Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Ziegenrück, 16. März 1853, mit Nachschrift von Hermine Haeckel

Schloß Ziegenrück 16/3 1853

Liebste Eltern!

Ich kann mir lebhaft euer Erstaunen denken, wenn auf einmal statt eures Jungen, den ihr vielleicht jede Stunde erwartet, ein Brief von ihm bei euch ankömmt und zwar aus Ziegenrück! Ich selbst dachte noch vor 5 Tagen, noch als ich den letzten Brief an euch schrieb, nichts weniger, als daß ich jetzt in Ziegenrück sitzen würde! Es ist dies der erste Brief, den ich von diesem Sitze des Glücks der Herrlichkeit (sowohl in Hinsicht auf die Natur, a als auf die Menschen) an euch schreibe, und dadurch allein hoffe ich schon euren Unwillen zu besänftigen, falls ihr einen solchen über mein nun verspätetes Kommen zu euch hegen solltet. Völlig verzeihen werdet ihr mir aber, wenn ihr die Gründe meinerb Reiseplanveränderung, und meine Erlebnisse in den letzten Tagen vernehmt, durch die ich in mancher Hinsicht viel gelernt habe, vor allem aber Geduld. Die letztere (die liebe Geduld nämlich!) war mir am Donnerstag (10ten), als ich zuletzt an euch geschrieben, so völlig bis auf den letzten Rest ausgegangen, daß ich eine ziemlich schlaflose, aberc traumreiche Nacht hatte, in Folge derer ich zuletzt beschloß, mir alle Grillen in dend Wind zu schlagen, und e Sonnabend (12.) Abend von hier nach Halle abzureisen, dort eine Nacht und einen Tag zu bleiben, und dann Montag Abend euch zu überraschen. Ich packte also möglichst rasch mit meiner Wirthin meine Siebensachen zusammen und schreibe nach Merseburg, daß Weiß sich Sonntag Abend in Halle einstellen möge. Kaum ist dieser Brief fort, als ein Brief || von unsern liebsten Ziegenrückern kommt, worin mich vor allem Karl dringend ersucht, wenn es nur irgend möglich wäre, sie doch ja schon auf der Hinreise, wenn auch nur auf einen Tag zu besuchen, um meine Berufsangelegenheit vorher noch gründlich durchzusprechen, ehe ich in Berlin einen Entschluß faßte. Am Besten wäre es, wenn ich am 13ten Abends in Gefell sein und mich dort an den Kreisrichter Voigt, der am 14ten früh herführe, anschließen könnte. Da dies f mir so herrlich paßte, beschloß ich sofort, Karls Bitten nachzugeben, 2–3 Tage hier zu bleiben und dann nächsten Freitag in Berlin einzutreffen. Ich schrieb also Weiß gleich wieder ab und erkundigte mich in der ganzen Stadt, wanng ich wohl am besten von Würzburg abfahren könnte. Hier liegt nun der Anfangh und Ursprung alles des Pechs, das mich in den letzten Tagen geärgert hat. Es war nämlich in dem ganzen Nest kein Coursbuch, kein Fahrplan zu haben und ich mußte mich lediglich auf die ungenauen und falschen Angaben der Postbeamten verlassen. Wäre ich nur, wie ich erst nachher in Hof, zu spät erfuhr, Sonnabend Abend um 6 Uhr mit der Post direct nach Bamberg, statt Nachts um 3 Uhr erst nach Schweinfurt und von da per Dampf nach Bamberg, gereist, so wäre der ganze wohlberechnete Reiseplan vollständig geglückt. So aber folgte immer Pech auf Pech; ein Unglück auf das andere. Den Sonnabend verlebte ich übrigens noch recht hübsch. Früh hatte ich noch 5 Stunden bei Kölliker, die ganz herrlich waren: i in der ersten demonstrirte er die 12 Hirnnervenpaare, in der letzten den sehr interessanten situs viscerum, mit besonderer Rücksicht auf das peritoneum. Dazwischen gingen die meisten andern weg; nur ich blieb || zufällig mit noch einigen andern da und nun zeigte er uns eine Reihe der kostbarsten, herrlichsten und subtilsten microscopischen Präparate, die ihm aus allen Weltgegenden waren zugeschickt und dedicirt worden; besonders unübertrefflich waren Schliffe von verschiedenen thierischen Knochen- und Horntheilen, sowiej von einer großen Seemuschel (pinna), auch von vielen fossilen Knochen, ferner verschiedene Harnsedimente (reizende kleine Salzkrystalle) und viele andere Herrlichkeiten. Nachmittag packte ich noch meine 3 Kisten fertig. (N.B. Freitag Nachmittag hatte ich zum Abschied von der schönen Gegend noch einen herrlichen Spaziergang auf das „Käppele“ gemacht, wo ich mein erstes Lebermoos (Madotheca platyphylla) in Blüthe fand). Sonnabend Abend war ich bei Schenks allein, wo wir noch sehr heiter und lustig zusammen waren. Schon um ½3 Uhr ging ich nach rührendem Abschied von meiner guten Wirthin (die ganz trostlos war) auf die Post; diese ging aber erst um ¾4 (das ist bairische Ordnung!) ab und so kamen wir auf der schlechten Chaussée, von der noch kein Schnee weggeschaufelt war, beinah zu spät für den Zug nach Schweinfurt. Von Bamberg aus bekamen wir einen gräulich schleppenden Güterzug, der an jeder kleinen Station wenigstens ¼–½ Stunde anhielt. Um die Geduldsprüfung voll zu machen, fing in einem kleinen Neste lange vor Lichtenfels, in „Burgkunstadt“ die Axe des vor uns gehenden Waggons zu brennen an. Kaum war dieser Schaden geheilt und der Zug aus dem Bahnhof heraus, als eine Röhre an der Locomotive sprang und eine andere citirt werden mußte; da hatte ich dann mehrere Stunden Zeit, mir etwas Geduld zu kaufen, was mir auch durch Hülfe des trefflichen Mittels oder Geduldsrecepts, || das der Apotheker in „Herrmann und Dorothea“ angiebt, und das wirklich unfehlbar ist, trefflich gelang, wenn auch mit einiger Anstrengung. Meine Reisegesellschaft bestand nur aus oberbayrischen Auswanderern, die ebenso unverständlich als dumm waren, und so war ich gänzlich auf mein bischen Phanthasie angewiesen, die sich vergeblich bemühte, aus dem jämmerlichen Neste, um das ein paar Tannen herumstanden, sonst ringsum nur kahle Kalkfelsen, etwas zu machen. Statt um k 6 Uhr, kamen wir so um 8 in Hof an, wo ich mich rasch entschloß, da die einzige Post nach Gefell erst um 2 Uhr Mittags abgeht, noch mit einem Wagen nach Gefell zu fahren, das nur 2 Meilen entfernt ist. Unglücklicherweise gab ich diese Idee aber wieder auf, weil der Wagen um 9 Uhr (Abends) noch nicht angespannt war und ich glaubte, ich würde nun den Kreisrichter nicht mehr treffen, und dieser könnte mir früh vor der Nase wegfahren. Wie ich jetzt erfahre, ist er aber erst am Montag l früh um ½7 abgereist, so daß ich ganz gut mit ihm um 11 Uhr hätte hier sein können. Statt dessen übernachtete ich nun in Hof (im schwarzen Adler, eine Fuhrmannskneipe, die aber recht gut ist) und vertrieb mir am andern Vormittag Unmuth und Ungeduld sogut als möglich durch die Lectüre von Regnaults Chemie. Als ich um 2 Uhr Nachmittags in den Postwagen einstiegm, erkannte ich in dem Conducteur sogleich den alten mir wohlbekannten Merseburger Unterofficier wieder, welcher mit uns zusammen im Schiringschen Hause wohnte und mir nicht genug von dem kleinen Wildfang mit den herrlichen, langen blonden Locken zu erzählen wußte. Wir unterhielten uns sehr nett und gemüthlich über alte und neue Merseburger Verhältnisse. ||

