Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 19. November 1855

Würzburg 19/11 55

Mein lieber Vater!

Dieses Blatt soll Dir zu Deinem kommenden Geburtstage die herzlichsten und innigsten Glückwünsche Deines treuen, alten Jungen bringen, der so sehr gern persönlich zu diesem Hauptfesttage der Häckelei in der Mitte seiner Lieben wäre. Nun, für einige Zeit wird dies wohl der letzte Geburtstag sein, an dem Du Deine beiden Jungen unter den Lieben Allen, die Dich in persona begrüßen, vermißt. Die nächstfolgenden Jahre werden hoffentlich die ganze Häckelsche Familie an diesem hohen Feste vollzählig in trautem Kreise versammelt sehen. Für diesmal mußt Du Dich also noch mit diesem schriftlichen Gruße begnügen, der aber deswegen um Nichts weniger a tief gefühlt von Herzen kömmt. Mögest Du durch Gottes Gnade noch recht oft frisch und gesund diesen schönen Tag feiern und dabei jedesmal mit vermehrter Freude auf den wachsenden Kreis Deiner Familie herabschauen. Was mich selbst dabei betrifft, so hoffe ich dabei mit jedem Jahre vervollkommnet und Deiner und unsrer ganzen Familie würdiger zu Dir herantreten zu können. Diesmal ist dies wenigstens gewiß der Fall, denn daß ich gegenwärtig in jeder Beziehung, sowohl in wissenschaftlicher als menschlicher, bedeutende Fortschritte gegen die letztverflossnen Jahre gemacht habe, in denen ich allerdings mehr als recht ist, in vieler Hinsicht zurückblieb, das wird mir aus meinem ganzen jetzigen Leben und seinen einzelnen Seiten immer klarer. Den größten Dank bin ich dafür wohl meiner herrlichen Alpenreise schuldig, die mich so vielfach mit andrer Menschen Ansichten und Gesinnungen bekannt gemacht, aus dem engen beschränkten Kreise meiner alten philiströsen Grillen und hausbackenen Vorstellungen herausgerissen und in die ganze Vielseitigkeit des bunten Weltlebens hineinversetzt hat. Nächstdem bin ich einen großen Theil des Danks b für eine vielseitigere Ausbildung und Erweiterung meiner Lebensansichten auch der Medicin, insbesondre der praktischen schuldig, welche mich gleichfalls mehr in das wirkliche Leben, wie es einmal ist, und wie wir uns in dasselbe schicken müssen, hat blicken lassen. Freilich war dies gewaltsame Herausreißen aus einer phantasiereichen Welt erträumter Ideale und die plötzliche Versetzung in die rauhe Wirklichkeit, welche ich erst jetzt in ihrem ganzen Wesen kennen lernte, keineswegs angenehm, um so froher aber bin ich jetzt, daß dieser harte Sprung, der denn doch einmal nolens volens gethan werden mußte, vorüber ist und ich nun die reale Welt mit ebenso realen Augen ansehen kann, wie sie es verdient. In dieser Beziehung ist die praktische Medicin und insbesondere die Poliklinik, wo man die erbärmliche Unvollkommenheit und die elende Mangelhaftigkeit unsres körperlichen und geistigen Lebens so recht aus dem Grunde kennen lernt, eine ganz vortreffliche, wenn auch bittre und harte, Lehrschule. In der ersten Zeit kam mir natürlich diese plötzliche Vernichtung aller der schönen Phantasiebilder, mit denen ich mir eine ideale Weltanschauung in meinem abgesonderten Sinne selbstständig und aller Realität bar, erbaut hatte, hart und unbillig genug vor; jetzt gewöhne ich aber allmählich meine ganze Denk- und Auffassungsweise immer mehr an diese reale Betrachtung der menschlichen Dinge und werde nun beim weitern Hinaustreten in das rauhe stürmische Leben um so weniger durch dessen Täuschungen überrascht werden. Wenn ich übrigens gegenwärtig mit der praktischen Medicin michc wenigstens in so weit ausgesöhnt habe, daß ich überzeugt bin, bei noch zunehmender Selbstüberwindung im Nothfalle sie einst wirklich ausüben zu können (was ich hauptsächlich der poliklinischen Schule verdanke), so ist damit keineswegs gesagt, daß meine unbegränzte Vorliebe zu den theoretischen Naturwissenschaften (insbesondre der wissenschaftlichen Zoologie und Botanik, und Mikroskopie überhaupt) irgendwie nachgelassen hätte. Im Gegentheil hat dieselbe durch meine schöne Alpenreise, welche mir so viele, wundervolle Gebiete interessantester Naturforschung vor Augen geführt hat, noch einen beträchtlichen Zuwachs, einen starken Antrieb mehr, bekommen und ich bin jetzt ein leidenschaftlicherer „Naturforscher“, als je vorher. Du kannst aber schon daraus sehen, wie sehr ich an Selbstüberwindung zugenommen habe, daß ich dessen ungeachtet für die nächste Zukunft und in specie für diesen Winter vollständig auf rein theoretische, naturwissenschaftliche Studien verzichtet und mir fest vorgenommen habe, jetzt endlich einmal die Medicin zum vollkommnen Abschluß zu bringen, so daß ich unser Staatsexamen machen kann. Das [!] es mir dabei wirklich Ernst ist, wirst du, aus der nachstehenden Eintheilung meiner Zeit ersehen, die ganz und gar alle Lieblingsstudien aus ihrem Kreis verbannt hat. ||

