Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Ziegenrück, 25. April 1855 – Würzburg, 28. April 1855

Ziegenrück 25/4 1855

Meine lieben Eltern!

Wie ihr euch gewiß schon von selbst gedacht habt und wie es auch nicht anders zu erwarten ist, habe ich hier bei meinen lieben Geschwistern in der herrlichen Gebirgsnatur sehr glückliche Tage verlebt, so daß es mir recht leid ist, morgen dieses mein Sans-souci schon wieder verlassen zu müssen. Nachdem ich nun ein volles Jahr lang keinen Berg und auch keinen ordentlichen Wald gesehen, thut mir der ungestörte Genuß dieser Hauptzierden der Natur außerordentlich wohl, und ich sehe jetzt wieder recht, wie eng mir die Natur auch im Großen und Ganzen ans Herz gewachsen ist.

– Die schöne freie Zeit, welche mir hier jetzt zu Gebote stand, habe ich theils zum frischen, frohen Genuß der Gebirgswälder, theils dazu benutzt, wieder einmal Etwas im Zusammenhang zu lesen, wozu ich jetzt so lange Zeit nicht gekommen war. Zu letzterm Zweck hatte ich mir Carl Vogts Lehrbuch der Geologie und Petrefactenkunde (nach Elie de Beaumonts Vorlesungen bearbeitet) mitgenommen, welches ich mit dem lebhaftesten Interesse von A-Z durchstudirt habe. Ich hatte bisher über Geologie nur immer zerstreute Einzelheiten (namentlich von Burmeister und Cotta) gelesen. In diesem Buche (das mit der gewohnten Klarheit und Eleganz der Feder, welche Carl Vogts Schriften überhaupt einen hohen Reiz verleihen, sehr hübsch geschrieben ist) trat mir zum ersten Male die herrliche Wissenschaft der Geologie im Großen und Ganzen entgegen. Wie sehr bedaure ich jetzt, nicht früher in Berlin daran gedacht zu haben, mich mit diesem Felde der Naturforschung näher bekannt zu machen, wo mir die schöne geologische Sammlung so sehr zu Statten gekommen wäre. ||

Wo soll man aber auch die Zeit her nehmen, in alle die verschiedenen Fächer der alma scientia tiefer einzudringen, von denen jedes einzelne schon ein Menschenleben für sich in Anspruch nimmt! Mit der Geologie muß ich aber durchaus noch näher vertraut werden und ich habe mir bestimmt vorgenommen, daß dies die erste Aufgabe sein soll, wenn ich wieder in Berlin bin und die verhaßte Medicin im Rücken habe. Natürlich ist es vorzüglich der paläontologische Theil der Geologie, die Petrefactenkunde, (die Lehre von den Thieren und Pflanzen, welche vor der jetzigen Bildungsepoche der Erde dieselbe bevölkerten, und deren Reste nur noch versteinert da sind), welcher mich besonders anzieht und welcher auch eine nothwendige Ergänzung der systematischen Zoologie und Botanik ist, indem man ohne die Kenntniß dieser vorweltlichen Organismen, welche vollständig und wesentlich die Reihe der jetzt noch lebenden Thiere und Pflanzen ergänzen, sich keinen ordentlichen und vollkommnen Überblick über den Kreis der letztern erwerben kann. Viel weniger zieht mich natürlich der eigentlich geognostische Theil oder die Lehre von den verschiedenen Gesteinen, die unsre feste Erdrinde zusammensetzen, an, da mir hier leider die nothwendigen Kenntnisse aus der Mineralogie fehlen, welche wiederum ohne mathematische Vorkenntnisse nicht betrieben werden kann. Der Mangel an letztern ist ein Hauptfehler meiner ganzen naturwissenschaftlichen Ausbildung und ich habe namentlich in letzter Zeit, wo ich dies mehr eingesehen, recht oft die starre Einseitigkeit des Merseburger Gymnasiums verwünscht, wo wir, statt ordentliche Unterrichtung und Anleitung in der Mathematik zu empfangen, mit unverdaulichen philosophischen Brocken und höchst unfruchtbaren und dürren lateinischen Stylübungen gequält wurden. Dieser große Mangel wird aber schwerlich noch zu ersetzen sein, und ich werde wohl Zeit meines Lebens in anorganicis ein Stümper bleiben, zu meinem großen Nachtheil! – ||

