Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 16. Juli 1855

Würzburg. Montag 16/7 55.

Meine lieben Eltern!

Erst heute kann ich dazu kommen, endlich eure lieben Briefe zu beantworten und euch und meinen lieben Geschwistern zu dem freudigen Familienereigniß, über das ich mich ungeheuer gefreut habe, meinen herzlichsten Glückwunsch zu sagen. Gestern Abend hatten wir, wie jetzt immer Sonntags, naturwissenschaftlichen Verein und gestern Morgen mußte ich die Referate dafür besorgen. Vorgestern traf mich die frohe Botschaft grade in dem Augenblick an, als ich im Begriff war, mit meinen Freunden nach einem nahen Dorfe, Randersacker, zu fahren, wo wir Heins und Strubes Geburtstag feierten, da wurde denn auch gleich mein neugeborner Neffe mit einem bombastischen Toaste beehrt, und er, sowie sein Onkel, mehrfach hoch leben gelassen. Wie ihr leicht denken könnt, habe ich mich ungeheuer über meine neue „Onkelschaft“ gefreut, besonders auch darüber, daß ich nicht „Tante“, sondern zum zweitenmal Onkel geworden bin. Zwar habe ich, wie ihr wißt, jetzt vor a Frauenzimmern allen erdenklichen Respekt; aber ein Neffe ist mir doch immer 10mal lieber, als 1 Nichte, schon aus dem Grunde, weil ich bei letzterer schwerlich meine fruchtbaren Erziehungsgrundsätze würde in Anwendung bringen können, welche dagegen bei den Neffen, richtig applicirt, gewiß die schönsten Früchte tragen werden! Was wird nun aus dem neuen kleinen Haeckelus werden? Ich habe schon recht viel daran gedacht. Hoffentlich gehen alle die schönen, frommen Wünsche die ich in dieser und anderer Beziehung für ihn hege, und von denen ich zum Theil schon vor seiner Geburt an euch geschrieben habe, in Erfüllung! Jedenfalls muß er, wie sein älterer Bruder, und wie alle Häckels ein braver, tüchtiger Character werden, was bei der vortrefflichen Erziehung, die ihm seine Eltern und sein lieber Onkel angedeihen lassen werden, gewiß nicht ausbleiben wird! Was sagt denn Karlchen zu dem kleinen Brüderchen? Ich möchte die Beiden gar zu gern beisammen sehen. Karlchen hat sich inzwischen gewiß schon um Vieles weiter entwickelt und mich verlangts recht, mein liebes Pathchen einmal wieder zu sehen. Der Großpapa hat gewiß auch rechte Freude an ihm und ich kann mir lebhaft denken, wie er mit ihm spielt. Nun, wenn du herkommst, lieber Vater mußt du mir recht Viel erzählen. || Daß Du, lieber Vater, mit Karl mich nun wirklich bald besuchen wirst, freut mich außerordentlich und ich denke jetzt täglich schon viel daran. Wie schön wird das sein, daß wir uns einmal ganz ordentlich aussprechen können. Durch Briefe kann man sich doch nur unvollkommen und halb mittheilen. Mir liegt grade jetzt so viel auf dem Herzen und in meiner ganzen Anschauungsweise und Denkart hat sich in diesem kurzen Sommer dadurch, daß ich in einen ganz anderen Ideenkreis hineingekommen bin, so viel geändert, daß es mich recht verlangt, mich einmal ordentlich gegen euch auszusprechen. Wie du mir schreibst, denkt ihr, Sonnabend am 4/8 hier einzutreffen. Ich wollte euch aber bitten, doch ja schon Freitag Abend zu kommen, damit wir Sonnabend schon zusammen sind, da ich an diesem Tage immer die meiste freie Zeit habe. Auch könnte ich euch dann Sonnabend noch in die physikalisch-medicinische Gesellschaft führen, wo ihr die ganzen wissenschaftlichen Heroen Würzburgs zusammen sehen und hören könnt. Ich denke also, ihr reist schon Donnerstag 2/8 von Ziegenrück weg und fahrt von Schleiz mit der Post um 9 Uhr nach Hof, wo ihr um 2 Uhr ankommt. Dann könnt ihr noch ordentlich dort ausschlafen, und, da ihr doch II Klasse fahrt, mit dem Eilzug, der im Lauf des Vormittags, ich glaube, um 10 Uhr von dort abgeht, weiterfahren. Dann seid ihr um 3½ Uhr in Bamberg und um 6 Uhr hier. Ich fuhr damals III Klasse mit dem Güterzug, der früh um 4 aus Hof abgeht, aber erst Abends um 10 hier ankömmt und mehr Zeit zum Aufenthalt auf den einzelnen Stationen, als zum Fahren braucht. Wenn ihr also über euer Kommen nichts weiter schreibt, so erwarte ich euch Freitag Abend (3/8) am Bahnhof. Vergeßt mir auch nicht, meine Sachen zur Reise mitzubringen. Wegen des Geldes habe ich mich mehrfach erkundigt. Im Österreichischen, d.h. in Tyrol und Salzburg kann ich nur Österreichisches Papiergeld, dagegen in Ober Italien nur Napoleons d’ors und 24ger (Xr Stücke) brauchen. ||