Meine gewöhnliche Zeiteintheilung, in der mir ein Tag wie der andre, mit fabelhafter Schnelligkeit verstreicht, ist jetzt folgende: Um 7 Uhr stehe ich auf. Um 8 Uhr geburtshilfliche Klinik bei Skanzoni, um 9 Uhr d medicinische (innere) Klinik bei Bamberger, wo ich jetzt einen recht interessanten Patienten mit einem bedeutenden Herzfehler (Insufficienz und Stenose der Mitralis) zu behandeln hatte. Von 10–11 Uhr mache ich Visite bei meinen poliklinischen Patienten, deren größter Theil aus skrofulösen und rhachitischen Kindern besteht. Von 11–1 Uhr höre ich die beiden privatissima Curse bei Virchow, die er an abwechselnden Tagen, jeden 3 mal wöchentlich hält. Den einen, den ich schon im Sommer einmal genoß, der demonstrative Cursus über pathologische Anatomie, worin man auch selbst Sektionen macht, ist wohl das beste Kolleg, was hier gelesen wird und ganz einzig in seiner Art, da an keiner einzigen andern Universität solche Curse gehalten werden und sie doch grade für eine wirklich wissenschaftliche Auffassung der Medicin, unendlich wichtig sind. Ein besondres Interesse erhält er dadurch, daß man hier die feinere Anatomie und pathologische Physiologie, mithin das eigentliche Wesen derselben Krankheitsfälle kennen lernt, die man vorher im Juliushospital klinisch hatte behandeln sehen. Von 1–2 Uhr esse ich in einem alten Hotel, dem Ochsen, mit einer Unmasse andrer Bekannter, in specie Beckmann, Strube u. Dreier, zu Mittag. Von 2–3 sollte ich eigentlich gerichtliche Medicin und medicinische Polizei hören, welches ich als Zwangskolleg belegt habe. Da der alte, halbblödsinnige Prof. Schmidt e diese Disciplinen, die ohnehin für mich alles Interesses entbehren, unendlich langweilig und geistlos vorträgt, oder vielmehr nach seinem Hefte abliest, so schwänze ich konstant, wie fast alle Zuhörer desselben und trinke statt dessen mit Beckmann und Strube Kaffee, oder gehe bis 3 Uhr auf die Bibliothek. Von 3–4 Uhr höre ich zum zweitenmal die allgemeine Pathologie und Therapie, und allgemeine pathologische Anatomie bei Virchow mit großem Interesse; auch der praktische Cursus der pathologischen Mikroskopie (der mit dem demonstrativen an abwechselnden Tagen gehalten wird) gefällt mir sehr, obwohl man eigentlich nur das Material zur Histologie der verschiednen Krankheiten bekömmt, das man nun selbstständig bearbeiten muß. Vor dem Kursus referire ich gewöhnlich über meine poliklinischen Patienten bei Prof. Rinecker und verschreibe denselben Recepte. Von 4–5 höre ich jetzt noch theoretische Geburtshilfe bei Scanzoni, ebenfalls zum zweitenmale, und von 5–6 Specielle Pathologie bei Bamberger, welche beiden theoretica ich aber wohl bald aufstecken und statt deren den chirurgischen Operationskursus beim alten Textor machen werde. Von 6–7 gehe ich gewöhnlich auf dief Harmonie, deren außerordentliches Mitglied ich jetzt bin und lese daselbst Zeitungen und wissenschaftliche Zeitschriften. Von 7–9 Uhr folgt die berühmte Tanzstunde, welche ich glücklicherweise mit mehrern Bekannten, namentlich mit meinemg näheren Freunde Dreier (aus Bremen) und dessen Bekannten Knauf, zusammen habe, so daß wir uns die an sich höchst langweilige Geschichte durch gegenseitiges Amusement recht munter und lustig machen. Unser Tanzmeister, Hr. Quäsar, ein fast ebenso breiter und dicker, als langer Fleischklumpen, sowie seine kaum weniger wohlbeleibte Frau Ballettmeisterin, geben uns h in der That durch die Beschränktheit des Gehirns, das der Hypertrophie ihres Fettzellgewebes entsprechend, atrophisch geworden zu sein scheint, Stoff genug zum Lachen und Lustigmachen. Die ersten Stunden brachte er bloß damit zu, uns einzuschulen, wie wir Complimente zu machen, insbesondre aber, wie wir uns vor dem König und der Königin zu benehmen hätten. Gegenwärtig wird eifrigst Française einstudirt (mit 6 Damen) wobei ich mit meinen langen Beinen oft großartige Sätze durch den halben Tanzsaal mache. Überhaupt ist mein Ungeschick dabei natürlich bewundernswerth. Nach der Tanzstunde, oder an den Tagen, wo diese nicht stattfindet, nach der englischen Stunde, welche ich bei einem ganz i sonderbaren Engländer, Mr. Watson Sratshard genieße, gehe ich gewöhnlich ein wenig mit Beckmann und Strube kneipen. Dann wird regelmäßig noch bis 12 oder 1 Uhr zu Hause gearbeitet. Namentlich will ich jetzt in diesen Stunden meine Reisebeschreibung wieder fortsetzen, deren Ausarbeitung mir ungemein großes Vergnügen macht, da ich alle die herrlichen Genüsse der unvergeßlichen Reise dabei noch einmal im Geiste durchlebe. Schade nur, daß ich bei der geringen Übung im Schreiben, die leider beij unsern Universitätsstudien noch so sehr vernachlässigt wirdk, so daß wir die geringe, auf der Schule erworbene Stylfertigkeit bald wieder einbüßten, so wenig im Stande bin, die verschiednen lebhaften Gefühle Ansichten und Genüsse, die noch bei der Rückerinnerung an die herrlichen Erlebnisse meine Sinne lebhaft erregen, treu wiederzugeben. ||