Übrigens war mir auch in anderer Beziehung a (als in der paläontologischen) das Studium des geologischen Lehrbuchs höchst anziehend, lehrreich und wichtig, indem ichb darin ausführliche Belehrung über viele Naturwunder gefunden habe, welche ich auf meiner Alpenreise antreffen und nun mit noch einmal so viel Verständniß werde anschauen können, so namentlich die Gletscher und die allgemeinen orographischen Verhältnisse der Thal- und Gebirgsbildung. Übrigens werde ich mich in diesem Sommer noch genauer über diese geologischen Verhältnisse, namentlich in den Salzburger und Tyroler Alpen zu orientiren suchen, da ich dann meine Reise gewiß mit doppeltem Nutzen und Verständniß machen werde. – Das Studium dieses höchst anziehenden geologischen Lehrbuchs nahm bis heute fast alle Vormittage vollständig ein, so daß mir außerdem zum Lesen fast keine Zeit blieb und ich nur Abends noch etwas Goethes Leben von Viehoff durchlaufen und einzelne Episoden aus Wahrheit und Dichtung recapituliren konnte. Auch dies hat mir, nachdem ich solange Nichts der Art gelesen hatte, großen Genuß gewährt, namentlich aber dazu beigetragen, meinen nun schon seit ½ Jahre in beständigem Wachsen und Aufblühen begriffenen Lebensmuth von Neuem zu stählen und anzufachen. Wenn ich sehe, wie selbst ein so eminenter Genius, wie Goethe, so lange, lange Zeit, und gerade auch seine schönsten Jugendjahre hindurch, bis nach der Universitätszeit, in beständigem Kämpfen und Ringen mit der umgebenden Außenwelt sowohl als mit seinem eignen Innern c, über sich selbst im Unklaren war und lange Zeit hin und her schwankte, ehe er zu einer festen und gewissen Richtung seines Strebens und Handelns kommen konnte, und wie dann doch zuletzt seine reichen Geistesblüthen sich aufs herrlichste entfalteten, dann fange auch ich an, neuen Muth und neue Kraft zu schöpfen und zu hoffen, daß in dem allmählichen Entwicklungsgange meiner Natur auch mein ernstes und dauerndes Streben, wenn ich es mit d männlicher Energie verfolge, nicht fruchtlos sein wird. || – Die Nachmittage meines hiesigen Aufenthalts habe ich meist zu Excursionen in die so mannichfaltig reizenden Waldthäler der schönen Umgebung benutzt, wobei mich Karl meist begleitete. Die ersten 6 Tage war hier auch das schönste warme Frühlingswetter, das man sich nur wünschen kann, beständig ganz klarer, wolkenloser Himmel mit dem herrlichsten, warmen Sonnenschein. Namentlich an den 3 letztern Tagen war es so außerordentlich warm (in der Sonne bis 20° R) daß ich den ganzen Vormittag unten vorn im Garten liegen konnte, die rauschende Saale am Fuße des Schloßbergs unter meinen Füßen und gegenüber die malerische Hemmkoppe. Nach dem langen kalten Winter that dieser warme Sonnenschein e sehr wohl und auf dem grünen Rasen las sich die Geologie noch einmal so gut, als drinnen in der Stube, obwohl auch diese mit der schönen Aussicht aus beiden Fenstern höchst gemüthlich ist (Es wird nämlich schon seit Weihnachten nur Hermines Stube bewohnt.).