Beides werde ich am besten in München gegen Preußische Kassenanweisungen (vielleicht 25 rh-Scheine) eintauschen. (Übrigens glaube ich nicht, daß ich nach Oberitalien kommen werde). Euch beiden wollte ich vorschlagen, euch doch so einzurichten, daß ihr von hier aus noch eine kleine Tour von 2–3 Tagen den Main herunter machen könnt, nach Wertheim, Miltenberg etc., dies, sowie die Fahrt auf der neuen Eisenbahn mitten durch den Spessart, würde euch gewiß sehr gefallen. Wie Du mir schreibst, lieber Vater, machst Du jetzt von Ziegenrück aus kleine Ausflüge, wobei Du auch nach Jena kommen b wolltest. Weißt Du denn, daß Passow’s jetzt dort sind? Wenn Du sie sehen solltest, was ja sehr nett wäre, so grüße sie bestens von mir. Ich erfuhr es durch Lachmann, welcher uns, ebenso mir, wie la Valette, am 13/7 (zu Heins Geburtstag) seine Dissertation geschickt hat. Beide haben nun mit großem Glanze ihren Dr. gemacht. Die Dissertationen beider sind ganz vorzüglich und Johannes Mueller hat sie im Colleg gleich mit großer Auszeichnung erwähnt. Lachmann hat sehr wichtige Entdeckungen über Infusorien gemacht. Lavalettes Dissertation ist 1 wahres Prachtwerk, im größten Quartformat, mit 2 Tafeln Abbildungen, die das Vollkommenste zeigen, was in der Art bisher geleistet wurde. Ich werde meine Dissertation erst nächsten Sommer bei Johannes Mueller in Berlin auszuarbeiten anfangen, diesen Winter hier aber einmal ganz reine praktische Medicin, mit Ausschluß Alles Andern, treiben, um zu sehen, wie mir das behagen wird. Zu dem Zweck werde ich, außer den gewöhnlichen Kliniken, auch die Poliklinik annehmen, wobei man in der Stadt unter den armen Leuten Patienten (im Semester circa 50) bekömmt, die man ganz selbstständig [!] zu behandeln hat. Könnt ihr euch denken, daß ich mich bereits so weit geändert habe, daß ich mich in mancher Hinsicht auf diese Praxis förmlich freue? Traurig, aber wahr! Oder vielmehr: nicht traurig, aber erfreulichc! Überhaupt schreite ich in d der Medicin ganz riesig und energisch vorwärts. || So habe ich heute früh in Virchows pathologisch-anatomischen Cursus vor dem ganzen auditorium meine erste klinische Obduction gemacht, immer eine sehr kitzliche Geschichte, vor der alle großen Respect haben, weil Virchow, namentlich wenn er nicht grade bei Laune ist, jeden Schnitt, jede Bemerkung mit der bittersten Ironie und den beißendsten schlechten Witzen kritisirt, so daß man es ihm auf keine Art recht machen kann. Glücklicherweise war er heute sehr e gnädig und fidel gestimmt, und machte nur ein paar lustige Bemerkungen sehr gutmüthiger Art [z.B. votirte er mir f beim Schluß der Section [ein exquisiter Fall von Tuberculosis mit einer Menge großer, necrotischer Lungencavernen bei einem Mann von 50 Jahren] den Dank des Vaterlands], obwohl ich natürlich mit meiner gewöhnlichen Unruhe, Übereilung und Hast verschiedene bedeutende Schnitzer machte, wegen derer er mich ordentlich hätte aufziehen können. Im Übrigen gefallen mir fortdauernd Virchows Collegia ganz außerordentlich gut, ebenso wie auch Bambergers Klinik. In die innere Medicin habe ich mich in dieser kurzen Zeit ganz eingelebt. Ich hatte mir die Sache viel zu schwierig vorgestellt. In re vera ist sie wirklich, im Vergleich zu andern Studien, kinderleicht, namentlich wenn man eine g ordentliche und gründliche naturwissenschaftliche Basis hat, die allerdings den meisten Medicinern ganz fehlt. Mir kommen dabei alle meine naturwissenschaftlichen Kenntnisse viel mehr zu statten, als ich je gedacht hätte, besonders auch die Lieblingsfächer, Zoologie und Botanik. –

