Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 21. Dezember 1852

Würzburg, 21a/12 1852

Liebste Eltern!

Gestern (Montag) Nachmittag erst erhielt ich euren lieben Brief, den ich sehnlichst erwartet hatte. Eure Sorgen in Betreff der Wohnung sind dadurch überflüssig geworden, daß ich schon vorige Woche eine neue gemiethet hatte. Sie befindet sich im I. Distr. No 358b, nicht sehr weit von der jetzigen und besteht aus einer zwar kleinen, aber sehr gemüthlichen Stube, mit einer Kammer daneben, die fast ¾ so groß ist. Sie hat zwei Fenster und ein nettes Ameublement; die Miethe beträgt nur 5 fl. da sie mir das Mitbringen des eignen Bettes für 1 fl angerechnet haben. Die Aussicht ist freilich nicht sehr schön, auf ein enges und finstres Gässchen, so daß ich fast (wie in der alten Reichsstadt Frankfurt) meinem Nachbar gegenüber die Hand reichen kann. Aber nach freier und reiner Luft sucht man in ganz Würzburg vergebens, außer im Hofe des Hospitals, im botanischen Garten und im Mainviertel drüben, wo die armen Schiffersleute wohnen, das aber auch sehr entlegen ist. Die Fenster liegen gegen Westen. Es ist freilich eine Treppe hoch; aber an Parterrewohnungen ist hier auch, jetzt zumal, nicht zu denken. Ich habe über ein Dutzend Wohnungen, fast alle, die grade frei waren, angesehen; sie gefielen mir aber alle weit weniger. Die Wirthin ist Rentsamtsdienerswittwe und heißt „Mueller“ (schon ein gutes Omen!) sie scheint sehr ordentlich,c wirthschaftlich und sorgsam zu sein. Auch zeigte sie mir in ihrem Zimmer ein paar Dutzend Silhouetten von Studenten, die während einiger 20 Jahre hier gewohnt hätten. Sie scheint auch schon einige 50 Jahre alt zu sein. ||

Bei dem Herumlaufen nach den Wohnungen habe ich auch gesehen, daß ich meinem Knie noch gar nicht viel bieten darf. Ich hatte nämlich am folgenden Tage fast bei jedem Schritte Schmerzen unterhalb der Kniescheibe, (an dem ligamentum patellae proprium), worüber ich einen heidnischen Schreck bekam. Da ich aber den Fuß nun sehr schonte, und möglichst ruhen ließ, waren die Schmerzen schon am 2ten Tage danach ganz verschwunden. Im übrigen incommodirt er mich nicht; nur daß ich ihn, wie gesagt, noch gar nicht anstrengen darf. Ich trage jetzt das 2te Pflaster und werde bald das dritte auflegen; Musik macht das Knie nach wie vor.

– Was meine „Lebensfrage“ betrifft, so denke ich, wir wollen uns das weitere Hin- und Herschreiben darüber ersparen und es auf die mündliche Besprechung zu Ostern verschieben. Die Hälfte der sauren Trennungszeit ist ja nun schon vorbei. Was übrigens den Gedanken des Schulmeisterns betrifft, so finde ich denselben gar so übel nicht wie du, lieber Vater! Einmal sind wir ja doch nicht auf dieser Erde, um ein anmuthiges und angenehmes Leben zu führen. Wenn man nur sein tägliches Brod hat, kann man sich genügen lassen. Das Wiederkäuen ein- und desselben Gegenstandes vor den immer neu auftretenden Schülern ist allerdings auf die Dauer eine traurige Sache; aber bedenke nur, daß die akademischen Lehrer fast in demselben Falle sind. Und dann, wie ungewiß und zweifelhaft ist eine d akademische Karriere, wenn einer nicht entweder ausgezeichnete Talente oder bedeutende Mittel hat! Sodann hat mir aber Lavalette eine ganze Reihe von Beispielen aufgeführt, von solchen Lehrern, welche fast nur || in ein paar naturwissenschaftlichen Fächern, z. B. Botanik und Zoologie, oder Chemie und Physik, gut beschlagen waren, und alsbald an rheinischen Realschulen, wo solche sehr gesucht werden, eine sehr angenehme und dabei nichts weniger, als dürftige Stellung bekamen. An eine praktisch chemische Laufbahn ist bei meiner ganz antipractischen Anlage dazu nichte zu denken. O gerum praxis!! Den noch übrigen Theil dieses Semesters werde ich übrigens noch ganz der Anatomie widmen, da neben dieser doch keine Zeit zu was Anderm übrig bleibt, und dann wollen wir zu Ostern sehen! Wenn mir die praktische Richtung nicht gänzlich abginge, so blieben mir in unserm practischen Zeitalter viele Wege offen! –

