Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 10. Juli 1856

Würzburg 10/7 56.

Liebe Eltern!

Vorgestern erhielt ich euren lieben letzten Brief, welcher mich durch die Nachricht, daß Du, liebes Mutterchen, in eurem neuen Aufenthaltsort das Wechselfieber bekommen hast, sehr betrübt hat. Fast noch größer, als das Mitleid war aber der Ärger über eure beiden Doctoren, Quinke, daß er euch in [ein] Fiebernest geschickt hat und Moeller, daß er euch auf diese Weise behandelt. Wenn es wirklich wahr ist, was Du von letzterm schreibst, daß er damit nicht unzufrieden sei, und meine – „es könne noch ein Rückstand in Mutters Körper zurückgeblieben sein, dessen letzterer sich auf diese Weise entledigen wolle“ – wenn er dies wirklich so gemeint hat, so ist Herr v. Moeller, wie sehr er auch sonst in politischen Ansichten mit Dir zu harmoniren vorgeben mag, gelinde gesagt, ein solcher Erzkaffer, oder besser (mit Respekt gesagt:) E–l, wie ein verdrehter Badearzt nur immer sein kann. Ich kann euch gar nicht sagen, wie ich mich über diesen einzigen Satz, der jedem rationellen Mediciner in der Seele weh thun muß, geärgert habe, ich hätte dem Mann am liebsten gleich das erste beste Buch über Febris intermittens an den Kopf werfen mögen! So was ist doch zu toll! ||

Man braucht in der Tat eben kein erfahrner practischer Arzt zu sein, um zu wissen, daß das Wechselfieber nichts mit Mutters „Krankheitsrückständen“, welche überhaupt nicht vorhanden sind, sondern nur im Kopf practischer Ärzte existiren, zu thun hat, sondern lediglich und allen durch eigenthümliche ungünstige Combinationen von klimatischen und Boden-Verhältnissen der Orte, wo sie vorkommen erzeugt werden; namentlich ist da die Sumpfluft eine Hauptursache. Bitte schreibt mir nur recht bald, wie es Mama geht und beantwortet mir dabei folgende Fragen: 1) liegt eure Wohnung etwa in einer feuchten Niederung (in welchem Fall ihr schleunigst in eine trockne, luftige überziehen müßtet) oder ist etwa Mama Abends öfter in solcher spazieren gegangen? 2) Wo bekommt ihr euer Trinkwasser her? 3) Herrscht überhaupt in Eilsen viel Wechselfieber? 4) Wie ist überhaupt Eilsens Lage, an einem Fluß oder in einer sumpfigen Gegend? 5) Wie oft kommen die Fieberanfälle, jeden Tag einmal? und wann? 6) Haben sie bis jetzt nach gelassen oder noch nicht? Zu eurer Beruhigung kann ich euch versichern, daß das Wechselfieber zwar unangenehm, aber keineswegs gefährlich ist, ja eigentlich die am leichtesten und sichersten zu heilende Krankheit, insofern es nämlich die aller einzigste ist, gegen die wir wirklich ein Specifisches Mittel besitzen, das fast nie im Stich läßt. || Es ist dies, wie ihr wohl wissen werdet, die Chinarinde und besser noch dasa daraus dargestellte Chinin; das oberste unter allen Heilmitteln, weil das einzig Sichere. Zwar vermuthe ich jedenfalls, daß Herr v. Moeller noch soviel Therapie besitzt, um Mamma das Chinin zu geben. Nach jenen Äußerungen indeß könnte man wirklich argwöhnen, daß er es unterlassen habe, und Homoeopath sei. Für diesen Fall, daß Mamma nämlich noch kein Chinin bekommen hat (das ihr ja an seinem bittern Geschmack leicht erkennen werdet), schicke ich euch das beifolgende Recept mit, das Mama dann jedenfalls einnehmen muß. Du bekömmst danach, liebes Mutterchen, 12 Pulver, welche Du aber nur in der fieberfreien Zeit nehmen darfst und zwar anfangs alle 2 Stunden eines, später, wenn das Fieber aussetzt, alle 3 Stunden. Um den bittern Geschmack zu verbessern, nimmst Du es am Besten in einem Löffel schwarzen Kaffee und ißt danach ein Stückchen Zitronenscheibe, mit Zucker bestreut. Auch wenn das Fieber vorbei ist, mußt Du wenigstens noch eine Woche mit dem Chininpulver fortfahren, brauchst aber dann täglich nur 3–4 Stück zu nehmen. Wenn ferner Eilsen ein Ort ist, wo das Wechselfieber endemisch ist, d. h. wo jederzeit einzelne Fälle davon vorkommen, so müßt ihr durchaus das Nest baldigst verlassen, da sonst alle China schwerlich helfen, sondern immer wieder in der Sumpfluft Rückfälle kommen würden. ||

