Ernst Haeckel und Charlotte Haeckel, Würzburg, 27. Juni 1856

Würzburg 27/6 56

Meine liebste Mutter!

Hoffentlich ist dies für längere Zeit das letzte Mal, daß ich Dir nur schriftlich meine herzlichsten Glückwünsche zu Deinem Geburtstage bringen kann. Nächstes Jahr werden wir ja wohl hoffentlich zusammen im trautesten Kreise dieses Hauptfamilienfest feiern. Aber wenn auch diesmal noch weite, räumliche Entfernung uns trennt, so bin ich darum in Gedanken doch eben so herzlich und liebevoll bei Dir, als wenn ich auch körperlich gegenwärtig wäre, und sende Dir aus tiefstem kindlichen Herzen meine besten Wünsche. Hoffentlich erhält Dich uns der liebe Gott noch eine lange Reihe von Jahren recht frisch und munter und zu unserer Aller Freude und Segen. Und daß Du auch an Deinem kleinen (respective größern!) Jungen soviel Freude erleben mögest, wie Dir der ältere schon gemacht hat, danach wird er mit allen Kräften streben, das weißt Du ja! Vorzüglich wünsche ich Dir dann aber auch, daß Deine Gesundheit sich immer mehr und stärker bessert und wieder befestigt. Da Du in Deinen letzten Briefen immer Nichts davon erwähnt hast, so hoffe ich daß es schon wieder ganz gut damit ist, und daß das Bad eigentlich mehr als Reconvalescenzkur zur bessern Befestigung und Stärkung dienen soll. Jedenfalls wird Dir die vollkommne Muße und Ruhe einmal recht gut thun, und a auch daß du einmal ein paar Sommermonate aus der Berliner Stadtluft herauskommst, ist ein großer Vortheil. Mache Dir nur ja recht viel körperliche Bewegung im Freien. Das ist bei Deiner Körperconstitution jedenfalls ein Haupterforderniß. Und wenn Du auch einmal dabei tüchtig müde wirst, so laß Dich dadurch ja nicht abhalten, immer wieder zu gehen und Dich zu bewegen. Das wird Dich schon ordentlich wieder kräftigen. ||

Denke dabei nur immer an Deinen Jungen und seine Alpenmärsche. Wie gerne gäbe er Dir alle seine überflüssige Jugendkraft ab, die ihm bei seiner jetzigen Lebensweise doch nichts nütze ist. Das ist in der That eine traurige Sache, wenn man so einen starken Körper hat und kann doch damit nichts anfangen, sondern muß immer auf einem Fleck sitzen und kann sich höchstens denken, es wäre wohl besser, wenn man Seemann oder Soldat oder Gems- oder Biber-jäger geworden wäre! Mir wenigstens kommen gar oft Augenblicke, wo mir der Cadaver ordentlich zur Last wird! Könnte ich Dir, meine liebste Mutter, nur davon abgeben! Papa wird übrigens wohl schon dafür sorgen, daß Du Dir ordentlich Bewegung machst, die Ruhe recht genießest und überhaupt das Bad vorschriftsmäßig brauchst. Die Gegend ist wohl übrigens soviel ich wenigstens auf der Karte gesehen habe, nicht besonders. Ich bin recht neugierig, darüber, sowie überhaupt über euer ganzes Leben und Treiben Näheres zu erfahren. Schreibt mir nur rechts [!] ausführlich. Wie ist denn eigentlich euer Reiseplan? Wenn ihr noch nach Bonn geht, so müßt ihr natürlich jedenfalls über Würzburg zurückreisen. Ihr macht dann die herrliche Flußfahrt Rheinaufwärts und fahrt dann über Heidelberg auf der schönen Spessartbahn hierher. Vielleicht könnte ich euch dann auch in Heidelberg abholen. Her müßt ihr aber jedenfalls kommen; denn das wäre doch zu Unrecht, wenn Du, liebstes Mutterchen, nicht einmal den berühmten Ort kennen lernen solltest, wo Dein Junge seine 3 früchtereichsten Lebensjahre zugebracht hat. Ich verspreche Dir auch, Dich nicht so unbarmherzig herumzuschleppen, wie ich dies mit Papa voriges Jahr gethan habe. Das schöne Mainthal soll Dir aber schon gefallen, dafür stehe ich Dir. ||

