Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Ziegenrück, 4. Oktober 1853

Ziegenrück 4/10 53.

Meine liebste Alte!

So ist denn die schöne Zeit unseres Zusammenseins einmal wieder vorbei und ich muß wieder an Dich schreiben, was mir anfangs immer recht schwer wird, weil ich Dir alles gar zu gerne gleich direct mittheilen möchte. Indeß hat mir doch das Zusammensein mit meinen beiden lieben Geschwistern die schwere Trennung von euch diesmal etwas erleichtert, und es ist ja auch nett, wenn wir uns brieflich einander mittheilen können. Die ersten Tage nach eurer Abreise wollte alles gar nicht recht gehen; ihr fehltet uns überall; jetzt haben wir uns schon etwas wieder eingelebt. Der a Tag Eurer Abreise war für uns ein wahrer Pechtag. Nichts wollte recht gehen. Wir beide waren von dem kleinen Stückchen mit gehen bis zum Kreuz so total naß geworden, daß meine Haare (die sehr hygroskopisch sind) und unsre Röcke erst gegen Mittag trockneten. Übrigens beneideten wir euch nicht im Mindesten um eure Fahrt; ihr müßt ja in der engen Karrete wie die Heringe eingepöckelt gesteckt haben. Zu Mittag freuten wir uns recht, daß ihr nun behaglich in den schönen Waggons stecken würdet. Flink war so betrübt über Eure Abreise, daß er Mimmi 2mal etwas in die Eckstube bescheerte, worüber sie sehr ärgerlich wurde. Noch mehr Ärger hatte Karl, der, ehe er sich um 4 wieder zu Bett legte, Kaffee trank und nun nicht mehr schlafen konnte, dann einige verdrießliche Termine abzuhalten hatte und über das scheußliche Wetter schimpfte. Den meisten Kummer und das größte Pech hatte aber ich. Denn erstens waren über Nacht wieder 2 von meinen so glücklich || vermittelst künstlicher Frühgeburt ans Licht der Welt beförderten Salamänderchen gestorben, so daß ich von jenen 30 Embryonen nur noch 9 lebend habe. Zweitens hatte der eine Krebs während derselben Nacht seine edle Seele ausgehaucht und der zweite folgte ihm am Vormittag nach. Drittens endlich quälte ich mich den ganzen Vormittag vergeblich mit der Bestimmung eines allerliebsten Mooses ab, dessen Namen ich heute noch nicht weiß. Was war nun da zu machen? Brummend b kamen wir alle 3 zu Tisch und suchten jeder seine Verdrießlichkeit durch Raisonniren über den andern auszubaden. Ich bekam c natürlich das Meiste dabei ab, wie ich ja stets der Sündenbock der Häckelei gewesen bin; denn warum? Einer muß der wie [es] heißt?d Sündenbock sein. Indem daß nun Karl ein „Schatzchen und Mannchen“, Mimmi aber „ein nettes Frauchen“ ist, auf wen kann anders die Last des Unmuths fallen, als auf mein unschuldiges „unveröhlichtes“ Haupt? – Also kam es denn auch, und namentlich in Rücksicht darauf, daß wir zu Mittag nicht die „fernerweite gute Verköstigung“ sondern nur Allerlei Reste und Aufgewärmtes von den vorigen Tagen bekamen, gehörte dieser Mittag zu den Brummigsten. Ebenso ging es Nachmittag, wo wir im scheußlichsten Kothe (der Regen hatte bis Mittag immer fort gedauert) einen gemeinschaftlichen Spaziergang in das Dorf machten und auf dem Rückweg noch tüchtig naß wurden. Zu Hause angekommen gähnten wir und sahen uns gegenseitig recht langweilig an, bis endlich der Genuß einer starken Wassersuppe der Tragödie ein Ende machte, indem Karl gleich darauf auf dem Sopha, trotz aller Mühe, uns etwas vorzulesen, selig entschlummerte, und dann um 8 Uhr zu Bett ging. Mimmi folgte um 8½ ich um 8¾! – ||