Wie ich aus eurem Briefe ersehe, scheint ja das ganze männliche Kleeblatt der Häckelei mit seinen Zähnen zu thun zu haben. Das jüngste treibt es aber doch am ärgsten und hat dabei auch die meiste Aussicht auf fernere Zahnleiden; Du, mein lieber Alter, wirst Dir wohl nicht viel Zähne mehr herausnehmen lassen zu brauchen; aber was steht mir noch Alles bevor. Fast die ganze, vorige Woche haben mich meine Kiefer in gelinder Verzweiflung erhalten; Sonnabend ging ich endlich zum Zahnarzt und ließ mir die 4te und hoffentlich letzte Wurzel von dem alten, untern, linken Backzahn ausziehen, an dem schon Dürbeck vergeblich, und Franz mit halbem Erfolg seine Kräfte probirt hatte. Nun gab sich zwar die eine untere Geschwulst, aber es blieben noch 2 harte im Oberkiefer. Da ist nun heute auch der dritte (mittlere) Backzahn im linken Oberkieferf ausgezogen worden, ein riesiger Kerl mit gewaltigen g Wurzeln, von denen die eine (ein seltner und merkwürdiger Fall!) an ihrer

Spitze, am Ende cariös angefressen war. || Schon seit mehr, als einem Jahr hatte ich an diesem Zahn in Perioden fast täglich ein neues, kleines Geschwür gehabt. Das wird h nun wohl auch Ruhe haben! Endlich schnitt mir der Herr Zahnarzt noch mit einem Messer in das Zahnfleisch des rechten Oberkiefers, weil er dachte, es sollten Abscesse aus der Geschwulst herauskommen; es fand sich aber merkwürdiger weise nichts, die harte Anschwellung blieb, und er weiß noch nicht, was er damit anfangen soll; der schöne Schnitt war vergeblich! (N.B. Solche naturhistorische Merkwürdigkeiten sind noch das Beste an mir; wie z. B. auch, daß ich mit dem linken Auge in das Microscop sehen kann, während ich mit dem rechten das Gesehene abzeichne, worüber neulich (in der microscopischen Anatomie) der Docent, Herr Leydig, mitten im Kolleg, in das höchste Erstaunen gerieth, weil er das noch nie gesehen; auch sehen die allermeisteni nur mit dem rechten Auge in das Microscop. Übrigens fühle ich doch auch wie esj, namentlich Abends, die Augen angreift.) Je mehr ich natürlich bei den bösen Zahngeschichten standhaft und ruhig erscheinen mußte, desto mehr jammerte ich verzweiflungsvoll im Innern, wie ihr leicht denken könnt; gut, daß es vorüber ist! –

N.B. Bei „Microscop“ fällt mir ein, daß eure Kasse sich am Ende schon nächstes Jahr gefaßt machen muß, einen schönen Schück oder auch (dies jedoch weniger; zwar sind sie billiger, aber nicht so solid) Oberhäuser für die kleine Summe von circa 50 Thälerchen (wenigstens!) anzuschaffen!! – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Doch über diesen Gegenstand später mündlich mehr; jetzt nicht davon! –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – ||

Die Anwesenheit des Kaisers von Östreich wird Dir grade auch nicht sehr angenehm sein, mein liebes Alterchen; Du möchtest ihn lieber, wie auch die gesammten Junker, auffressen; es ist aber unverdauliches Zeug, wie geronnenes Eiweiß; nimm dich damit in Acht! Und was höre ich; Mammachen ist bei der Parade gewesen? Das ist wohl auch das erste und letzte Mal. Wir hören, sehen und lesen hier von solchen Dingen fast gar nichts. Nur heute hörte ich zufällig, daß unser jelübter König dem Kaiser bis Jüterbogk entgegengefahren. – Dagegen k haben wir hier in voriger Woche einen Hauptspectakel gehabt, von dem ihr vielleicht in den Zeitungen gelesen habt. Eines schönen Abends gehen ein paar Studenten Melodien summend und pfeifend vor dem Theater auf und ab. Plötzlich kömmt ein Herr Lieutenant, Lissignolo mit Namen, bezieht das Pfeifen auf sich und ruft: „Hee! Hee! Lausbuben, leckt mich am –ern.“ Hierauf sagt ganz ruhig ein dabei stehender Rechtspraktikant: „Sie elender Tropf, Sie!“ Worauf mein Monsieur Officier ohne Weiteres den Degen zieht, erst den letztern tief in den Arm, dann auch einen der Studenten gefährlich in den Kopf verwundet, bis er von einem herbeikommenden andern Officier entwaffnet wird. Dieser Vorfall versetzte natürlich die ganze Stadt insbesondre aber die gesammte Studentenschaft (selbst mich nicht ausgenommen!) in die höchste Aufregung, und in den folgenden Tagen wurden mehrere Studentenversammlungen abgehalten, an denen alle 725 Kommilitonen theilnahmen. Hier ging es äußerst stürmisch her; unter anderm wurden auch viele verrückte Vorschläge gemacht: z. B. alle Studenten zu bewaffnen, oder in chorol aus Würzburg auszuziehen. Endlich wurden 2 große, von allen unterzeichnete Adressen, an den Senat, aufgesetzt, in deren ersten er um sofortige Entfernung || des Lieutenant Lissignolo dringend gebeten wurde (diese ist dann auch geschehen, nachdem er noch vorher in einem Duell mit einem andern Officier einen tüchtigen Hieb über den Kopf bekommen hatte! Es ist übrigens derselbe, scandalöse Mensch, der vor 2 Jahren eine ähnliche Geschichte hier machte, als er dann von einem Studenten gefordert wurde, diesen denuncirte, worauf er relegirt, und ein altes Gesetz wieder aufgefrischt wurde, nach welchem ein Student bei Strafe der Relegation weder einen Officier beleidigen, noch auch, von ihm beleidigt, ihn zum Duell fordern darf!) Die zweite Adresse an den Senat betraf die Restitution alter Privilegien, namentlich der Legitimationskarten, welche Rechte neuerdings vielfach, besonders durch Polizeisoldaten, beeinträchtigt worden waren. – Es hat dies zur Folge gehabt, daß sogleich eine Deputation des Senats (an ihrer Spitze Scherer) nach München geschickt wurde. Sie soll indeß wenig ausgerichtet haben, weßhalb noch immer ungeheure Aufregung herrscht, namentlich da die Stadt stillschweigend in halben Belagerungszustand versetzt wurde; ich bin neugierig, wie das endet! –

