Haeckel, Ernst

Potsdam 23/ April 72

Mein allerliebstes Röschen!

Gestern und heute habe ich schon sehnsüchtiglichst auf Deinen lieben Brief gewartet. Endlich ist er heute Mittag so eben angekommen und ich antworte Dir sogleich. Ich bin sehr froh, zu hören, daß meine kleine Liebe Familie wohl ist, und daß auch der kleine dicke Pimpel- Balg sich wieder erholt hat. Du armes Thierchen hast gewiß gleich rechten Schrecken über das Unwohlsein gehabt. Nur gut, daß es so vorüberging! Was Du mir über den großen goldenen Polter- Abend von Schultzes und über sonstige Jenenser Krähwinklei schreibst, hat mich sehr amüsirt.

Gut, daß ich nicht dort war. ||

Ich war 4 Tage in Berlin (von Mittwoch früh bis Sonnabend Abend). Noch nie ist mir Berlin so grauenhaft vorgekommen; ich danke dafür, in diesem Loch zu stecken. Und diese lieben Verwandten!! Es sind jetzt noch sechs Gruppen da, nämlich:

1. Tante Bertha (bei der ich wohne)

2. Jakobis 3. Stadtrichters

4. Adelheid und Bertha Pien

5. die jungen Reimers

6. die alten Reimers.

Gegen mich waren sie alle sehr liebenswürdig; aber untereinander leben sie wie Katze und Hund! ||

Da nun Jede Partei auf die 5 anderen schimpft und sich über schlechte Behandlung beklagt, so habe ich 6 × 6 = 36 Jammerlieder anhören müssen!!

Das Haupt- Jammerlied ist aber die Wohnungsnoth, die wirklich alle Begriffe übersteigt. Ein Quartier wie unser Jenenser kostet 1000 rl Miethe! Tante Berthas Loch, wo ich wohnte – ein jämmerlicher Kellerkasten, feucht, dumpf, dunkel, modrig – ist von 500 auf 750 erhöht!

Die beiden Sethe’schen Mädchen finden keine Wohnung unter 600-800 rl. Unsere frühere Wohnung in der Schifferstr., die damals (vor 15 Jahren) 300 rl kostete, kostet jetzt 1500 rl etc! ||

Das Wetter ist seit gestern hier herrlich und wir haben gestern eine sehr hübsche Excursion nach dem Pfingstberg gemacht: Prächtiger Sonnenuntergang, Obstblüthen Pracht, etc. Die Wohnung meiner guten Mutter ist sehr gemüthlich. Auch das Haus meines Bruders (das sie in 14 Tagen beziehen) liegt sehr schön, mit Garten am Wasser und ist hübsch eingerichtet.

Die Umgebungen von Potsdam, die ich jetzt zum ersten Male näher kennen lerne, sind doch sehr schön und ich habe ordentlichen Respect vor meiner Vaterstadt bekommen. ||

II

Reimers sind wohl. Ich war einen Abend dort mit Toblers und Stadtrichters zusammen. Einen Mittag war ich bei Helene, sonst immer bei Tante Bertha. Die Ärmste befindet sich in einer recht unglücklichen Lage. Ihr Hauptunglück ist, daß sie nicht das Hauptglück aller Frauen, nämlich einen Mann bekommen hat. Die verheiratheten Frauen wissen das Glück, dass ihnen zu Theil geworden, freilich selten zu schätzen!! – Die alte Weiß ist sehr elend und wird wohl in einigen Wochen sterben. Sie nahm ordentlich Abschied von mir, was sehr rührend war. ||

Einen sehr schönen Nachmittag verbrachte ich im Zoolog. Garten, wo ich mein Röschen und Walter- Puttichen gar zu gerne bei mir gehabt hätte. Ihr wißt überhaupt gar nicht, wie ihr mir fehlt und wie ich immer an Euch denke! Sei nur recht süß, warm, hingebend und weiblich demüthig, wenn ich wieder bei Dir bin, Du kleine stolze Tyrannin!

Freitag Abend (6 Uhr) hoffe ich Dich recht munter in meine Arme zu schließen, Du liebes Weibchen! An Mamma, Clärchen und Iduna schönste Grüße, an Dich und unsere Knöspchen die herzlichsten Küsse.

Einliegende Zettel schicke beide sogleich an Pohle. Den einen soll er gleich am schwarzen Brett angeschlagen. Dein Ernst.

a Morgen ist hier Bußtag, wo ich für Dich mit büßen werde.

a weiter am Rand;

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
23.04.1872
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37586
ID
37586