Der Weg von Hof über Gefell nach Schleiz ist sehr interessant. Man fährt über einen der höchsten Theile des Mittelgebirgs zwischen Thüringer und Frankenwald, oft durch den schönsten dichtesten Wald von Weiß- und Roth-tannen, die überall dicht von einem Flechten- und Moospelz (vermutlich Usnea barbata) überzogen sind. Dazwischen öffneten sich immer rechts und links herrliche Durchblicke in schöne anmuthige, flache Thalkessel und Gründe in denen dunkle Nadelwälder anmuthig mit den beschneiten Bergabhängen contrastirten. Durch zusammenhängende Dörfer (ausgenommen Gefell selbst) kamen wir nicht. Die Hütten liegen einzeln zerstreut, hölzernen Blockhäusern gleich, wie überall in den nordischen Gebirgsgegenden. Um 6 Uhr kamen wir in Schleiz an, einem ganz erbärmlichen Neste, das ich n kurz nicht besser bezeichnen kann, als wenn ich o es mit einer etwas verbesserten und vermehrten Auflage von unserm theueren Schkopau vergleiche. Die erbärmlichen Lehm- und Stroh-hütten dieser „deutschen Residenz“ der Schmutz, der nicht minder auf den Gesichtern der schielenden und schreienden Kinder, als im ganzen habitus der Natur- und Kunstproducte sichtbar war, erinnerten mich wirklich lebhaft daran. Nun kommt aber erst das Pech der Peche, die mich auf dieser abentheuerlichen Reise begleiteten. Von Schleitz nach Ziegenrück geht keine Post und trotzdem die beiden Löcher nur 3 Stunden entfernt sind, und ich bis 3 rℓ bot, wollte sich doch niemand finden, der mich heute Abend noch dahingefahren hätte und ich war also zu meinem grösten Ingrimm und Wiederwillen gezwungen, noch einmal zu übernachten und zwar ebenso schlecht, als theuer. Ich hatte mich nun den ganzen Tag darauf gefreut, wie hübsch das sein würde, wenn ich meine lieben || Ziegenrücker Abends spät auf ihrem Schlosse überraschte, und nun mußte ich, so nah dem Ziele, darauf verzichten. Immer kamen mir die Worte in den Sinn: „da lieg‘ ich rettungslos und muß verschmachten; das nahe Rettungsufer im Gesichte“ und was dergleichen Blödsinn mehr ist. Das einzige, was ich von dieser höchst ärgerlichen und fatalen Geschichte gehabt habe, ist, daß ich eine Nacht im Deutschen Reiche: sage: im einigen Deutschland!! übernachtet habe; wenn ihr dies Wunder nicht begreifen solltet, so brauche ich euch bloß zu sagen, daß an allen Gränzen und Zollämtern des Schleizer Fürstenthums schwarzrothgoldene Schlagbäume in der schönsten Blüthe prangten. Gestern (Dienstag, an des „Märzen idus“) früh endlich hatte ich das kaum glaubliche Glück, vermittelst eines 2 rℓ kostenden Zweispänners (ebenfalls schwarzrothgolden!) wirklich nach Ziegenrück zu gelangen, und zwar um 8 Uhr. Der Weg dahin ist aber wirklich auch im höchstenp Grade romantisch, und ich kann es den Schleizern nicht verdenken, wenn sie ihrem Leben zu Liebe, die Abendfahrt verweigerten; jedenfalls kömmt man rascher zu Fuß, als zu Wagen hin. Meist führt die Spur (denn Weg kann mans eigentlich nicht nennen) durch dichten Tannenwald, und abwechselnd mit diesem über tiefes Bruchland und mit Moos verdeckten Sumpfboden, dann wieder durch enge, ganz verschneite Hohlwege, längs hoher Felswände hin, wo an der andern Seite 1 wilder Bergbach hinrast, Bergauf, Bergab, kurz, wie sichs q ein Abenteurer nur wünschen kann. Trotzdem r 2 starke Bauernpferde die leichte „Kibitka“ fuhren, blieben wir doch ein paar Mals vollständig in tiefem Schlamme stecken, und 17 mal || (sage: siebenzehnmal) waren wir dem Umschmeißen so nahe, daß ich ganz zum Sprunge mich bereitet und nur durch Herüberwerfen des schweren Koffers auf die andere Seite das Gleichgewicht erhalten konnte. Da es übrigens eint herrlicheru, ganz klarer Winterfrühlingsmorgen war, machte mir die ganze halsbrechende Tour doch viele Freude und v [ich] fühlte mich vollständig im Deutschland vor 1000 Jahren, in einen Urwald mit seinen Wundern und Abenteuern, versetzt. Auch fand ich am Wege in großer Menge eine niedliche, rosenfarbene Flechte, die schöne Baeomyces rosea, die meist grade an den gefährlichsten Stellen dieser Bergstraße, w gegen die wirklich „ein Studenten- und Schweine-Weg“ nichts ist, wuchs. An den tiefsten Sumpfstellen, über die eine zarte Eiskruste nächtlich hingefroren war, waren ganz einfach ein Dutzend Tannen mitsammt allen Ästen und Zweigen abgebrochen und über den Weg quer herübergelegt, so daß der Wagen ganz elastisch über sie wegschwebte. Obgleich so die ganze Tour sehr interessant und die Krone von der ganzen mislungenen Reise war, war ich doch herzlich froh, als mir um 8 Uhr früh die Zinnen des Ziegenrücker Schlosses entgegenschimmerten und ich dankte meinem Gott, daß ich mit gesunden Gliedern das Ziel glücklich erreicht hatte. Übrigens bin ich durch x meine Aufnahme hier bei meinen liebsten Geschwistern und durch unser äußerst glückliches und nettes Zusammensein vollständig für alle Unannehmlichkeiten und Geduldsprobe der Herreise entschädigt und bereue sie keinen Augenblick. Ihr werdet es daher gewiß auch vollkommen billigen und begreiflich finden, liebste Eltern, wenn ich nun noch einige Tage hier bleibe, || und erst Mittwoch (heute über 8 Tage)y oder Gründonnerstag bei euch eintreffe. Ich bleibe dann natürlich um so länger bei euch, werde mich aber auf der Hinreise in Halle gar nicht aufhalten, sondern erst die letzten 8 Tage für Halle und Merseburg aufsparen. Für Berlin behalte ich so 4 Wochen. Meine Bekannten werde ich nun leider freilich großentheils nicht mehr sehen; aber es ging nun doch nicht anders; grüßt sie recht herzlich von mir und sagt ihnen, wie leid es mir thäte, daß ich sie nicht mehr sähe; aber, item, es ist so! Karl werde ich erst von Freitag an genießen und mich mit ihm ordentlich besprechen können; jetzt hat er noch den ganzen Tag Sitzung. Wie glücklich wir 3, und insbesondere mein liebstes Ehepaar ist, kann ich euch nicht beschreiben; wir sind in höchstem Grade vergnügt und selig zusammen, mir thut die Ausspannung und Muße nach dem langen anhaltenden Sitzen, besonders den Anstrengungen der letzten Wochen, sehr wohl; alle Bücher liegen in der Ecke; höchstens wird ein bischen Gervinus angesehen, und dann miscoscopirt, besonders Moose, deren es hier ganz allerliebste giebt. Gestern fand ich reizende Polytricha und Hypna in dem wunderhübschen Sornitzthale, einem wilden, romantischen Waldthale mit übermüthigem brausendem Bergbache, in dem ich mit Mimmi spazieren ging. Alles tönt hier: „Wald, Berg, Wasser, Luft“ kurz alle Elemente in der schönsten Harmonie. Die Gegend ist wirklich über alle Beschreibung; ebenso unübertrefflich nett und reizend ist aber auch die ganze Einrichtung von Kreisrichters. Beschreiben läßt sich das nicht, ihr müßt selbst kommen und sehen! Wie unzähligemal haben wir euch und Tante Bertha schon hergewünscht; am leidsten thut es uns, daß letztre nicht auch dies himmlische Glück mit genießen kann. Ich hoffe immer noch, daß sie wieder so weit besser wird, daß sie auch noch herfahren kann (zumal da nun die Chaussée nach Pösneck fertig ist, und dann! --------- Grüßt sie aufs herzlichste von unserm netten, geschwisterlichen Trio, in dem wir stets eurer und ihrer gedenken, und in dem auch ich stets bleibe, euer treuer alter Junge Ernst Haeckel. – Alles andre und ausführlicher mündlich; beschreiben läßt sich die hiesige Herrlichkeit zu schwer, namentlich schriftlich. Mit dem schönen Wetter scheint es gestern alle geworden zu sein. Diese Nacht hat es wieder alles dick beschneit. Aber auch im Schneekleid ist die Gegend ganz reizend.z

