Haeckel, Charlotte

Charlotte Haeckel an Ernst und Agnes Haeckel, Berlin 3. – 5. September [1870]

Berlin d. 3ten September

Liebe Kinder!

Beim Licht unserer Illumination will ich noch meinen Lieben nach Jena, einen herz innigen Gruß schicken. Heute ist hier im ganzen Volk der Jubel unbeschreiblich, eine Sieges Nachricht verdrängt die andere. Gebe Gott, daß nun auch das Blutvergießen aufhört. Alle Schulen haben heute frei, da zogen immer Trupps von Jungen mit Fahnen durch die Stadt, gleich nach || der Nachricht, daß Napolion gefangen sei, ist ein Junge auf das Monument bei Königs Palast gestiegen, hat dem alten Fritz einen Kranz auf gesetzt und die Fahne geschwänkt. Den ganzen Tag wogte die Menschenmenge unter den Linden, um 5 Uhr fuhr ich mit Vater dort, allea Häuser mit Fahnen geschmückt und solche Menschenmenge, wie ich nie gesehn. Dort || begegnete uns auch dein Schwager, Ernst Reimer in einer Droschke mit Frau und Kinder. Als wir zu Hause kamen, war Karl auf einen Augenblick bei uns, der mit andern Potsdammern eine Verabredung hatte, sich hier die Illumination anzusehn. Es geht seiner Frau und den Kindern gut. Was das Beßte ist er hatte heute einen Brief von dem Doctor erhalten, bei dem Karl ist, der berichtet sehr || günstig. –

Montag Abend. Vorgestern konnt ich nicht fertig schreiben, und gestern ließ ich es, weil Du gewöhnlich Sonntags schreibst, und deshalb dachte ich heute von Dir Nachricht zu bekommen. Da das nun nicht geschehen, so habe ich rechte Sorge ob Du wieder unwohl bist, und ich bitte Dich dringend, mir umgehend und wenn es nur mit ein paar Wortten sein kann, zu sagen aber ganz aufrichtig, wie es Dir und den Deinen geht. – ||

Gestern war Frau Professor Weiß bei uns zu Mittag, die Dich herzlich grüßt. – Wie ist es denn; wirst Du nicht bald zu uns kommen, wir sehnen uns recht nach unserem alten Jungen. – In dieser ernsten, schweren Zeit möchte man so gerne sich mit seinen lieben aussprechen; und Du fehlst mir recht, mir ist es immer als verständest Du am besten, was mich innerlich bewegt. ||

Seit dem Kriege habe ich sorgfältig alle Zeitungen aufgehoben, damit wenn Du kommst, Du noch nachsehn kannst, was Dich besonders interessiert. Eben sehe ich aus der heutigen Abendzeitung, daß in Paris die Republik erklärt ist; und die jetzt an der Spitze stehn glauben noch Frankreich zu retten; ich dachte nachdem die Armee geschlagen und Napoleon gefangen ist, wür-||de sich Paris ergeben. Ach, wenn nur erst das Blutvergiessen aufhöre. Ich kann Dir nicht sagen, wie traurig es mir ist, wenn ich so die leicht Verwundeten auf der Strasse humpeln sehe, und ich dabei denke, wie schlimm es erst mit den schwer Verwundeten aussehn mag.

Wenn Du herkommst, so bitte ich Agnes, daß sie nicht vergißt und Dir genau mit giebt, wie und was sie für Wäsche || zu dem kleinen Bettchen wünscht; damit ich es in Zeiten machen kann. Im Ganzen wird jetzt meist für die Soldaten gearbeitet. – –

Willst Du in der hinteren Stube schlaffen oder Oben in der kleinen?? –

Vater grüßt Dichb herzlich und mit mir Deine liebe Frau, und das süße Putchen. Es ist mir doch sehr betrübt, daß ich Deinen kleinen Liebling gar nicht sehe, gieb ihm von mir einen herzlichen Kuß. Wie immer Deine

alte Mutter Lotte.

a korr. aus: alles; b eingef.: Dich

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
05.09.1870
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 36319
ID
36319