Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Würzburg, 27./28. Juni 1855

Würzburg 27/6 55.

Meine liebste Mutter!

Auch diesmal kann ich Dir, wie vor 2 Jahren, als ich den ersten Sommer hier zubrachte, nur aus der Ferne den innigsten Gruß und herzlichsten Glückwunsch zu Deinem Geburtstag senden. Wie gerne wäre ich am ersten Juli persönlich in Ziegenrück und sagte Dir durch einen einzigen innigen Kuß und Händedruck Alles das, was ich für Dich im Herzen habe und was sich auch durch noch so viel Worte in einem Briefe doch nicht ausdrücken läßt. Aber du weißt ja, mein herzliebes Mütterchen, wie fest unsere Seelen verwachsen sind und unsre Herzen sich durchdringen und das Bewußtsein dieses innern, treuen Verständnisses tröstet und entschädigt mich für den großen Mangel, den ich durch die Entfernung von Dir leide. Wir sind ja im Geiste stets bei einander, und diese innige, geistige Gemeinschaft mit euch lieben Eltern ist mir meine herzlichste Freude und mein größter Trost und läßt mich an der mir zuertheilten Lebensaufgabe mit doppelter Freudigkeit und Zuversicht arbeiten. Und doch wäre ich grade diesmal gar zu gern auch leibhaftig in der Mitte von euch Lieben und spräche mich nach Herzenslust recht gründlich mit euch aus. Denn ich habe in der letzten Zeit, seit ich hier mit einem Mal in eine ganz andere und neue Sphäre des Lebens und des Studiums gekommen bin, meine alten, zum Theil freilich sehr einseitigen und vorurtheilsvollena Ansichten über das letztere besonders so wesentlich, und wie ich hoffe, zum Besten geändert, daß ich selbst mir wie ein ganz anderer Mensch vorkomme, und daß auch Du, liebe Mutter, wie ich glaube, mit Freuden den Fortschritt in der Ausbildung sowohl meiner allgemeinen Ansichten, als meines speciellen Planes für das Leben, wie ich ihn mir jetzt gesteckt, bemerken würdest. ||

Daß ich jetzt endlich ein festes, bestimmtes Ziel gefunden, auf das ich hinarbeiten, auf dessen Erreichung ich alle meine Kräfte lenken und concentriren kann, das ist mir ein großer Trost und das giebt mir auch viel mehr Muth, Hoffnung und Selbstvertrauen, so daß ich mitb freudiger, zuversichtlicher Lust zu schaffen und meine Anlagen aufs Beste zu verwenden, in das offen vor mir daliegende Leben hinausschauen kann. Freilich wollen auch jetzt oft noch schwache und kleinmüthige Stunden kommen, in denen mir das „Wie“, die Art und Weise der Ausführung meines Lebensplanes gar sehr schattenhaft und unsicher erscheinen. Aber wenn ich nur nach Kräften das Meine zu thun mich bemühe, dann, glaube ich, wird auch Gottes Segen nicht fehlen und ich werde am Ende doch einen meinen Kräften angemessnen Wirkungskreis finden. Daß Gott dazu seinen Segen geben möge, daß wird gewiß an Deinem kommenden Festtage, meine innigst geliebte Mutter, auch ein Herzenswunsch von Dir sein; weiß ich doch, wie Du in und mit Deinen Kindern lebst, und wie ihr Wohlergehn Dir mehr Freude, als Dein eignes macht. Daß ich es aber auf meiner Seite nicht daran fehlen lassen werde, den mir angewiesenen Platz in diesem Leben auszufüllen, das kann ich Dir eben so fest zusagen und durch die Ausführung dieses Vorsatzes hoffe ich Dir Freude zu machen. Nun habe ich aber auch für Dich, liebe Mutter, zu Deinem Geburtstage noch einen recht herzlichen Wunsch, und der ist, daß Deine Gesundheit sich recht bald und gründlich wieder befestigt, auf daß c Du bald wieder ganz unsere kräftige und gesunde liebe Alte wirst und uns noch viele Jahre zur Freude lebst. Dazu mußt Du mir aber versprechen, daß Du Deinen Körper mehr schonst und in Acht nimmst, und nicht, wie bisher, im Liebesdienste für Andere, Dich selbst ganz und gar vergißt. || Hoffentlich geht es Dir jetzt, nachdem die Berliner Unruhen und Geschäfte beseitigt sind, wieder viel besser. Das ruhige ländliche Stilleben wird Dir gewiß recht gut thun und auch behagen. Mir wenigstens bleibt Ziegenrück wirklich das ideale Elysium, wo sich Körper und Geist, frei vom Zwange der lästigen Außenwelt, immerd gleich gesund und frisch, und munterer und leistungsfähiger, als irgendwo, gefühlt haben. Wie könnte das auch anders sein in der herrlichen, frischen Gebirgsnatur und in dem glücklichen Familienleben meines lieben Bruders!