– Eine größere Excursion machte ich am 18/4 (Mittwoch), indem ich durch den Sornitzgrund nach Paska ging, von wo aus ichf über 2 durch 1 tiefe Schlucht getrennte Bergkämme in einer reizendes, mir bis dahin unbekanntes Waldthal, den Schlingengrund, gelangte. Diesen verfolgte ich längs eines wilden, brausenden Gebirgsbachs bis nach Gössitz herauf, von wo ich dann bis zur Schlingenmühle an der Saale hinabstieg. Von hier versuchte ich, auf einem ziemlich gebahnten Wege längs der Saale hinzugehen; allmählich erwies sich aber dieser als ein echter Holzweg und hörte schließlich ganz auf, so daß ich, fast am Fuße des Lasterbergs angelangt, gezwungen war, diesen hinaufzuklettern, was keine kleine Arbeit war, da der an dieser Stelle sehr steile und fast kahle, mit lockerm Schiefergeröll bedeckte Abhang unter einem Winkel von 50–55° 200' hoch anstieg, so daß ich nur mit Mühe und Noth mich an die spärlichen Sträucher anhaltend nach ½ Stunde schweißtriefend oben anlangte und so müde war, daß ich mich kaum nach Hause schleppen konnte, wo ich erst spät eintraf. ||

Die bedeutendste und lohnendste Excursion, welche fast einen ganzen Tag in Anspruch nahm, machte ich Montag (23/4), wo ich den reizenden, romantischen Otterbach, welcher bei mir unter Allen den schönen, wilden Gebirgsbächen in der Umgebung, selbst meinen Liebling, die Sornitz, nicht ausgenommen, den ersten Rang einnimmt, bis nahe an seine Quellen verfolgte. Es war ein sehr schöner, sonniger, nur etwas kalter Tag, indem es die Nacht stark gefroren hatte. Das erste Stück des Weges, bis hinter die neue, aus fünf Bogen (deren 6 Pfeiler schon fertig sind) bestehende, schöne, hohe Brücke über die Saale, begleitete mich Karl. Dann ging ich allein die schöne, neue, von da aus fortgeführte und noch im Bau begriffene Chaussée, welche hinter der Hemmkuppe nach Liebschütz herauf steigt, fort, bis mich der Weg nach dem Ottergrund einen steilen Abhang rechts hinunter und dann 1 Stück längs der Saale hinführte. Ich ging nun recht seelensvergnügt in der schönsten Waldeinsamkeit, die nur von dem Toben der wilden Otter und ihrer zahlreichen kleinen Wasserfälle unterbrochen wurde, das enge Waldthal hinauf. Die Strecke bis zur Ottermühle oder Zschachenmühle war mir schon von früher bekannt. Hier setzte ich mich an einem besonders schönen Standpunkt hin, um eine Skizze von der Mühle aufzunehmen (wie denn überhaupt mein Skizzenbuch in diesen Tagen von kleinen Landschaften ganz voll geworden ist). Ich hatte noch nicht lange gezeichnet, als sich der Sohn des Müllers zu mir gesellte und mit Staunen dieses Wunder, daß die alte Mühle abgezeichnet wurde, angaffte. Als er nun aber gar erfuhr, daß ich der Bruder vom „Herrn Obervormund“ sei, hatte er Nichts eiligers zu thun, als dies zu Haus zu melden und kam bald mit der devotesten Einladung von seiner Frau Mutter zurück, ob ich sie nicht mit meinem Besuch beehren wollte. Da ich in der eisigen Morgenluft ziemlich erstarrt und durchfroren war und überdies mein nimmersatter Magen zu knurren anfing || so nahm ich das Anerbieten huldvollst an. Nachdem mich die Frau Müllerin freundlichst willkommen geheißen, nahm sie mein Skizzenbuch in Augenschein, wobei sie sich dann vor Erstaunen über all die schönen Bilderchens kaum zu lassen wußte und das ganze Haus zu deren Betrachtung zusammentrommelte. Dann holte sie ein großes Brot und 1 Knoblauchswurst herbei, mit der ich meinen Magen restauriren mußte. Als ich ihr nun aber gar auf den lebhaft geäußerten Wunsch: „sie möchte gar zu gerne ein solches Bild von ihrer Mühle haben, und wenn ich auch noch so Viel forderte, sie wolle gern Alles für eine Copie davon bezahlen“ – entgegnete, daß ich das sehr gern umsonst thun wolle, war sie ganz entzückt und holte sofort aus ihrer Speisekammer 1 Flasche Schnaps und einen Teller voll des trefflichsten, süßesten, flüssigen Gebirgshonigs her, den ich mir auch ganz herrlich schmecken ließ, wobei sie dann mit Nöthigen gar nicht aufhören wollte. Als ich endlich nach einer Stunde, wo ich mich in der gemüthlich warmen, ganz altväterlichen Bauernstube gehörig erquickt und erwärmt hatte, in der besten Freundschaft von den guten Leuten schied, lud sie mich noch ein, doch ja Nachmittags auf dem Rückweg wieder bei ihr einzusprechen und Kaffee und Kuchen zu genießen. –