Hoffentlich geht es Dir, liebe Mutter, mit Deiner Gesundheit wieder besser. Daß die bösen Flechten Dich immer wieder quälen h ist recht schlimm. Warte nur; wenn Dein hoffnungsvoller Dr. med. filius erst kommt, werden sie gewiß vor ihm solchen Respect bekommen, daß sie sofort verschwinden!

– Der lieben Schwester geht es hoffentlich ganz nach Wunsch. Grüßt sie aufs herzlichste, wie auch Karl. Karlchen gebt von seinem Onkel einen herzlichen Kuß, ebenso auch dem lieben kleinen, neuen Ankömmling. Gebe Gott, daß er recht gedeiht! Nun will ich nur rasch schließen, damit der Brief endlich einmal fortkommt. Lebt alle recht wohl und seid recht munter und vergnügt zusammen. In alter Liebe euer treuer

Ernst H.

Doppelter Onkel! ||

Fast hätte ich die eine Hauptsache ganz euch zu schreiben vergeßen. Du i, lieber Vater, und Karl, ihr beide könnt nämlich ganz vortrefflich in meinem Hause logiren. Meine (übrigens ganz vortreffliche und in jeder Hinsicht musterhafte) Wirthin hat nämlich fast immer 2 kleine Logirstuben freistehen, welche sie aufs Schönste für euch herrichten wird. Ist das nicht sehr hübsch? Schreibt aber doch ja noch, ob ihr bestimmt am 3/8 eintrefft, damit ich euch am Bahnhof erwarten und gleich hieher führen kann! –j

[Beilage]

Rhön-Excursion.

Wir verließen Würzburg am Donnerstag Nachmittag 28/6 55 um 2 Uhr. Die Gesellschaft bestand aus 10 Mann, an der Spitze stand Prof. Schenk mit seinem Tagelöhner „Derresser“, seinem unzertrennlichen Begleiter auf allen Excursionen (ebenso wie sein dicker Mopshund „Belli“), der in der Thatk mehr Pflanzen kennt und lateinisch zu benennen und zu untersuchen versteht, als die meisten Mediciner. Wir andern 8 waren sämmtlich Studenten.

Wir fuhren zunächst per Dampf nach l Schweinfurt, von da in einem großen offnen Omnibus nach Kissingen, wo wir um 8 Uhr anlangten.