Daß ich selbst auf diesen ganzen Sommer und Herbst bis zum 1. Oktober mehr als höchstens 1–2 Tage abkommen könnte, daran ist gar nicht zu denken. Virchow wird den ganzen Herbst mit seiner Familie im Süden, wahrscheinlich in Meran, oder auch in Italien, zubringen, und dann bin ich hier eine ganz unentbehrliche Person, da ich in seiner Abwesenheit alle Geschäfte für ihn besorgen muß. Das Einzige, was mich dabei über den Verlust einer Ferienreise tröstet, ist der große Nutzen, den ich von dieser Thätigkeit habe, da ich jedenfalls außerordentlich viel dabei lernen kann. Das Material, um sowohl in der normalen als pathologischen menschlichen Anatomie vollkommen fest zu machen, steht mir im reichsten Maße zu Gebot und daß ich es nach Kräften benutze könnt ihr euch denken. Ich treibe eigentlich jetzt gar Nichts Andres. Übrigens würde ich, selbst wenn ich 1 oder 2. Wochen Ferien bekommen könnte, was aber nicht möglich sein wird, doch schwerlich nach Aurich kommen, wie gern ich auch Onkel und Tante einmal wieder sähe. Ich würde mir diese Reise vielmehr aufsparen und würde die freie Zeit in diesem Falle dazu benutzen, schleunigst nach dem Wormser Joch oder den Oetzthaler Fernern durchzubrennen, und mich in dem geliebten Tyrol wieder ein paar Wochen herumzutreiben, meinen langen Beinen ihr Recht zu verschaffen und meine Kräfte recht tüchtig auszulaufen. Wenn mir nur die Alpen nicht immer im Kopf lägen!

– Die beifolgenden Bilder sollten Dir, liebste Mutter, nur ein sinnliches Zeichen meines kindlichen Geburtstagsgrußes sein. Ich habe jetzt so lange Nichts Ordentliches gezeichnet, daß ich ganz aus der Übung war, und so ist Nichts rechts daraus geworden. Da du Dich aber doch immer über auch die schlechtesten Leistungen Deines Jungen freust, so schicke ich sie Dir. || Tante Bertha wird Dir auch wohl ein großes Bild von Botzen, Meran und Umgebungen gegeben haben, wenigstens hatte ich es ihr aufgetragen, Dir vor Deiner Abreise zu übergeben.

Außerdem bekommst Du auch noch ein paar Bocksbeutel von mir, die ich Dir aber jetzt nicht nach Nenndorf schicken wollte, da Du sie dort ohnehin nicht wirst trinken dürfen. Ich werde sie im Herbst mitbringen und sie werden Dir gewiß doppelt gut schmecken, da sie mit meinem ersten, sauerverdienten Gehalte bezahlt sind! Ich erhebe dasselbe jetzt in monatlichen Raten von 12½ fl (macht täglich 24 48/73 Kreuzer!). Dazu kam gestern ganz unerwarteter Weise noch eine ganz hübsche Zulage, auf die ich gar nicht mehr gerechnet hatte. Ich bekam nämlich als Honorar für meine Aufsätze in der Wiener medicinischen Wochenschrift plötzlich von Wien 20 rℓ, sage zwanzig Thaler! geschickt. Ihr könnt euch denken, wie erstaunt ich über diesen Redacteurs-Edelmuth bei Empfang des „Schmerzensgeldes“ (wie Virchow sagte) war! Ich werde diese ganz hübsche Summe zusammen mit meinem Gehalte dafür verwenden, mir bei Schieck ein kleines Microscop zu 50 rℓ, welches ich durchaus nothwendig brauche, zu bestellen, was ich mir durch Lachmann werde besorgen lassen.