Ihr könnt euch denken, daß wir nachher zu Hause nicht wenig uns über die ganze Geschichte amüsirt haben (zumal mir am selben Tage noch ein paarg kleinere Abentheuer in der Lückenmühle und Liebengrün passirten). Es ist dies wohl das erste Mal, daß ich mir mit meiner edlen Zeichnenkunst h wirklich was verdient habe, und zwar gleich ein so schönes Frühstück! Ist das nicht hübsch? –

Auch oberhalb der Lückenmühle war der Ottergrund fortdauernd sehr hübsch und bot mannichfache Abwechslung, indem die steilen Thalswände bald so nah zusammentraten, daß kaum der Bach || hindurchbrechen konnte, bald sich so erweiterten, daß siei schöne frische Wiesengründe mit einzelnen Mühlen zwischen sich aufnehmen konnten. Die dunkelgrauen Thonschieferfelsen (Grauwacke), welche überhaupt hier in der Gegend die schroffen, zackigen, malerischen Felsparthieen bilden, zeigten am steilen Abhang des Thals sehr malerische Vorsprünge. Leider war es aber so kalt, daß ich nur von 1 Felsenbrücke und einem kleinen Wasserfall 1 Skizze aufnehmen konnte. Das frische Frühlingsgrün, der mit gelben Primeln und rosigen Anemonen, oft auch mit den eigenthümlichen rothen Blüthensträußen des Huflattigs (Petasites officinalis) gezierten Wiesen stach sonderbar gegen die noch dick von Reif überzognen dunkelgrünen Tannengehänge und die ellenlangen Eiszapfen ab, welche von Mühlrädern und Dachrinnen herabhingen. Um 1 Uhr kam ich in der Lückenmühle an welche zu Schleizer Gebiet gehört (N. B. in Zeitraum von 2 Stunden hatte ich Preußisches, Schleizer, Schwarzburger und Greizer Gebiet durchschritten! O einiges Deutschland!) und zusammen mit dem Forstamt „Siehdichfür“ und einigen j Bauernhäusern, welche ganz von Holz gebaut sind und den rechten Gebirgstypus zeigen, in der Mitte einer frischen, rings von dichtem Tannenwald umgebnen Wiese eine recht nette Gruppe bildete. Von hier aus ging ich durch den k durch sehr schöne alte Buchen- und Edeltannen berühmten Streitwald über Liebengrün und Liebschütz nach Hause zurück. Als ich ankam, war leider schon der Brief, welcher am 25/4 bei euch eintreffen sollte, abgeschickt, so daß ich nicht mehr mitschreiben konnte; was hätte ich aber auch dem lieben, alten Großvater, dessen schweres Leiden uns allen so sehr schmerzlich ist, wünschen sollen! Gebe Gott nur, daß er noch möglichst wenig zu leiden hat, ehe er die lästige, irdische Hülle abstreift! Wie schwer ist es doch für uns alle, daß ihm diese letzte Zeit seines herrliches Lebens noch so schwer gemacht und der Abschied so verzögert wird! || Ich wünschte nur, Großvater hätte noch viel seinen kleinen, lieben Urenkel sehen können, der jetzt gar zu allerliebst ist. Durch die Stube läuft er l so munter und flink wie 1 Wiesel. Sprechen kann er aber freilich noch wenig. Nur die Stimmen der verschiedenen Hausthiere ahmt er höchst possirlich nach, woraus ich, wie aus seiner Freude an Thieren überhaupt, auf große zoologische Talente schließen möchte. Außerdem spricht er noch sehr nett: Papa, – da da (womit er alles Mögliche bezeichnet) und – Eis –, wobei er das s grade so lispelnd ausspricht, wie das englische th. In seinem ganzen höchst muntern und liebenswürdigen Benehmen, Gebärden und Pantomimen ist [er] äußerst nett und possirlich und macht uns fortwährend die größte Freude. Daß wir (namentlich Mimmi) es natürlich an allen möglichen Späßen mit dem kleinen homunculus nicht fehlen lassen, könnt ihr euch natürlich denken. Ganz besondere Freude macht es ihm, wenn ich ihn auf die Schultern nehme und damit durch die Stube trabe, wobei sein ganzes, höchst schlaues und niedliches Gesichtchen lacht. Er kennt mich sehr gut, wie er überhaupt alle einzelnen Personen sehr wohl unterscheidet und auch Alles versteht, was man mit ihm spricht. Sein ganzer Character ist sehr liebenswürdig, immer munter und vergnügt (wie Mimmi), daneben auch gehörig hitzig und ungeduldig (wie alle ächten Häckels!). Wie letztere, will er auch beständig beschäftigt und unterhalten sein. Der allerliebste kleine Pussel wird mir jetzt recht fehlen. Ich habe mich ordentlich an ihn gewöhnt und manche liebe Stunde mit ihm todtgeschlagen. Ihr werdet auch rechte Freude haben, wenn ihr ihn wiederseht. Überhaupt ist das hiesige glückliche Familienleben doch gar zu allerliebst und ich fühle mich allemal, so oft ich hier bin, so äußerst wohl und glücklich darin, daß oft der sehnsuchtsvolle Wunsch, der doch schwerlich erfüllt werden wird, sich regt: Ach wenn du doch auch mal solch Glück genießen m solltest! ||