Stellenweise wird euch der Reisebericht auch durch botanische und andre naturwissenschaftliche Notizen langweilig vorkommen. Da diese aber nothwendig und wesentlich zum Ganzen gehören, und ich den Bericht zu gleich zur Rückerinnerung für mich selbst niederschreibe, so müßt ihr solche Stellen schon mit in den Kauf nehmen und könnt sie überschlagen. Die vier Bogen des Reiseberichts, die ihr hoffentlich am 22sten richtig durch Karl erhalten werdet, an den ich sie vorgestern abgeschickt habe, lagen schon seit 14 Tagen fertig da und ich würde sie schon längst abgeschickt haben, wenn ich nicht des vollen Gebrauchs meiner rechten Hand durch meine Sectionswunde am Gelenk des rechten Zeigefingers beraubt worden wäre, die, an sich ganz klein und unbedeutend, doch bald so schlimm wurde, daß die Lymphdrüsen unter der Achsel anschwollen und die Wunde nun schon fast 14 Tage eitert. Dieser unangenehme Zufall hinderte mich auch, euch gleich nach Empfang eures letzten Briefs, der den Wechsel enthielt (für den ich euch noch den besten Dank sage) zu schreiben.

Übrigens scheint mir aus eurem Brief hervorzugehen, daß entweder ein Brief von euch oder von mir verloren gegangen ist, da ihr mir kein Wort von Tante Berthas Geburtstag und dem Brief, den ich zu diesem Tage an euch abgesendet, schreibt. Es war dies der erste Brief, den ich nach meiner Ankunft hier an euch abschickte. Ich selbst erhielt bisher hier nur 2 Briefe von euch, den ersten, der mit den Büchern, Strümpfen und Würsten ankam, und den zweiten, vor 10 Tagen, der den Wechsel begleitete. Dagegen erhielt ich unerwarteter Weise vor einigen Tagen den Brief nachgeschickt, den ihr nach Berchtesgaden adressirt hattet. Vielleicht kommen nach und nach auch noch andre dieser verspäteten Nachrichten zurück. –