Ihr seht also, wie die Entfernung von euch beiden lieben alten Leuten uns zunächst einen recht gräulichen Tag brachte. Den folgenden Tag ging es schon besser. Er fing gleich für mich mit einem sehr freudigen Ereigniß an. Der Doctor schickte mir nämlich eine allerliebste Schlange, die er unterwegs gefangen hatte. Der Thierchen ist allerliebst und wird schon ganz zahm, säuft z. B. beim Kaffeetrinken sehr nett Milch aus der Untertasse. Nachmittag fand ich selbst auf einem Spaziergang in der Sornitz viele Salamander, so daß ich jetzt das ganze Waschbecken voll habe. Nach dem Regen kommen sie massenweis hervor. Wenn ich erst ein paar Dutzend voll habe, will ich sie einmachen (nämlich in Spiritus, um sie mitzunehmen). e Am Sonntag fand ich wieder ein Paar in der 3ten Biegung des Saalthals nach der Linkenmühle zu. Es war Nachmittags sehr schön und ich machte mit Karl einen sehr weiten Spaziergang, in die Windungen desf Saalthals hinter dem Conrod, wo unten die Fischerhütte liegt. Wir genoßen ganz prachtvolle Blicke, wurden aber tüchtig naß, als wir unten weiter gehen wollten, da die Saale ausgetreten war. Als wir dabei über Felsen kletterten verloren wir unser treues Hausthier, das uns jetzt immer beim Spazierengehen begleitet. Denke Dir aber unsere Freude, als es uns, zu Hause angekommen munter entgegen sprang! Überhaupt beginnt Flink jetzt, da Mimmi täglich von seiner Abschaffung redet, immer mehr Talente zu entwickeln. So lernt er jetzt bei mir apportiren, auf den Hinterbeinen gehen, leblose Gegenstände anbellen etc. Am putzigsten macht er sich, wenn ich Salamander ihm vorsetzeg und er sie dann nur von ferne anbellt, aber nicht im Mindesten anzurühren wagt. – ||

Gestern Abend war ich mit Mimmi bei Doctors, während die Männer der gesammten Stadt sich über ihre Zusammenkunftstage im Winter vereinbarten. Es wurde beschlossen (hört, hört!!) daß sie (die Männer) viermal wöchentlich im Rathhause zusammen kommen wollten! (ungezwungen!) Den 15ten zu Königs Geburtstag wird hier großes Souper mit Tanzvergnügen sein, wozu auch ich als Prima donna „ankaschirt“ bin. Das wird großartig! –

Die täglichen Spaziergänge bekommen mir sehr gut. Ich fühle mich jetzt eigentlich sehr wohl, selbsth abgesehen von dem allerliebsten Leben hier, dessen Herrlichkeit ihr selbst nun kennen gelernt habt. Es sollte mir ordentlich Leid thun, wenn die Lieben nun schon so bald wieder aus Ziegenrück, diesem Urparadies der „uncivilisirten Menschheit“, fortkommen sollten, wie es bei dem schönen Anerbieten, das Karl heute erhalten hat, gar nicht unmöglich ist. Mimmi und mir scheint diese ihm so wie eine gebratene Taube zugeflogene Stellung eine sehr angenehme zu sein. Er versauert und verphilistert dabei nicht ganz hinter dem Aktentisch, i hat auch einj viel mannichfaltigeres und anziehenderes Feld für seine Thätigkeit. Die Beschäftigung dort würde ihm gewiß sehr zusagen, selbst abgesehen von der unabhängigen Stellung und den 1100 rℓ die er als Kreisrichter nach seiner eignen Meinung nie erdingen wird. Ich will euch hier nur das mittheilen, was der vortreffliche Cannabich in seiner 1829 erschienenen Geographie, die wir gleich nachsahen, von Stollberg sagt: [Briefschluss fehlt]

a gestr.: erste; b gestr.: gi; c gestr.: ja; d eingef.: wie heißt?; e gestr.: U; f korr. aus: dess; g korr. aus: vorsetzte; h eingef.: selbst; i gestr.: sondern; j korr. aus: eine

Brief Metadaten

ID
37477
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Preußische Provinz Sachsen
Datierung
04.10.1853
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,3 x 22,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37477
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Charlotte; Ziegenrück; 04.10.1853; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_37477