Würzburg 28/4 1855

Ich hatte anfangs diesen Brief noch von Ziegenrück abschicken wollen; nachher beschloß ich aber, ihn erst von hier aus zu schicken, um euch gleich meine glückliche Ankunft mit melden zu können. Ich ging am Donnerstag (26/4), begleitet von einem einarmigen Invaliden, der meine Sachen trug, am Nachmittag von Ziegenrück fort. Wie ich mich überhaupt allemal nur schwer von diesem mir so sehr lieb gewordnen Ort trennen konnte, so ging ich auch diesmal sehr ungern von meinen lieben Geschwistern und der schönen Gebirgsgegend fort. Mein treuer, guter Bruder begleitete mich noch ein Stück. Da ich sehr rasch ging, so kam ich schon um 5, statt um 6 Uhr, in Schleiz an, wo ich nun noch Muße genug hatte, mir die Residendenzstadt des größten deutschen Fürstenthums von innen und außen genügend zu besehen. Sie ist häßlich und winkelig gebaut, höchst kleinstädtisch und macht im Ganzen Nichts weniger als den Eindruck einer Residenz. Nur das kleine, aber ganz nette Schloß liegt leidlich hübsch auf einer Anhöhe, von der man einen Überblick über das ganze ärmliche Nest und über die nächsten Höhen hinweg nach den lieben Ziegenrücker Bergenn hat. Wie recht kleinstädtisch auch die Bewohner dieser mit schwarzroth goldnen Schlagbäumen verzierten Residenz sind, erfuhr ich auch selbst noch an diesem Abend. Nachdem ich genügsam mich umgesehen, suchte ich vergebens an den alten Mauern des Schlosses nach einem Moose oder einem andern Pflänzchen, das ich als botanische Erinnerung an das Fürstenthum Schleiz meinem Herbarium einverleiben könnte. Endlich fiel mein Auge auf einen alten Brunnen, der in der Mitte eines Halbcircels kleiner Ställe, welche den Marstall vorstellen sollten, in einer kleinen, dunkeln Grotte sich befand. || Äußerlich war Nichts daran zu sehen; innen aber, wo das Wasser beständig in ein Bassin plätscherte, schien mir ein grünes Moos zu flottiren, bei dessen Anblick ich sehnsüchtig dachte: Ach wenn es doch das Conomitrium Julianum wäre! Es ist dies zugleich eins der schönsten und der seltensten deutschen Moose, welches bisher nur in 2 Brunnen, in Pirna und in Stuttgart, gefunden worden ist. Ich mußte fast über die Kühnheit dieses Wunsches lachen. Wer beschreibt aber mein Erstaunen, o und meine freudige Überraschung, als ich in dem kleinen, grünen Moose wirklich das bezeichnete, von mir längst ersehnte Pflänzchen fand. (Wenigstens glaube ich mit bloßem Auge es bestimmt dafür erkannt zu haben. Absolute Gewißheit kann mir erst die mikroscopische Untersuchung geben, welche ich leider noch nicht anstellen konnte). Natürlich hatte ich nun Nichts Eiligeres zu thun, als meine Pincette heraus zu holen, und theils in Gläser zu stopfen, theils auf Papier zu ziehen, was sich nur von dem reizenden Mööschen im Brunnen fand. Da dies nicht viel war, so dachte ich, vielleicht auch in andern Brunnen der Stadt dasselbe wiederzufinden, und war auch wirklich, nachdem ich fast alle durchuntersucht hatte, bei den 2 letzten derselben so glücklich. Als ich nun hier dasselbe Manoeuvre wiederholte und möglichst viel davon in einer Flasche sorgfältig sammelte, bildete sich bald ein