Schreibt mir darüber nur recht ordentlich, wie überhaupt über Mammas ganzen Zustand. Hoffentlich habt ihr auch an Quinke geschrieben, der jedenfalls ganz dasselbe sagen wird. Über Quinke habe ich mich aber auch nicht wenig geärgert, daß er euch in so ein Bad schickt! Diese verdammten Bäder soll doch allesamt mit den Badeärzten der Kukuk holen! Ich kann euch gar nicht sagen, wie ich sie hasse und wie ich mich über die Ärzte ärgre, die vernünftige Patienten dahin schicken, wohin nur Leute gehören, die ihr Geld, Zeit, oder Langeweile anderswie nicht los zu werden wissen! Das Baden hilft doch immer am wenigsten, oder vielmehr gar nicht. Das wirklich Wirksame ist das Herausreißen aus den gewohnten alltäglichen Verhältnissen, das Vergessen der häuslichen gewohnten Sorgen und Arbeiten, die Ruhe und Muße, sowie der möglichste Genuß der freien, schönen Natur. Alles dies hätte aber Quinke viel besser erreicht, wenn er euch, statt in ein so langweiliges Bad, wo man nichts als Krüppel sieht, in eine herrliche Gebirgsgegend, wie z. B. das selbst für Damen sehr leicht zugängliche Salzkammergut, nach Berchtesgaden, Ischl oder Gastein geschickt hätte, wo ihr in der göttlichen Alpenluft beide viel besser auf den Damm gekommen wäret und überdem doch dabei hättet baden können. ||

Doch nun ist das Pech einmal da, und ich muß mich darüber zur Ruhe zu bringen suchen, obwohl der Ärger noch lange in mir kochen wird. Macht nur, daß ihr bald aus dem verwünschten ungesunden Nest herauskommt; am besten wäre’s, ihr ginget nurb kurze Zeit nach Ostfriesland, wo ihr euch vor der Sumpf Malaria jedenfalls auch sehr in Acht nehmen müßt, und dann möglichst bald an den schönen Rhein, wo Mamma in ihrem geliebten Vaterland jedenfalls am raschesten genesen wird. So lange ihr noch in Eilsen seid, muß nur Mamma sich ja sehr hüten, c an kühlen Abenden spazieren zu gehen, überhaupt, sich zu erkälten. Doch denke ich jedenfalls, daß sie die China bald ganz auf den Damm bringen soll! Wie sehr ich mich freue, daß ihr mich auf der Rückreise hier besuchen werdet, kann ich euch gar nicht sagen. Ich kann die herrliche Zeit kaum erwarten. Das soll ein rechter Glanzpunkt in den sonst so trüben Herbstferien werden! Von mir kann ich euch wenig Neues melden. Nachdem längere Zeit ziemlich wenig Material da war, giebts seit 8 Tagen wieder alle Hände voll zu thun, am meisten in den letzten Tagen, so daß ich auch schon deßhalb vorgestern bei Empfang eures Briefs nicht gleich antworten konnte, obwohl ich auch aus dem Grunde, um erst den kochenden Unmuth sich etwas sedimentiren und abkühlen zu lassen, bis heute mit der Antwort wartete. ||

