ist dann die Freude, wenn ich mir versichere, daß er sich wirklich realisiren soll.

Morgen reist auch Mueller ab, sodaß ich jetzt vollständiger Alleinherrscher der Anatomie werde. Virchow, der am Dienstag äußerst befriedigt und sehr liebenswürdig (d. h. so weit das bei ihm möglich ist!!) von Berlin wieder kam, geht nächsten Dienstag mit Familie in das Bad Brückenau in der Rhön. Ich kann also die Anatomie in diesen letzten 14 Tagen in Würzburg noch in vollen Zügen genießen! Das thue ich denn jetzt auch, soweit mir meine Reisepräparation Zeit dazu übrig läßt. Gestern habe ich auch eine außerordentliche Ehre gehabt, die mir freilich im Grund sehr gleichgültig ist. || Prof. Hofrath v. Textor machte nämlich an einem 4 jährigen Knaben den Blasensteinschnitt (Sectio lateral) und ersah mich Unglücklichen aus dem großen Kreise von Doctoren, Ärzten und Studenten, die er dazu gebeten hatte, aus, ihm zu assistiren, d. h. die Leitungssonde zu halten und zu führen, was eine sehr wichtige Sache ist, und was ich unter vielem Angstschweiß auch glücklich vollbrachte. Übrigens war die Operation äußerst schwierig und dauerte sehr lange, da der Stein, der sehr klein war und in einem Divertikel abgeschnürt lag, lange Zeit gar nicht gefunden werden konnte. Vor so einer Operation habe ich doch noch allen Respect! –

Gestern erhielt ich einen sehr lieben Brief von Lachmann, der sich euch bestens empfehlen läßt. Johannes Mueller geht ebenfalls an das Mittelmeer, wahrscheinlich nach Marseille, vielleicht doch auch nach Nizza. Das wäre doch ganz herrlich, wenn wir diesen göttlichsten aller Naturforscher dort träfen! –

Die lieben Bonner grüßt mir alle aufs herzlichste! Wenn ihr es mit eurem Reiseplan irgend vereinigen könnt, kommt doch ja noch her; es wäre doch sehr allerliebst, schon die herrliche Fahrt, den Rhein herauf und dann durch den Spessart! Und daß Dir Würzburg schon recht sehr gefallen soll, dafür will ich schon sorgen, liebes Mutterchen! Schreibt mir nur recht bald!

Euer alter Ernst.

Brief Metadaten

ID
37735
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Bayern
Datierung
22.08.1856
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Format
21,2 x 13,3 cm; 21,4 x 13,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37735
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Würzburg; 22.08.1856; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_37735