Der Weg dahin war ziemlich einförmig und ging meist zwischen Kornfeldern hin. Kissingen selbst liegt ganz freundlich im Thal an der fränkischen Saale. Jedoch schien mir die flachhügelige und zum Theil bewaldete Umgebung, mit Ausnahme einer nahen Ruine „Bodenlaube“ auch wenig Bemerkenswerthes darzubieten. Der Ort selbst ist so langweilig, wie alle Bäder, woran allerdings weniger die schönen, eleganten Häuser, als die unerträglich langweiligen und oberflächlichen Physiognomien der sich hier in großer Anzahl (über 2000) enuyirenden Badegästem Schuld sein mögen, fürn deren geistige Unterhaltung es ein bedeutungsvolles Ereigniß war, einmal eine Schaar „inconventionneller Naturmenschen“, wie wir meist waren, in ihrer aristokratischen Mitte zu schauen. Wir durchwanderten am Abend noch die Hauptstraßen und Promenaden des Städtchen und kosteten am andern Morgen auch noch die berühmten beiden Brunnen Ragozcin und Pandur, welche ziemlich stark salinisch und durch den großen Kohlensäuregehalt ziemlich angenehm erfrischend schmecken. Der berühmte Racozci ist reicher an Eisen, Schwefelleber und Chlormetallen, während der weniger starke Pandur mehr Kohlensäure enthält und darum besser schmeckt. Am Freitag 29/6 war ein großer Festtag der Katholiken „Peter und Paul“. Wir brachen früh um 5 Uhr auf und gingen in ziemlich grade nördlicher Richtung über Waldaschach und Premich nach Sandberg, das am Fuße des 3150' hohen Kreuzbergs (nächst der Wasserkuppe der höchste Berg der Rhön) liegt. Der Weg dahin führte anfangs durch ganz anmuthige, reich bewässerte und beiderseits von Waldhügeln eingeschlossne Wiesenthäler, später aber durch einen langweiligen, sandigen Nadelwald. || Wir fanden hier unterwegs schon einige ganz hübsche, mir neue Pflanzen: (Arnica montana, Hypericum pulchrum, Festuca heterophylla et Pseudomyuros etc). Dagegen begann gleich hinter Sandberg am Fuße des Kreuzbergs eine sehr eigenthümliche und hübsche Flora, welche wir auch am andern Tage überall wiederfanden und welche für die hohe Rhön characteristisch ist. In diese vertieften wir uns so, daß wir, statt um 10, erst nach 2 Uhr auf der Spitze des Kreuzbergs anlangten, zumal wir beim Botanisiren bald alle Wege und Stege verloren hatten und in dem schönen Walde aufs grade Wohl herumirrten. Als wir schon bald oben zu sein glaubten, gelangten wir plötzlich an eine Zone, welche allem weitern Vordringen ein Ziel zu setzen schien. Rings um den Gipfel schien sich nämlich in einer Breite von einigen 60–80 Fuß ein Gürtel von großen o schwarzen Basaltblöcken zu erstrecken, die so wild durcheinandergewürfelt waren, wie die Steinmassen auf dem hohen Rad und der kleinen Sturmhaube im Riesengebirge und die wirklich aussahen, als ob der vulcanische Krater unlängst erst seinen ganzen Inhalt ausgespieen hätte. Nachdem wir uns vergeblich in dem dichten Gestrüpp p rings umher nach einem seitlichen Ausweg umgesehen, machten wir uns an die Arbeit, dies Felsenmeer zu überklettern. Das war aber in der That noch viel schlimmer, als es aussah, denn von der glatten Oberfläche der schwarzen Steine glitt man alle Augenblicke ab und gerieth durch eine dünne, trügerische Moosdecke durchbrechend q mit den Füßen in die Lücken zwischen den Steinen, wobei es wirklich zu verwundern war, daß keiner ein Bein brach. Ich war endlich mit Hülfe meiner vortrefflich benagelten Alpenschuhe zuerst oben und wurde nun als ich aus dichtem Gebüsch auf den ganz kahlen und flachen, kreisrunden Gipfel des Bergkegels heraustrat, durch eine sehr schöne und ganz unvermuthete Aussicht überrascht, die sich zum vollkommenen Panorama gestaltete, als ich auf den Gipfel des in der Mitte erbauten hölzernen Aussichtsthurms stieg.

Nach Süden wurde der Horizont von der Kette der Mainuferberge, und jenseits des Mains von den Spitzen des Odenwalds begränzt. Nach Osten übersah man eine weite Ebene, die nur durch die Hügelreihen des Steigerwalds unterbrochen wurde. Im Norden schimmerte in unbestimmten blauen Umrissen der liebe alte Thüringer Wald, im Vordergrund ziemlich nahe mit den beiden Gleichbergen bei Römhild (Meiningen). Am beschränktesten war die Fernsicht nach r Westen, wo die nahen, hohen Kuppen des Dammersfelds den dahinter gelegenen Spessart verdeckten. ||