[Nachschrift von Hermine Haeckel]

Herzlichen Gruß von Karl und mir Euch, Ihr lieben Eltern. Ernst ist so selig, daß er nun doch der Erste ist der uns besucht. Er sieht sehr wohl aus und behauptet er sei entsetzlich leichtsinnig geworden.aa

a gestr.: f; b korr. aus: meines; c gestr.: und; eingef.: aber; d korr. aus: aus dem; e gestr.: Sonntag Abend; f gestr.: d; g gestr.: wie; eingef.: wann; h korr. aus: Anfangs; i gestr.: Fr; j gestr.: ferner; eingef.: sowie; k gestr.: 8; l gestr.: V; m korr. aus: einstiegen; n gestr.: in; o gestr.: etw; p korr. aus: höchstens; q gestr.: in; r gestr.: ich; s korr. aus: Maal; t eingef.: ein; u korr. aus: herrliches; v gestr.: sel; w gestr.: die er; x gestr.: das; y eingef.: (heute über 8 Tage); z Text weiter am linken Rand von S. 8 durchgehend bis S. 5: nicht auch dies himmlische … ganz reizend.; aa Nachschrift am linken Rand von S. 1: Herzlichen Gruß … leichtsinnig geworden.

Brief Metadaten

ID
37462
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Preußische Provinz Sachsen
Datierung
16.03.1853
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,7 x 23,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37462
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst; Haeckel, Hermine an Haeckel, Carl Gottlob, Haeckel, Charlotte; Ziegenrück; 16.03.1853; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_37462