Zu den Bocksbeuteln, die ihr lieben Alten euch an Papas Geburtstag recht gut schmecken lassen mögt habe ich auch noch ein paar Proben der herrlichen Tyroler Alpenpflänzchen gelegt, von denen ich einen großen Stoß mitgebracht, ferner eine graphische Darstellung meiner Reiseroute, zur bessern Verfolgung meines Wegs, genau nach der trefflichen Mayr’schen Karte von Tyrol, die mir überall vom größten Nutzen war, und die ich in ihrer ganzen Ausdehnung, von Westen (Mailand, Comersee) bis Osten (Hallstadt, Traunsee) und von Norden (Augsburg) bis Süden (Oberitalien) durchreist habe, durchgezeichnet. Endlich lege ich euch das kleine Reiseskizzenbuch bei, das freilich eigentlich nur für mich, für den Zeichner selbst, für den sich an jedem Bleistiftstrich ein Heer von Erinnerungen der süßesten Art knüpft, Werth hat, während die übrigen Leute aus dem Geschnörkel und Gekrakel der natürlich immer in der größten Eilfertigkeit hingeworfnen Skizzen schwerlich klug werden dürften. Die meisten Skizzen stellen noch dazu nur die Umrisse von Gebirgsketten dar, die für mich in mehrfacher Hinsicht interessant waren. Indeß dachte ich doch, daß Einzelnes, z.B. namentlich die spätern Tyroler Ansichten, die Ortlerspitze etc Dir, lieber Papa, nicht ganz ohne Interesse sein würde. Später gedenke ich nach diesen Skizzen noch größere Landschaftsbilder auszuführen. Jetzt thut mirs oft recht leid, daß ich nicht noch mehr Skizzen aufgenommen habe. Sie sind doch eine gar zu liebe Erinnerung, und bei jedem Bildchen, es mag noch so unvollkommen sein, fällt einem die ganze, interessante Situation wieder ein, in der man seinen Abriß entwarf. Ich verfalle jedesmal beim Anschauen eines solchen Umrisses in eine ganze Suite von Reisegedanken. Das ist auch einer der großen Vortheile des Alleinreisens, daß man sich, falls es sonst die Zeit und Umstände erlauben, l hinsetzen und zeichnen kann, wann und wo man will. Überhaupt hat mir das Soloreisen im Ganzen so außerordentlich gut gefallen, daß ich bei künftigen Reisen immer wieder allein mich auf den Weg machen werde, falls ich nicht einen sehr intimen Freund zum Gefährten finde, der ganz meine Neigungen und Bedürfnisse theilt. Man wird dabei viel selbstständiger, wird mehr gezwungen mit andern Leuten zu verkehren und geht dabei viel mehr aus sich heraus. Auch ist es gar zu angenehm, ganz sein eigner Herr zu sein, zu gehen und zu ruhen, wie, wann und wohin man Lust hat, und an jedem Ort zu bleiben, so lange es einem gefällt. – ||