Kreis zahlreicher Kinder, die mit Erstaunen das sonderbare Beginnen betrachteten. Nicht lange dauerte es, so gesellten sich auch Gruppen von Erwachsenen hinzu und bald waren fast alle Fenster des kleinen Marktplatzes mit neugierigen Menschen besetzt, die in der Dämmerung mein wunderliches Thun betrachteten und sich in herrlichen Hypothesen darüber ergingen, über die ich mich köstlich amüsirte. p „Er hat die Neugierigen zum Narren“ – sagten die Einen; „er sammelt heilsame Kräuter“ – die andern etc etc || Endlich konnten es doch ein paar alte Weiber nicht unterlassen, mich zu fragen; „zu was um Himmels willen der grüne Schlamm nur sein sollte“, worauf ich ihnen dann mit höchst geheimnißvoller Miene sehr ernsthaft exponirte, daß diese Kräuter (wobei ich auf ein paar andere unschuldige im Brunnen befindliche Wasserpflanzen deutete) das wahrhaftige und echte Kraut seien, aus dem die Frau Gräff (die Schleizer Wunderdoctorin) ihr Lebenselixir und ihre alle Krankheiten heilenden Kräuterbäder bereitete. Anfangs wollten sies nicht recht glauben. Als ich aber immer sehr eifrig einzupacken fortfuhr und mich dann mit meinen Schätzen entfernte, fielen sie über den armen Brunnen her, den sie bald gründlich von allen Kräutern gereinigt hatten, bis auf mein Moos, das ihren gierigen Händen durch seine Kleinheit entging. Wohl bekomms ihnen! Jedenfalls hilfts und schadets den gläubigen Leuten nicht mehr und nicht weniger, als die meisten andern Pflanzen unsres Arzneischatzes. Vielleicht komme ich so q gar unschuldiger Weise dazu, einige Kranke durch den festen Glauben an Veronica Beccabunga, Nasturtium amphibium und ein paar andre unschuldige Wasserpflänzchen zu heilen! Ist das nicht herrlich?! Ich habe mich unendlich über diese Methode, die Bewohner einer Residenz auf die Beine zu bringen, amüsirt. Ganz besonders werden aber die Ziegenrücker, (namentlich der Doctor) darüber lachen! – Die Post fuhr erst um 9½ Uhr aus Schleiz ab. Da ich ganz allein im Wagen saß so konnte ich mirs recht bequem machen und bis r Hof durchschlafen, wo ich um 2½ ankam. Um 3½ ging der Güterzug von da ab, welcher, indem er mehr Zeit zum Verweilen auf den einzelnen Stationen, als zur Fahrt selbst brauchte, erst um 12 in Bamberg ankam. Das war sehr langweilig. Jedoch unterhielt ich mich viel mit einem sehr komischen Kauze, einem Wuerzburger Privatdozenten Dr Ritter von Welz, welcher den Winter || über in Berlin bei Graefe Augenheilkunde studirt hatte. Da der Zug von Bamberg erst um 3½ Uhr weiter ging so benutzte ich die Zwischenzeit von 3½ Stunden, um beim herrlichsten Wetter eine Excursion auf die alte Burg und den Michaelsberg, die beiden schönsten Aussichtspunkte der Bamberger, zu machen, über die ich euch schon vorige Ostern geschrieben habe. Der Eilzug von Hof, mit dem ich Anfangs hatte fahren wollen, kam, da der Zug unterwegs aus den Schienen gerathen war, statt um 3½ erst um 5 Uhr nach Bamberg, so daß ich erst um 8 in Würzburg ankam, als es schon dunkel war. Ich ging sogleich in meine Wohnung, welche ganz allerliebst ist, wie ich mirs nur immer hätte wünschen können. Das Nähere darüber nächstens.

