Ernst Haeckel an Carl Gottlob und Charlotte Haeckel, Gratz, 12. März 1871

Gratz 12/3 71

Liebste Eltern!

Gestern (Samstag) Abend bin ich glücklich hier angekommen, nachdem ich vier sehr merkwürdige und bewegte Tage in Wien verlebt habe. Wie Ihr aus meinem letzten Briefe wißt, kam ich Dienstag Morgen in Wien an, nachdem ich einen sehr netten Tag (den Montag) in Prag mit unserem alten Freunde Esmarch verlebt hatte. Wien hat sich colossal verändert, seitdem ich nicht dort war (1857). In diesen 14 Jahren sind alle Festungswerke, die Wälle etc niedergerissen, die Gräben ausgefüllt, und die Glacis in eine prachtvolle Ringstraße verwandelt worden, welche die Pariser Boulevards an Glanz und Pracht weit übertrifft, überaus lebendig, lärmend und beweglich. || Von den Merkwürdigkeiten Wiens habe ich diesmal nur wenig gesehen, da ich fast die ganzen vier Tage im Unterrichts- Ministerium zugebracht habe, in Conferenzen mit den beiden Unterrichts-Ministern (dem abgetretenen Stremayr, einem sehr trefflichen Mann) und dem neugebackenen Jirezek (einem traurigen Schuster); ferner mit den drei Ministerial- Räthen des Unterrichts- Departements, den Hofräthen Erhart, Heyder, Jellinek; und dem Vertreter des Unterrichts- Ausschusses im Reichsrathe, Süss. Die Besprechungen betrafen theils die Reform des österreichischen Universität- Wesens und der Wiener Universität im Allgemeinen, theils meine Berufung || nach Wien. Die letztere wurde aufs Neue mit allen Mitteln der Überredung und Versprechung in Scene gesetzt, und mir so glänzende Bedingungen gestellt, daß ich wirklich zweifelhaft geworden bin. Indessen habe ich vorläufig alle Bewerbungen abgeschlagen und bleibe mindestens noch ein Jahr in Jena, und wahrscheinlich für immer.

Aber verlockend waren die Angebote genug! Erstaunt war ich über die ganz außerordentliche Popularität, deren sich meine Schriften, besonders die Schöpfungsgeschichte, in Wien erfreuen; die Verehrung und Bewunderung, mit der ich überall, auch von den Professoren beweihräuchert wurde, war fast zu viel und hat mich halb krank gemacht. || Gestern (Samstag) Morgen 10 Uhr fuhr ich aus Wien und kam um 6 hier an. Den Abend und den ganzen heutigen Tag verbrachte ich mit meinem alten Freunde Professor Oscar Schmidt. Heute Mittag aß ich bei ihm zusammen mit dem Professor der Chemie Heinrich Schwarz (dem alten Merseburger). Morgen (Montag) früh reise ich mit Oscar Schmidt nach Triest, wo ich vorläufig bleiben und Schwämme suchen will.

Bitte schreibt mir nach Triest unter der Adresse: Professor Haeckel aus Jena,

Locanda Grande, Triest.

Schickt diesen Brief auch an Carl.

An Agnes habe ich heute direct geschrieben, nachdem ich gestern einen Brief erhalten. Leider geht es ihr immer noch nicht besser, was mich sehr betrübt.

Euch geht es hoffentlich gut.

Mit den herzlichsten Grüßen

Euer Ernst

Brief Metadaten

ID
37399
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Österreich
Datierung
12.03.1871
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,1 x 21,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37399
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Graz; 12.03.1871; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_37399