Den großen Abstich zwischen der schönen Reisebummelei und dem jetzigen medicininischen Studienleben habe ich immer noch nicht recht überwunden. Der Abstand ist aber auch gar zu groß. Dort das herrlichste freiste genußreichste Naturleben, und jetzt hier das todte, gebundne Stubenhocken und die stete Beschäftigung mit Sachen, die man am Ende doch nur pflichtmäßig treibt. Besonders fällt mir der Mangel an gehöriger körperlicher Bewegung sehr unangenehm auf. Wie frisch, frei und leicht fühlte ich mich immer, wenn ich so einen ganzen Tag tüchtig marschirt war. Da fühlte ich erst, daß ich einen ganz leistungsfähigen cadaver habe und daß die gehörige körperliche Übung und Thätigkeit auch die Seele „auf den Damm bringt“. Jetzt ist mir aber das schwerfällige corpus förmlich zur Last, und wenn ich mich auch sonst ganz gesund fühle, so empfinde ich doch das Bedürfniß stärkerer körperlicher Thätigkeit sehr lebhaft. Die einzige Bewegung, die ich jetzt habe, ist der poliklinische Stadttrab bei den Patienten in den verschiedenen Distrikten, wobei man die alte winklige Stadt zugleich ganz gründlich in- und auswendig kennen lernt. Diese Art der Praxis gefällt mir überhaupt ganz leidlich, wie denn innere Medizin mir noch am Meisten zusagt. Dagegen kann ich an der Chirurgie und Geburtshilfe noch gar keinen Geschmack finden. Bei letzterer prakticire ich jetzt ebenfalls und habe dadurch das wahrlich nicht sehr beneidenswerthe Vergnügen, zu den Geburten in der Entbindungsanstalt gerufen zu werden, was denn gewöhnlich grade Nachts eintrifft, wo andre ehrliche Leute den besten Schlaf genießen. So hatte ich gestern z.B. bis 1 Uhr gearbeitet, ging äußerst ermüdet zu Bett und hatte kaum eine Stunde geschlafen, als ich wieder gerufen wurde, wodurch ich über 2 Stunden beschäftigt wurde und erst m nach 4 Uhr wieder ins Bett kam, so daß ich summa summarum nicht ganz 4n Stunden geschlafen habe. So lernt man denn allmählich die Annehmlichkeiten des praktischen ärztlichen Lebens kennen. Jerum, jetzt o will ichp die Sachen mit Vergnügen aushalten, wenn ich nur nicht mein ganzes Leben damit zu thun haben soll. Die Chirurgie werde ich wohl bis Berlin aufsparen. Der hiesige Professor der Chirurgischen Klinik und Oberarzt am Juliusspital, Morawek, der erst vor 2½ Jahren aus Prag hieher berufen wurde, ist vorige Woche nach kaum 8tägigem Krankenlager an einer doppelseitigen Lungenentzündung plötzlich verstorben (mit acuter Stimmatrophie). Am 14/11 Abends wurde er höchst feierlich mit Fackeln zu Grabe geleitet. Ich trug dabei keine Fackel, da ich die Ehre hatte, zu einem der 8 Sargträger (die stärksten Leute, die jetzt in der Studentenversammlung anwesend waren) gewählt zu werden (wie Strube sagte „als ein junger Mann, der q auf einer Alpenreise in Tyrol vortreffliche Fertigkeit im Lasttragen erlangt habe“). Der Prof. und Dekan Narr hielt die Festrede, die noch unter dem Mittelmäßigsten zurückblieb. Über die Besetzung der Stelle ist man hier in großer Verlegenheit, da der Chirurg am Spital 1 Katholik sein muß. Wahrscheinlich kommt ein Assistent aus Wien her. Vorläufig wird Bamberger die Leitung der chirurgischen Klinik übernehmen; wir sind über den Ausfall dieses sonderbaren Versuchs sehr neugierig. Heute hat ebenfalls wieder ein großartiges Studentenbegräbniß stattgefunden, das einem der flottesten Chorburschen und dem stattlichsten und nobelsten Kerl der ganzen Studentenschaft, Dr. med. Platz, die letzte Ehre erwies. Er starb an Lungentuberkulose und Kehlkopfschwindsucht, zu der zuletzt Pneumothorax trat, wie die gestern gemachte Sektion, der ich ebenfalls beiwohnte, nachwies. Sectionen genieße ich jetzt überhaupt gründlicher. –

Da ich das Kistchen gern noch heut (19/11) Abend mit dem Postzug absenden will, damit ihr es richtig zum 22/11 erhaltet, so will ich jetzt schließen und verspare noch einige andre Mittheilungen auf den nächsten Brief, der euch wieder ein paar neue Tagebuchblätter liefern soll. Sehr rasch kann ich dieselben nicht vollenden, da die freie Zeit mir knapp genug zugemessen ist. –

Nun lebt recht wohl, seid an Papas Geburtstag recht vergnügt und vergesst dabei nicht euren alten Ernst, der so sehr gern bei euch wäre. Mimmi mit den lieben Jungelchens grüßt aufs allerherzlichste, ebenso auch Adolph Schubert, Tante Bertha und meine andern Freunde, Weißes etc. Ich bin recht neugierig, meine beiden Neffen mal wiederzusehen!

a gestr.: her; b gestr.: auch der; c eingef.: mich; d gestr.: geb; e gestr.: dieselbe; f eingef.: auf die; g eingef.: meinem; h gestr.: auch; i gestr.: sonderkbar; eingef.: sonderbaren; j gestr.: mit; eingef.: bei; k eingef.: wird; l gestr.: sich; m gestr.: gegen; n korr. aus: 3; o gestr.: ich; p eingef.: ich; q gestr.: sich

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
19.11.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37504
ID
37504