28/6 55

Soweit war ich gestern (Mittwoch), wo ich eigentlich das Kistchen schon abschicken wollte, gekommen, als ich wieder unterbrochen wurde. Als ich Abends nach Hause kam, fand ich eure lieben Briefe, die mich sehr erfreut haben und für die ich euch herzlich danke. Die darin ausgesprochenen Ansichten und Gedanken sind ganz die meinigen. Gestern Abend konnte ich den Brief auch nicht beendigen, da wir 6 Bekannten die erste Sitzung unseres „menschlich wissenschaftlichen“ Vereins hatten, die jetzt wöchentlich 2 mal stattfinden soll. An dem einen Abend werden Referate aus den verschiedenen Fächern der Medicin und Naturwissenschaft gehalten, an welche sich Besprechungen der neu erschienenen Aufsätze etc anreihen (ich habe die microscopische und vergleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte als Fach bekommen); am zweiten Abend hält Einer von dem halben Dutzend 1 freien Vortrag über 1 ganz allgemein menschliches Thema, an welches sich dann ausführliche Discussionen und Disputationen über diese allgemeinen Ansichten und Grundsätze anreihen. Ich finde die ganze Idee dieser Zusammenkünfte sehr hübsch und glaube, daß solche Besprechungen sehr bildend sind. Eine andere Frage ist es, ob wir die letzteren, allgemein menschlichen Discurse durchführen werden, da die verschiedenen Ansichten in den 6 Köpfen gar zu riesenhaft, noch mehr, als ich vorher gefürchtet, zu differiren scheinen. Diese Differenzen zeigten sich gleich gestern || Abend in der extremsten Weise. Hein fing die Zusammenkünfte mit einem Vortrage über die Pflichten und Verhältnisse des Arztes (zu seinen Patienten und Collegen) an. Natürlich knüpfte sich daran eine lebhafte Discussion über eine ganze Reihe allgemeiner Grundsätze und Lebensansichten, die dabei zur Sprache kamen, und da fand es sich, daß selbst die gewöhnlichsten Grundbegriffe, wie „Pflicht, Moral, Gewissen“ etc von einem jeden von uns in ganz eigner und verschiedener Weise aufgefaßt wurden, wobei es dann natürlich zu einem sehr heftigen Streite kam, der bis nach Mitternacht dauerte und damit endigte, daß jeder in seiner eignen Ansicht nur noch bestärkt war. Trotzdem glaube ich, daß eine solche Discussion sehr bildend ist. Man lernt seine eignen Ansichten klar darlegen und vertheidigen, diejenigen der andern widerlegen und erweitert durch Kennenlernen der letztern die Kenntniß der Menschen gewiß sehr. Ich werde euch ein andermal ausführlicher darüber schreiben, da es euch vielleicht auch interessirt, und bemerke diesmal nur noch, daß ich und Buchheister die beiden extremst entgegengesetzten Standpunkte (wie überhaupt meist im ganzen Verkehr) einnehmen und uns daher auch immer ziemlich heftig und nicht mit der nöthigen Ruhe bekämpfen. An jenen schließt sich Strube, an mich zunächst Braune an; Hein und Beckmann stehen in der Mitte als vermittelnde Elemente. Ich bin wirklich sehr neugierig, wie die Geschichte weiter werden wird. Gestern Abend kamen mir meine rationalistischen Freunde aber wirklich wie die jungen Katzen vor, die sich in den Schwanz beißen wollen und dabei immer im Kreise herumdrehen. Sie eifern und sprechen fortwährend gegen das Christenthum und gegen die Religion und Glauben überhaupt, und stehen doch in ihrer ganzen edleren und bessern Hälfte so ganz unter dessen Einfluß, daß sie unbewußt und gleichsam blind in allen Reden und Handlungen davon geleitet werden. –

Doch davon später mehr. Jetzt will ich machen, daß das Kistchen auf die Post kömmt, damit e Du, liebe Mutter, den für Dich bestimmten Bocksbeutel von anno 1822 noch am Sonntage kosten kannst. Koste ihn aber ja mit Verstand und Überlegung. Es soll wirklich etwas Feines sein: superfino! prima qualitate! – den 1848ger Bocksbeutel schicke ich meinem lieben Schwesterchen zum 8 Juli. || Am Sonntage werde ich [auf] Deine Gesundheit wahrscheinlich auf irgend einer Bergspitze der hohen Rhön trinken!f

Das Bockbeutelkistchen, sowie vielleicht auch noch eins, das ihr noch in Ziegenrück habt, kann Karl und Vater vielleicht mitbringen. Ich kann sie dann noch einmal voll zurücksenden.g

Nun wünsche ich nur noch, daß ihr an beiden SonnTagenh, am 1ten und 8ten Juli recht herzensvergnügt und munter seid, und wenn euch der edle Würzburger Wein schmeckt, so denkt dabei an einen Würzburger Studentenkreis, der ebenfalls zu dieser Zeit auf beider Geburtstagskinder Wohl sein Glas leeren wird und an den autor aller dieser Geschichten, euren alten, treuen Ernst H.h

a korr. aus: vorurtheilsf; b eingef.: mit; c gestr.: g; d eingef.: immer; e gestr.: ihr; f Text weiter auf dem rechten Rand: Am Sonntage … Rhön trinken!; g Text weiter auf dem Rand von S. 1: Das Bocksbeutelkistchen … voll zurücksenden.; weiter am Rand S.1; g weiter am Rand S. 4; h eingef.: Sonn; i Briefschluss in der Mitte zwischen den S. 2 und 3: Nun wünsche ich ... Ernst H.; i eingef.: Sonn

Brief Metadaten

ID
37434
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Bayern
Datierung
28.06.1855
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,3 x 22,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37434
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Charlotte; Würzburg; 28.06.1855; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_37434