An sich war die Aussicht nicht grade besonders ausgezeichnet. Aber das schönste und klarste Wetter, das uns auf der ganzen Tour begünstigte ließ durch die malerische Beleuchtung Alles doppelt schön erscheinen. Nachdem wir uns sattgesehen, stiegen wir in das etwas unterhalb am Westabhang gelegne Kapucinerkloster hinunter, wo wir unsre herabgekommnen Lebensgeister durch Brod und Bier (das die Mönche selbst gebraut) erquickten. Etwas andres war am Fasttage nicht zu bekommen, obwohl heute grade der Präsident aus Würzburg (Herr zu Rhein) das Kloster auf 1 Inspectionsreise mit seiner Gegenwart beehrte. Die Mönche ließen sich deßungeachtet mit uns in 1 sehr gemüthliche Unterhaltung ein und amüsirten uns sehr durch s ihre wirklichen Galgenphysiognomien, die unter oberflächlicher Frömmelei einen derben Schalk versteckt zeigte, der auch hier und da unwillkührlich aus ihren Heuchelreden hervorblickte. Es sind sämmtlich: „Strafmönche“, die aus verschiednen Klöstern zur Buße schwererer Vergehungen auf diese, namentlich im Winter sehr harte, Station heraufgeschickt werden. Wenn Prozessionen auf den Wallfahrtsort heraufkommen, werden sie eingesperrt, damit sie (wie der Guardian sehr naiv gestand) „nit mit da Weibsleut zsammkumma“! – 1 schöne Wirthschaft! Aber wenn diese Leutchen nur täglich ihre paar Schock Paternoster beten, sind sie ganz zufrieden. –

Um 4 Uhr stiegen wir an der Westseite des heiligen Kreuzbergs wieder herab, wobei wir fast eine Viertelstunde lang en pleine carriére auf einer ganz glatten, schönen, sanft geneigten Wiesenfläche herabsprangen, so daß wir schon in ½ Std. am Fuße des gegenüberliegenden Arnsteins waren. Als wir diesen heraufstiegen, verwickelten wir uns in dem fast undurchdringlichen Gestrüpp eines ganz dichten Unterholzgebüsches dergestalt, daß der Tagelöhner auf einen hohen Baum klettern musste, um nur eine Richtung für einen Ausweg zu finden. Nach einer Stunde unsäglicher Arbeit, wobei wir buchstäblich das Gebüsch niedertreten mussten, um nur vorwärts zu kommen, kamen wir endlich wieder heraus, aber in welchem Zustand! Prof. Schenk hatte seine Brille verloren. Meine Inexpressibles hatten auf dem rechten Oberschenkel einen ganz bedenklichen Schlund aufgesperrt, und so waren wir alle mehr [oder] weniger invalid. Um nun den Schwindel noch vollständig zu machen, mussten wir auf der andern Seite des sehr steilen Bergs gleich wieder einen t Abhang u (mehr auf dem puppis posterior, als auf den Sohlen) herabrutschen den ich auch lieber herunter gekullert, als gestiegen, wäre.

Diese sämmtlichen Aventiuren brachten uns denn allmählich so auf den Hund, || daß wir kaum noch Kräfte genug sammeln konnten, um einen Umweg von einer ½ Stunde zu einer seltnen Meerespflanze (Cochlearia officinalis) zuv machen w, die hier an einer Salzquelle ganz isolirt (zugleich ist dies der südlichste bekannte Standort) wächst. Während wir den Vormittag sehr munter und forsch unter beständigen Scherzen und Neckereien tüchtig losmarschirt waren, war jetzt die ganze Gesellschaft verstummt und schlich die noch übrigen 2 Wegstunden, die übrigens durch ein sehr freundliches, ziemlich enges, Waldthal führten, ziemlich kleinlaut und matt dahin. Um 9 Uhr Abends erreichten wir endlich das ersehnte Nachtquartier Gersfeld, wo wir uns denn in einer ganz musterhaften Kneipe für alle unsre Strapazen reichlich entschädigten und über das glänzende Abendbrod mit einem Appetit herfielen, der den Wirth in Staunen und Schrecken versetzte und uns selbst fast mährchenhaft vorkam. Denn abgesehen davon, daß jeder für sich eine große Schüssel saure Milch aufaß, wurde nachher noch inx Compagnie 1 delikater großer saurer Rindsbraten nebst Salat und 15 (!) Pfannkuchen vertilgt. Nach solchen Anstrengungen kann man aber auch schon etwas leisten.