– Anfang dieser Woche hätte ich euch gewünscht, hier zu sein. Da wurde nämlich vom Sonntag bis Mittwoch (6–9) das große 50jährige Stiftungsfest des hiesigen polytechnischen Vereins, des ersten und größten in Deutschland, gefeiert, wozu zahllose Gäste von allen Ecken und Enden herbeigeströmt waren. Es war in der That äußerst prächtig. Nie habe ich hier eine solche Menschenmasse beisammen gesehen. Das schönste war der große Festzug, der am Sonntag durch alle Hauptstraßen der Stadt zog, und von 9–1 Uhr dauerte. Darunter befanden sich die Schulen, Bürger, fremde Gäste, alle Mitglieder des Vereins, insbesondere alle Gewerke, welche in wirklich sehr netter, sinniger und geschmackvoller Weise sich aufspielten und herumzogen. Die meisten Corporationen zogen festlich geschmückt in einem allegorisch verzierten Arbeitskleid auf; davor getragen wurde eine Fahne, dann die Embleme und Wahrzeichen des Gewerkes. Viele Zünfte hatten außerdem auch einen feierlichen Festwagen voll sinniger Anspielungen aufgeputzt, der mit Kling und Klang voranzog, so die Maurer, Schneidmüller, Architekten, Tüncher, Jäger, Werkzeugfabrikanten, Zimmerleute, Schlosser etc. Am besten machten sich die wirklich ganz poetisch aufgeputzten Fischer, welche in einer sehr passenden und hübschen, altdeutschen Fischertracht, mit Fahnen aus Netzen gewebt und andern Sinnbildern einherzogen. || In ihrer Mitte wurde auf 4 rings von Schilf verdeckten Rädern ein großer mit Wasserpflanzen, Segeln, Wimpeln und Flaggen geschmückter Kahn gezogen, den vorn ein alter Neptun regierte, während innen die allerliebsten Kinder, Netze strickend, unter einer zart aus Netzen gewebten Laube saßen. Auch die Tischler, mit Wiege und Sarg als Emblemen, Fahnen aus Hobelspähnen gewebt, Zirkel und Winkelmaß als Waffen etc machten sich sehr hübsch. Sehr komisch sahen die Kärrner, welche als Kavallerie auf ihren Karrengäulen, wahrhaften Regimentern, ritten, aus. Auch die Gärtner und Gärtnermädchen, sehr zart und fein in Grün und weiß gekleidet, in ihrer Mitte einen großen riesenhaften Blumenstrauß mit Guirlanden tragend, sahen sehr hübsch aus, ebenso die Klempner in Ritterrüstungen, die Glaser mit sehr schönen, bunten Glaswaaren behangen, die Fleischer, roth und weiß, mit blanken Waffen, die Kaminfeger in feierlichen Staatswagen, die Goldarbeiter mit reichen Kleinodien geschmückt, die Bauleute, eine ganze Brücke mit Gerüst und Arbeitern auf einem Wagen fahrend etc. Ihr hättet selbst den ganzen Schwindel sehen müssen, um euch einen Begriff von dem dabei entwickelten Glanz und Pracht zu machen. Im Ganzen entwickelten die Leute viel mehr Pracht, Glanz, Witz und Sinnigkeit, als ich ihnen zugetraut. Den traurigen Eindruck machten nur die Gestalten d der Männer selbst, die mit wenigen Ausnahmen (z. B. Fischer, Maurer, Schmiede etc) ein trübes Bild von dem herabgekommenen, kraftlosen Charakter unserer jetzigen Generation zeigten und in denen man vergeblich die kräftigen, prächtigen altdeutschen Gestalten suchte. ||

Sonntag Nachmittag war großes Volksfest in Veitshöchheim. Ich benutzte die Gelegenheit, um in einem kleinen Nachen Mainab zu fahren, mied aber dort sorgfältig den Garten, wo 16000! Menschen durcheinander drängten und wühlten, wie in einem Ameisenhaufen, sondern machte mich vielmehr gleich aus dem Staub und eilte zu meiner geliebten alten Edelmannswaldspitze, wo ich den schönen Nachmittag im süßesten Genuß und Einklang mit der herrlichen Natur, in Reisesehnsucht und Gedanken an meine fernen Lieben, verträumte, allein, wie immer, aber desto zufriedener und ruhiger. –

Am Dienstag Abend war großes Volksfest in der Aumühle, wo ich einmal hinging, um mir e einmal wieder den ganzen tollen Schwindel eines Bairischen Volksfestes, mit dem nöthigen Bier etc zu vergegenwärtigen. Den Beschluß machte ein sehr großartiges Feuerwerk. Heute ist schon Alles wieder ins alte Gleiß zurückgekehrt, obwohl die Meßbuden noch einiges Leben in der Stadt erhalten. Das Wetter ist kühl und ungemüthlich, stellenweis selbst rauh und unfreundlich, wie im Oktober, keineswegs aber wie in den Hundstagen. Doch bade ich trotzdem fast alle Tage, wodurch ich mich recht munter erhalte. Ich wünsche nur, daß ihr dort freundlicheren Sommer habt. Nun nur noch einmal die herzliche Bitte, mir recht bald ordentliche Nachricht von Mammas Befinden zu geben, und meine, in diesem Falle wirklich sehr rationellen und richtigen, therapeutischen Rathschläge zu befolgen. Mit dem herzlichsten Wunsch recht baldiger vollkommner Genesung euer alter treuer Ernst.

N. B. Sobald die 12 Pulver alle sind, müßt ihr das Recept wiederholen lassen. ||

[Beilage: Rezept für Charlotte Haeckel]

Eilsen. 12. VII. 56.

Rp. Chinin sulfur. gr ii

Sacch. alb. gr x,

M. f. pulv. D. tal. dos. N xii

D. S. Alle 2 Stunden in der fieberfreien Zeit 1 Pulver zu nehmen.

Für Frau O. R. R. Haeckel.

Dr Haeckel

a korr. aus: daß; b eingef.: nur; c gestr.: b; d gestr.: derselben; e gestr.: di

Brief Metadaten

ID
37520
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Bayern
Datierung
10.07.1856
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,1 x 22,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37520
Beilagen
1 Beilagenbl. (Rezept für Charlotte Haeckel, Eilsen, 12.7.)
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel Charlotte; Würzburg; 10.07.1856; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_37520