Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 12. Mai 1867

Berlin 12 Mai 67.

Mein lieber Ernst!

Deinen Brief von Vorgestern haben wir heute früh erhalten. Wir haben uns sehr gefreut, etwas von Dir zu hören. Daß Du die bittre Einsamkeit und den Mangel der Liebsten mehr als je empfindest, finde ich natürlich. Es wird noch einige Zeit vergehen, ehe Du Dich wieder in einem behaglichen Geschäfts Kreise fühlst. Die Collegien und die literarischen Fehden werden Dich schon wieder hinein bringen, und die letztern werden Dir nicht unerwartet kommen. Du hast sie ja längst vorher gesehen. Die Hauptsache dabei ist, daß Du Dich wieder in einer angemeßenen Thätigkeit fühlst und da ist Jena bei dem frischen Geist Deiner Zuhörer ein sehr paßender Ort. Daß Gegenbaur so verstimmt und unwohl ist, thut mir sehr leid. Deine Gegenwart wird ihm wohl wieder aufhelfen. Auch denke ich, wir werden diesen Sommer wohl noch manche hübsche Stunde zusammen erleben. Ich laße ihn herzlich grüßen.

Ich habe heute früh das Abendmahl genoßen. Das ist bei mir keine hergebrachte gedankenlose Förmlichkeit, vielmehr ein tiefer sittlicher Ernst. Schon seit mehreren Tagen lebe ich ganz in theologischen Studien. Es ist vor 30-40 Jahren darinn sehr viel geleistet worden von vielen gelehrten, scharfsinnigen und der Sache eifrig zugethanen Männern. Bleek etc. und die Bücher liegen mir alle vor. Das Factum ist allerdings nicht wegzuläugnen, daß die europäische Welt durch das Christenthum civilisirt, daß sie menschlich entwikelt worden und daß sich die Civilisation von hier aus über die Erde verbreitet, zunächst nach Amerika, auch in Africa ist der Anfang gemacht; beides ist von der Sklaverei aufs höchste gedrükt wie uns Bahrdt benachrichtigt hat und die Franzosen werden es schon weiter bringen. Zunächst kommt es uns darauf an zu wißen, wie die Evangelien entstanden und was davon ächt ist, ob sich die Sachen wirklich so ereignet haben wie das neue Testament sie darstellt. Darüber sind die gründlichsten, gelehrtesten und scharfsinnigsten Untersuchungen geführt wurden und wir sind keinesweges genöthigt, uns einem blinden Glauben zu überlaßen. Ich habe einen ganzen Tisch solcher Untersuchungen vor mir liegen und studire sie mit dem größten Intereße. Man will wißen: was an der || Sache wahres und wie auf die Evangelien zu bauen ist? Da ist man doch zu Resultaten gekommen, über welche sich eine übereinstimmende Meinung gebildet hat und ein Mann von Verstand und Unbefangenheit kann diese Resultate zusammenfassen.

Daß sich Christus als der Meßias betrachtet und angesehen hat, ist außer Zweifel. Wir müßen ins älteste Judenthum bis auf Abraham zurükgehn. Das Judentum barg in sich den Monotheismus, litt aber an großer Einseitigkeit. Die Juden betrachteten sich als das auserwählte Volk Gottes, als welchesa es sich dem Polytheismus der alten Welt gegenüber geltend machen konnte. Aber dieser beschränkte Monotheismus sollte gereinigt und erweitert werden. Dieses Werk zu vollbringen war die welthistorische Bestimmung des Meßias. Er war nicht Gott selbst, sondern Mensch, auch seine Schwächen gehen aus den Evangelien hervor. Die Versuchungsgeschichte, sein Leiden in Gethsemane, wo ihm die Erfüllung seines Berufs sehr schwer wurde (s. d. Aeußerung: „Wes möglich, b so gehe dieser Kelch vor mir vorüber, doch nicht mein sondern Dein Wille geschehe“). Von den Wundern laßen sich viele auf natürliche Weise erklären, viele waren ein bloßes Erzeugniß der Phantasie des jüdischen Volks. Die Hauptsache war seine Lehre, seine sittlich freien Principien, die er täglich in dieser Lehre geltend machte. Der Hauptgrundsatz die allgemeine Menschenliebe: „liebe Gott über alles und Deinen Nächsten als Dich selbst“ welcher die Anerkenntniß des geistigen mit Vernunft begabten Lebens jedes Menschen und die Forderung enthielt, dieses Leben zu befördern und die menschliche Kultur auf der ganzen Erde zu verbreiten. So ist das Christenthum als Weltreligion berechtigt und durch daßelbe die Entwikelung der Menschheit gesichert.

Ich bin sehr begierig auf Deine Erzählungen über Afrika, Spanien und Paris. Ritters Europa, das über Spanien sehr ausführlich ist, wirst Du in diesen Tagen erhalten haben. Für heute genug.

Dein Alter Dich liebender Vater

Hkl

a korr. aus: welcher; b gestr.: daß;

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
12.05.1867
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36058
ID
36058