In einem Tag 14 Stunden, mit nur 2 Stunden Unterbrechung (nämlich von 5–2 und v. 4–9) in einem Strich zu laufen und dabei immer botanisiren, klettern, springen und andre Turnkünste üben – das ist wirklich kein Spaß. Ich wüsste auch nicht, daß ich seit langer Zeit so intensiv ermüdet worden wäre, wie an diesem Tag, was ich noch 8 Tage nachher in allen Gliedern fühlte. Der folgende Tag war dafür ein wahrer Schlaraffentag. Wir trennten uns nämlich in 2 Parthien. Schenk machte mit der einen Hälfte eine Parthie nach dem „rothen Moor“, während ich mit der andern direct auf das Dammersfeld marschirte, wo wir uns um 11 Uhr treffen wollten. Einestheils hatte ich nämlich die Sumpfpflanzen, um derentwillen allein das rothe Moor besuchenswerth ist, schon; anderentheils hatten mir aber meine sonst vortrefflichen Alpenschuhe (welche mir trotz alles Spottes vortreffliche Dienste leisteten, besonders beim Klettern), indem sie etwas zu weit waren, die ganze Haut von der Achillessehne (am Hacken) abgeschunden, so daß mir das Klettern sehr beschwerlich fiel. Ich ging also ganz gemächlich mit 4 andern auf das Dammersfeld, wo wir uns auf dem freien Gipfel am Nordostrande sehr gemüthlich ins Gras hinstreckten und unsrer Kameraden harrten. ||

Das Dammersfeld, das wir am 30/6 55 der Länge nach überschritten, ist ein sehr eigenthümlicher, schmaler, beiderseits steil abfallender Bergrücken, der sich in einer Länge von mehreren Meilen v. Nordost nach Südwest erstreckt und sich dabei in einer Anzahl einzelner kleiner Kuppen wellenförmig erhebt. Im Durchschnitt ist die Hügelreihe 2500' hoch; einzelne Gipfel erheben sich zu 3000! Während der Fuß ringsum von schönem, dichtem Laubwald bekleidet ist, zeigt sich die ganze obere Hälfte als ein vollkommen kahler grüner Wiesengrund, dessen Einförmigkeit von keinem Strauch, keinem Felsen unterbrochen wird. Überall ist der phonolithische Boden von dem schönsten Wiesenteppich überzogen, in welchem eine Menge seltner und interessanter Pflanzen in Heerden beisammen stehen. Besonders characteristisch sind Thesium pratense, Geranium silvaticum, Ranunc. platanifol., Centaurea montana, Chaerophyll hirsut. et aureum, Gentian. obtusifol., Poa sudetica, Botrychium Lunaria, Convallaria verticillata.

Dagegen fanden wir mehrere Pflanzen, die auf dem Kreuzberg in großer Menge standen, nicht minder, namentlich Veronica montana, Sedum villos. Lysimach. nemor. Sedum Fabaria.

In Mitten dieser herrlichen Flora streckten wir 5 uns dann höchst behaglich im herrlichsten Sonnenschein hin und ließen uns einmal, wozu man ja so selten kömmt, gründlich das dolce far niente schmecken. 2 meiner Kameraden Dreyer (aus Bremen) u. Runge (aus Minden) waren sehr nette, gemüthliche Kerls und wir unterhielten uns zusammen sehr gut. Zur Abwechslung wurde auch gesungen und gezeichnet. Dabei war alles so unübertrefflich, der Himmel so ganz heiter, die Aussicht (namentlich nach meinem lieben Thüringen, wobei ich recht an euch Liebe dachte) so klar und unumschränkt (wie immer auf all diesen kahlen Bergen), unsere Lage so bequem, daß in diesem Faulenzen der Vormittag wie weggeblaseny war. Indeß war es 1 Uhr geworden und von unsern Kameraden noch nichts zu sehen. Wir erklommen also, nachdem wir uns ungern aufgerappelt hatten, den hinter uns liegenden Eierhauk, die höchste Spitze des Höhenzugs, wo wir denn auch bald ihrer ansichtig wurden, wie sie, mit Heu beladen, aus einer Seitenschlucht heraufkletterten. Hier oben zeigten sich auch die einzigen Spuren einer subalpinen Vegetation || Mulgedium alpin. Carduus Personata, Anthriscus alpestris. Im Übrigen glaubte man z nicht, sich auf so bedeutender Höhe zu befinden, so warm und wonnig war es. Wir bummelten nun sehr gemüthlich auch über die andern Gipfel bis zum Ende des Dammersfelds hin. Der nächste Hügel Beilsteinaa brachte uns noch ein paar sehr seltne, subalpine Pflanzen: Woodsia hyperborea, Cynoglossum montanum, Lycop. Selago. Damit war es aber auch vorüber und ich fand von nun an keine mir neue Pflanze mehr. bb Am Ende des sonst ganz unbewohnten Höhenzugs steht 1 einsame Hütte, welche durch ihr verfallnes tristes Aussehn den schlechten Ruf der Rhön nicht minder rechtfertigte, als das ungastliche Betragen ihrer rohen Bewohner, welche uns, die den ganzen Tag nichts genossen, und also wieder ziemlichen Hunger hatten, nicht nur nichts zu essen gaben, sondern nicht einmal in die Hütte eintreten lassen wollten. Erst nachdem ihnen verschiedne Silberstücke ins Fenster gelegt waren, ließen sie sich herbei, uns mit delicater Milch für ein paar Kreuzer hinlänglich zu erquicken, und gestanden uns dann beim Weggehn, daß sie geglaubt hätten, wir wollten sie überfallen u. ausplündern! Das ist doch bezeichnend für die dortigen, elenden Zustände! –