Nun noch ein Paar Worte über das Weihnachtsfest; feiert dasselbe recht vergnügt beim Großpapa, den ich sowie Tante Bertha, herzlichst grüssen lasse. Denkt dabei auch an euren armen, einsamen Jungen, der in Gedanken stets bei euch ist. Was die einliegenden Bilder betrifft, so ist das von Würzburg allerdings nichts weniger als schön; aber ich konnte trotz alles Suchens kein andres bekommen. Es ist gesehen von einem Hügel aus, der grade über dem herrlich gelegenen Kloster „das Käppele“ liegt, dessen 3 Thürme man rechts in der Ecke sieht. Links im Vordergrund liegt die Citadelle. ||

Das Bild von Alexander von Humboldt ist allerdings lange nicht so schön und fein, namentlich nicht so ruhig, wie das Original, geworden; indeß wünsche ich mir, daß ihr die unendliche Liebe herauserkennt, mit der ich bei jedem Strich eurer gedacht habe. Sehr m gern hätte ich auch für Großvater und Tante Bertha was gezeichnet; allein die Zeit war wirklich in den letzten Wochen so arg beschränkt daß ich Mühe hatte, mit dem Humboldt fertig zu werden. Sagt ihnen, daß ich auch an sien dabei gedacht habe! –

Sehr leid thut es mir, daß ich mein Ziegenrücker Päärchen nicht habe zu Weihnachten besuchen können; ich hätte das gar zu gern gethan, namentlich, da sie mich noch sehr freundlich dazu eingeladeno hatten. Die Hinderungsgründe habe ich Tante Bertha geschrieben. So werde ich das Fest sehr einsam und still für mich feiern, aber recht in Liebe eurer gedenken und im Geiste bei euch sein; Bertheau und viele andere reisen nach Hause; o die Glücklichen! –

Morgen wird Bertheau seinen Vortrag im Kränzchen halten und mich noch einmal mitnehmen. –

Nun nochmals die herzlichsten Grüße! Auch an Weißens, das Kränzchen! p, an die Vettern (namentlich Theodor!) u.s.w. Wenn Berkens noch da sind, grüßt sie auch recht schön, namentlich meine Pseudo-Braut Hermine! –

Wenn ihr noch vor Mitte nächster Woche schreibt, so addressirt den Brief nur noch q wie bisher, da ich wahrscheinlich erst den 29sten (trotz alles Sträubens meiner Wirthsleute, die mich partout behalten wollen) umziehen werde. Von da an ist die Adresse: District I No: 358.

Nochmals tausend Grüsse und Küsse von eurem treuen alten Jungen E. H.

Recht frohes Weihnachtsfest!

a korr. aus: 0; b gestr.: 385; eingef.: 358; c gestr.: und; d gestr.: aus; e korr. aus: nichts; f gestr.: e; g gestr.: zü; h gestr.: sich; i korr. aus: allerst; j eingef.: wie es; k gestr.: wir; l gestr.: Studenten; eingef.: Officier; m gestr.: geh; n korr. aus: Sie; o korr. aus: eingelassen; p eingef.: das Kränzchen!; q gestr.: an

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
21.12.1852
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37452
ID
37452