Da ich sehr müde war, ging ich früh zu Bett und sah Hein, der spät nach Hause kam, erst heute (Sonnabend, 28/4) Morgens. Wir gingen gleich zusammen in die medicinische und chirurgische Clinik, welche schon seit mehreren Tagen begonnen haben. Ich traf eine große Menge alter bekannter Gesichter wieder, aber wenig nähere Freunde. Dann ließ ich michs immatriculiren, wobei ich vom Rector, als ein treuer, alter Würzburger, sehr freundlich aufgenommen wurde. Bis jetzt habe ich nur noch meinen lieben guten Privatdocenten Leydig (dem es leider sehr schlecht geht) und Schenks (nur die Frau Prof. war zu Hause) besucht, von denen ich äußerst freundlich aufgenommen wurde, wie überhaupt von allen alten Bekannten! Das nächste Mal mehr darüber. –

In alter Liebe

euer treuer Ernst H.

Herzliche Grüße an alle Freunde.t

Fast hätte ich vergessen, euch zu schreiben, daß ich am 22/4 Sonntag in Ziegenrück auf 1 Ball war und nachher, als ich allein früh nach Haus ging und das Schloß verschlossen fand, durch die Fenster des Gerichtszimmers hereinkletterte!u

a gestr.: das; b eingef.: ich; c gestr.: selbst; d gestr.: der; e gestr.: nach; f eingef.: ich; g korr. aus: plaar; h gestr.: et; i eingef.: sie; j gestr.: Ba; k Dopplung gestr.: den; l gestr.: freilich noch wenig; m gestr.: erlangen; n eingef.: Bergen; o gestr.: als; p gestr.: Die; q gestr.: vielleicht; r gestr.: Schl; s eingef.: mich; t Text weiter am rechten Seitenrand: Herzliche Grüße … Freunde.; u Nachschrift auf dem linken Rand von S. 3: Fast hätte …hereinkletterte!

Brief Metadaten

ID
37438
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Ziegenrück / Würzburg
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Preußische Provinz Sachsen
Datierung
28.04.1855
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
12
Umfang Blätter
6
Format
13,8 x 22,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37438
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Ziegenrück / Würzburg; 28.04.1855; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_37438