– Von meinem jetzigen Leben und Treiben kann ich euch wenig Neues sagen, da dasselbe in der alten Weise Tag für Tag den gewohnten Gang fortgeht, b der mir jetzt schon ganz natürlich vorkommt. Doch kommt mirs mannichmal, wenn ich ruhig mirs überlege, oft noch wie ein Traum vor, daß ich Virchows Assistent und specieller c pathologischer Anatom sein soll! ||

Wegen meiner Gesundheit braucht ihr euch gar keine Sorge zu machen. Ich habe mich jetzt an den cadaverösen Gestank und die mephitischen Dünste, welche in allen Anatomieräumen herrschen, so vollständig gewöhnt, daß ich ganz dagegen abgehärtet bin. Meine Bekannten behaupten alle, ich sähe jetzt gesünder, denn je vorher aus, während ich in den ersten 3 Wochen sehr blaß und relativ elend ausgesehn haben soll. Auch eure Furcht wegen des Ansteckens beim Seciren ist ganz ungegründet. Überhaupt haben die Laien über die Natur des Leichengifts, wie überhaupt über viele Naturgeschichten, sehr falsche Vorstellungen. Wirklich gefährliche Cadavera kommen nur äußerst selten vor. In diesem Semester kam erst ein einziger vor, ein an Malleus gestorbener Mensch und obwohl Virchow sich bei dessen Sektion tief in den Finger schnitt, und dann mit unbegreiflichem Leichtsinn noch ½ Stunde mit der offenen Wunde die Section fortsetzte und zu Ende brachte, so hat ihm die Geschichte doch gar nichts geschadet, trotzdem dieses specifische Gift selbst bei den Ärzten für absolut tödtlich gilt.

– In der letzten Zeit habe ich auch öfter, wenn Virchow Sonntags bei seiner Familie in Veitshöchheim war, Sektionen für practische hiesige Ärzte zu machen gehabt und so lerne ich immer mehr mich in verschiedene Verhältnisse finden und neue Leute kennen.

– Die vorige Woche war hier durchd eine große Feierlichkeit ausgezeichnet, indem der König und die Königin von Baiern auf ihrer Durchreise nach Bad Brückenau hier einen Tag verweilten. Prof. Scanzoni Leibarzt der Königin, der jetzt zugleich Universitäts Rector ist, gab sich alle Mühe, dazu einen großartigen Fackelzug, || der Studentenschaft zu Stande zu bringen und da die Fackeln gratis geliefert wurden, so fiel er in der That recht glänzend aus. Die 5 Corps mit ihren bunten Mützen und Fahnen spielten natürlich dabei die Hauptrolle. Aber auch die Masse der übrigen, sogenannten wilden Studenten (gegen 700) nahm sich dabei recht imposant aus. Als die ganze Masse auf dem großen Residenzplatz e vor dem Schlosse aufgereiht war, verdunkelte die rothe Fackelgluth vollkommen den bleichen Glanz der Illuminationslichter und der schwarze Qualm stieg als schwere Wolke empor. Die Straßen und Häuser zeigen noch heute die traurigen Spuren davon. Ich habe dabei ebenfalls eine Rolle gespielt, da ich den guten Einfall hatte, wie schon damals (1852) für den Fackelzug für Virchow, meine große schwarze Secirkutte, die jetzt eigentlich zugleich eine Art Amtstracht für mich ist, anzuziehen. Die lange schwarze Figur mit den hellen Haaren unter einem dunkeln alten Calabreserhut soll wirklich sehr grandios ausgesehen haben und erregte allgemeinen Beifall. Die Einen hielten mich mehr für einen Feuerwehrmann, die andern mehr für einen der Teufel, die Don Juan herunterholen, item ich gab eine sehr effektvolle Charaktermaske ab. Die Geschichte machte mir auch solchen Spaß, daß ich ganz ausgelassen wurde und meine langen Fackeln trotz Einem [!] schwang. So Ein [!] Fackelzug macht mir immer sehr großen Spaß, da so etwas Wildes, Phantastisches dabei ist, und der Gedanke, daß dies wahrscheinlich der letzte sein würde, den ich Gelegenheit hätte mitzumachen, bewog mich hauptsächlich daran Theil zu nehmen, obwohl ich im Grunde gar keine Indication dafür einsah, einem Könige, und am wenigsten dem Könige von Baiern einen Fackelzug darzubringen. || Andererseits warf man mir, insbesondere als königlich bairischem Staatsdiener, solchen Mangel an Patriotismus und solche preußische Sonderbündelei von bairischer Seite vor, daß ich, schon um es mit den Baiern nicht ganz zu verderben, den Spaß mitzumachen beschloß.