Übrigens trennten wir uns hier wieder in 2 Hälften. Schenk wollte mit 4 cc andern noch ein paar Tage in den nordwestlichen Parthien der Rhön herumbummeln. Wir 5 mussten aber direct nach Gemünd gehen, um am Montag wieder zu Hause zu sein. Wir stiegen daher über Altglashütte noch an diesem Abend bis Brückenau herab, wobei wir, (d.h. ich und die oben genannten Beiden) glücklicher weise die beiden andern (einen echt bairischen Bierlümmel und einen sehr gutmüthigen Schwaben, der seinem Vaterlande alle Ehre machte) gänzlich verloren und auch am folgenden Tage von ihnen befreit blieben. Brückenau ist ein kleines, ganz hübsch in einem engen Thal gelegnes Städtchen, bekannt durch den ½ Std. entfernten, gleichnamigen Badeort, den wir nicht besuchten, dafür aber uns sein vortreffliches Mineralwasser das dd viel mehr Kohlensäure als Selterswasser enthält und nebenbei durch sehr wenig Eisen sehr angenehm leicht adstringirend schmeckt, vortrefflich munden ließen. ||

Der folgende Tag, Sonntag der 1 Juli, an welchem ich Deiner, meine liebe Mutter, recht viel und innig gedachte, führte uns meist durch ziemlich einförmige Gegenden, viel Wald, aber auch viel Chaussée und viel Hitze, so daß wir beschlossen, in einem fort durchzulaufen, was wir denn auch mit so viel Energie durchführten, daß wir die 10 bair. Poststunden bis Gemünd in 8 zurücklegten und bereits um 2 Uhr an unserm Ziel einliefen. Das einzige dabei Erwähnenswerthe wäre vielleicht unser Aufzug, der so klassisch burschenmäßig war, daß uns die Dorfjugend immer in lautem Hallo nachlief und wir selbst nicht wenig darüber scherzen und lachen mußten. Ich muß euch nothwendig noch eine Skizze davon machen. Da es sehr drückend heiß war, so wurden alle irgend entbehrlichen Kleidungsstücke in die Reisetasche gesteckt, so daß schliesslich Alles, was ich auf dem Leib hatte, in ee 5 Stücken bestand, nämlich: l) ein Hemd, vorn auf der Brust ganz offen, mit großem rückgeschlagenem Kragen 2) mein alter grauer Rock, auf einer Seite vollständig perforirt 3) die schwarz weiß carirten Sommerhosen (ohne Unterhosen) bis über die Knie in die Höhe gestriffelt 4) Strümpfe und 5) darüber die klobigen Alpenschuhe. Nun denkt euch dazu noch auf der rechten Schulter die Reisetasche, auf der linken die eiserne Drahtpresse herabhängend, ff beide vorn und hinten durch Stricke zusammengeknüpft und daran noch ein paar Gläser mit allerlei Gewürm (Salamander, Eidechsen etc) befestigt, ferner in der rechten Hand einen großen Knüppel, in der linken 1 Paket Wurzeln und Kräuter – und ihr habt das vollkommne Bild des zierlichen, wilden Bergschotten, oder des kräutersammelnden Landstreichers, oder des reisenden Naturforschers – oder wie ihr sonst wollt! Ganz prächtig marschirte sichs aber in dieser leichten Tracht, das muß wahr sein, dafür wurde ich aber auch im Gesicht und auf der Brust so verbrannt, wie wohl noch nie, so daß noch bis vor einigen Tagen sich beständig neue Haut bildete und wieder ablöste und ich mich wenigsten 5 mal ordentlich gehäutet habe. Meine Bekannten zogen mich schrecklich mit meinem „braunen Leder“ auf, || und Virchow meinte am folgenden Tag nach dem Colleg gleich in seiner ironischen bekannten Manier: Nun, Herr H. Sie beabsichtigten wohl ganz besondre Eindrücke zu machen, daß Sie sich so urplötzlich ein so indisches Colorit angelegt haben! – Im Übrigen bekam mir die ganze Tour ausgezeichnet, obwohl sie doch, namentlich am ersten Tage, ziemlich strapaziös war, und ich bin gutes Muths, daß ich auf den Alpen wieder ganz ordentlich werde meine untern Extremitaeten gebrauchen und ausbilden lernen. Auch in anderer Hinsicht hat mir diese Excursion (seit langer Zeit wieder die erste und wahrscheinlich für immer die letzte botan. Excursion) viel Vergnügen und Nutzen gebracht. Ich habe dabei gesehen, daß ich, Gott sei Dank, doch lange nicht der alte versimpelte Philister und verthierte Heusammler mehr bin, der ich leider so lange Zeit gewesen. Die wirklich kindische Spielerei, gg zu der man das an und für sich doch ziemlich unwissenschaftliche Pflanzensammeln treiben kann, und zu der ich es selbst früher trieb, ist jetzt ganz vorüber, wie ich recht gut sehen konnte, wenn ich auch mit ein paar Andern verglich, die grade so versimpelt thaten, wie ich vormals. Auch mehrere Tage viel mit Prof. Schenk zusammen zu sein, war mir sehr lieb. Auf so einer Reise, wo man Alles gemeinschaftlich durchmacht, lernt man die Menschen besser kennen, als sonst irgendwo; und da habe ich denn auch gesehen, daß ich ihn [in] der That ziemlich richtig erkannt, und daß er zwar ein ganz guter, auch leidlich tüchtiger, andrerseits aber auch schrecklich trockner, einseitiger und langweiliger Kerl ist. Dann habe ich dabei auch noch ein paar sehr nette Leute, Paulitzky aus Wetzlar und v. Betzold aus Ansbach, kennen gelernt (hh auch hierin, nämlich an der Bekanntschaft mit vielen verschiednen Charakteren, finde ich jetzt viel mehr Vergnügen, als früher. Ich finde, daß das sehr bildend ist, den Ideenkreis erweitert und vor Einseitigkeit schützt; man lernt dadurch auch sich selbst viel besser kennen). Endlich bin ich einmal ein paar Tage recht herzensvergnügt gewesen, und zwar nicht nur auf meine Art, sondern auch mit den andern, allgemein menschlich. So war auch noch die Rückfahrt auf der Eisenbahn von Gemünd sehr lustig und fidel. –

a gestr.: allen; b gestr.: wirst; c gestr.: doch gut; eingef.: erfreulich; d gestr.: in; e gestr.: kriti; f gestr.: nach d; g gestr.: meiste; h gestr.: müssen; i gestr.: und; j Text weiter auf S. 2–3 oben: Fast hätte ich … führen kann! –; k eingef.: That; l gestr.: Kiss; m Reihenfolge korr. aus: Badegäste enuyirenden; n korr. aus: Ragolzci; o gestr.: Gra; p gestr.: h; q gestr.: zwi; r gestr.: Os; s gestr.: d; t gestr.: Hal; u gestr.: mehr; v eingef.: zu; w gestr.: konnten; x korr. aus: ein; y korr. aus: wegbgeblasen; z gestr.: sich; aa eingef.: Beilstein; bb gestr.: Im Ganzen; cc gestr.: den; dd gestr.: se; ee gestr.: 4; ff gestr.: ferner in der rechten; gg gestr.: d; hh gestr.: worauf ich was

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
16.07.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37433
ID
37433