Ich habe ohnehin die bairischen und überhaupt süddeutschen Studenten, mit denen ich im Übrigen, wie mit den meisten, jetzt ganz vortrefflich stehe, neulich sehr aufgebracht, indem ich in den Berathungen über die Virchow vor seinem Abgange darzubringende Ehrendemonstration (ein Gartenfest, wobei wir ihm einen silbernen Pokal überreichen werden) sehr energisch gegen die süddeutsche, namentlich die specifisch bairische Fraction auftrat, und mit aller Macht gegenf ihre unpassenden Vorschläge sprach, schrie und trampelte. Auch habe ich durch den Eifer, mit dem ich die norddeutsche Gegenparthei unterstützte, nicht wenig dazu beigetragen, daß in das Fest Comité lauter Norddeutsche (Beckmann (Mecklenburgg) – Focke und Kottmeier (Bremen) Tilemann (Oldenburg) und Kochs (Trier)) gewählt wurden. Ich wollte, ihr könntet nur einmal sehen, wie toll lustig parlamentarisch es in so einer Studentenversammlung zugeht! Was da für Unsinn vorkommt! – Haben euch denn Heins die beiden Bilder von mir wiedergebracht? Ich hatte schon 2 für sie zu dem Bild von Lachmann gelegt. Wenn ihr übrigens noch mehr Exemplare haben wollt, so schreibt es nur. Ich schicke sie dann.

– Daß ihr in Berlin meine Stube und den Balkon öfter benutzt habt, hat mich sehr gefreut. Ich kann mir schon denken, daß der Garten da jetzt im Sommer recht hübsch ist, und denke oft mit Sehnsucht daran zurück wenn ich in meinem stänkrigen Anatomiezimmer schwitze. Auf nächsten Winter freue ich mich sehr. Die Hälfte des Jahres ist ja nun schon vorbei. ||

Für Deinen letzten ausführlichen Brief, lieber Vater, danke ich Dir sehr. Deine Mittheilungen machen mir große Freude. Mit Adolph Schubert scheints ja sehr gut zu gehen. Wenn die Besserung nur so fortgeht! –

Nun schreibt mir nur recht bald, was ihr macht und wie es euch geht. Du, lieber Vater, wirst in dem langweiligen Badeleben wohl mannichmal ungeduldig werden.

Dir, liebste Mutter, wünsche ich besten Erfolg der Kur. Sei recht frisch und munter und behalte auch im neuen Lebensjahre in der alten Liebe Deinen treuen alten Ernst.

N.B. Vergeßt mir nicht, ordentlich die Adresse zu schreiben.

a gestr.: der; b gestr.: an d; c gestr.: anatomischer; d Dittographie: durch; e gestr.: au; f eingef.: gegen; g korr. aus: Oldenburg

Brief Metadaten

ID
37518
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Bayern
Datierung
27.06.1856
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,2 x 22,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37518
Beilagen
Porträtfotos von EH (Fotograf der ehem. Erlanger Student Johann Gattineau)
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Charlotte; Würzburg; 27.06.1856; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_37518