Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Hirschberg, 5. Juli 1863

Hirschberg 5 Juli 63.

Lieber Ernst!

Wir sind gestern, nachdem wir 10 Tage in Landsberg gewesen, hier angekommen und ich habe nicht unterlaßen wollen, Dir, Deiner Anna und Tante Weiss einige Nachricht von uns zu geben. Der Aufenthalt in Landsberg bildet einen besondern Abschnitt in unsrer Reise und ich habe Dir sagen wollen, was Landsberg für einen Eindruk auf mich und Mutter gemacht hat. Im Ganzen einen günstigen! Die Stadt zählt etwa 16000 Einwohner, ist am Ufer der Warthe lang und schmal gebaut und ist in frühern Zeiten eine Grenzstadt der Neumark gegen Polen gewesen. Die Neumark ist in frühern Jahrhunderten germanisirt worden. Sie enthielt jenseits der Warthe noch große waldigte, unbebaute Brüche. Diese wurden zuletzt in den 70ger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Friedrich II. urbar gemacht und in Akerland verwandelt. Man sieht daher jenseits der Warthe außer einigen alten Dörfern sehr viele einzelne Kolonistenstellen mit etwas Aker, so viel, daß der Kolonist davon leben kann. Das Wohnhaus steht in der Regel besonders und ist nicht im Styl alter Dörfer, sondern nach neuer Art gebaut, d. i. Die Ställe sind nicht im Wohnhause, sondern entweder in der Scheune oder besonders gebaut. Die Menschen sind fleißig, nüchtern und tüchtig. Man kann dieses überhaupt von den Neumärkern sagen. Am rechten Ufer der Warthe ganz nahe an der Stadt sind lauter Hügel, fruchtbar und in Getreidefelder verwandelt. Steht man auf diesen Hügeln, so hat man einen sehr hübschen Blik ins Warthebruch. In diesem Bruch finden sich viele einzelne Pappelalleena, welche das Bruch durchschneiden und ihm den Charakter der Einförmigkeit nehmen. Die Hügel laufen auf dem rechten Ufer mehrere Stunden lang fort, dann beginnt westlich der Wald, sowie er sich auch nördlich von Landsberg etwa 2 Stunden von der Stadt findet. In der Nähe der Stadt findet sich kein Wald, auch keine Schatten gebenden Alleen und keineb kleinen Waldfleken, was ein großer Mangel ist, den besonders Karl stark fühlt. Die Stadt Landsberg hat ein freundliches Ansehn, auch sie ist im neuern Styl gebaut, hat keine alten Häuser und Kirchen, wie man es in den alten deutschen Ländern findet. Sie hat als eine alte Grenzstadt gegen Polen an einem schiffbaren Strom viel Verkehr mit Holz und Vieh, welche aus Polen kommen. Die Einwohner sind meist Handwerker und Handelsleute, unter den letztern viel Juden. 2 Institute haben in der neuesten Zeit || für die Umgegend viel Anziehungskraft, das große Kreisgericht von 12 Mitgliedern und ein großes Gymnasium. Ersteres führt viele Bewohner der Umgegend in die Stadt, und das Gymnasium veranlaßte viele Pensionärs, welche ihre Kinder gut erziehen laßen wollen, sich in Landsberg niederzulaßen und dort zu wohnen, welches die Miethen etwas theurer macht. Carl wird unter 200 rl. keine annemliche Wohnung, die ihm jetzt fehlt, finden können. Mimi und die Kinder haben wir alle munter gefunden und Carl und Mimi wird es, wenn sie sich erst dort eingewohnt haben, an einem paßenden Umgang nicht fehlen. Sie werden sich einige Jahre dort behelfen müßen, bis andere Zeiten kommen. Was diese betrifft, so müßen wir mit Ausdauer denselben entgegensehen und uns inzwischen so benehmen, wie es Menschen geziemt, denen politische Freiheit, wie die fortschreitende Kultur des Menschengeschlechtes erfordert, ein wesentliches Bedürfniß ist. Wir können einer verblendeten, reaktionären Regierung nur paßiven Widerstand entgegen setzen, offne Auflehnungen mit Gewalt führen zu gar nichts, sondern machen nur das Übel ärger. Aber der Regierung muß bei jeder paßenden Gelegenheit offen gesagt werden, daß sie eine bloße Willkühr Regierung ist und daß bei uns in Preußen nicht Gesetz und Recht, sondern nur die Gewalt herrscht. Wenn solche Äußerungen Geld- und Gefängnißstrafen zur Folge haben, so muß man sich denselben unterwerfen, je mehrere desto beßer. Die Regierung muß fühlen, daß sie auf ihrem Wege immer tiefer in das Gebiet der Tyrannei hinein geführt [wird] und das wird wirken, bis entweder eine Thron Veränderung erfolgt und der Kronprinz zur Regierung kommt, oder bis die Regierung das Volk braucht und dieses ihr alle Mittel zur Kriegführung versagt. Inzwischen hilft sich die gebildete Klaße des Volks durch Verbreitung von Flugschriften, die den Geist des Volks rege erhalten. Auch wird wohl das fortgesetzte unsinnige Verfahren der Regierung sie immer mehr discreditiren, wie dieses schon jetzt der Fall ist. Man darf nur die Verwarnungen sammeln und sie gesammelt vertheilen, was die Regierung doch nicht hindern kann, so wird sie schon jetzt an den Pranger gestellt. Auch die Gerichte benehmen sich || mit unter skandalös. Die erkennenden Abtheilungen sind von der Regierung meist mit Reaktionärs besetzt, die in ihren Sinn erkennen. Doch findet man hin und wieder auch gute Erkenntniße. Es steht ein sehr übler Paragraph (§. 101) im Strafgesetzbuch, der schwachen Richtern hinreichende Veranlaßung giebtc, sich zu rechtfertigen. – Wir sind nun seit gestern Mittag hier in Hirschberg eingezogen und haben hier große Veränderungen gefunden. Die Gebirgsd Eisenbahn, welche in 2-3 Jahren fertig sein wird, verwandelt Stadt und Gegend auffallend. Schon jetzt habe ich meine Vaterstadt kam wieder erkannt, die Stadtmauern sind abgeworfen und in die davor liegenden Gruben geworfen, welche mit dem Schutt ausgefüllt sind und in Promenaden verwandelt werden. In der Nähe dieser Promenaden, werden in der Vorstadt, welche viele Gärten besitzt, viele neue Häuser aufgeführt und die Vorstadt überhaupt da, wo sich schöne Aussichten darbieten, bedeutend erweitert. Die Anlage der Eisenbahnen wird durch die Versorgung mit wohlfeilen Kohlene viele neue Fabriken und Etablissements herbeiführen und schon jetzt soll die Streke zwischen Warmbrunn und Hermsdorf unter dem Kienast mit Häusern und Etablissements so ausgefüllt sein, daß beide Ortschaften fast nur Einen Ort bilden. Warmbrunn ist in diesem Jahr sehr stark besucht, es zählt jetzt noch über 2000 Badegäste. So nimmt Verkehr und Wohlstand immer mehr zu und so wird sich das schöne Hirschberger Thal, welches vor 60 Jahren durch den Leinwandhandel, der jetzt sehr versiegt ist, außerordentlich blühend war, wieder beleben. Dieses Sinken des Wohlstands nach dem Kriege, indem sich die Handelsverhältniße zwischen Europa und America ganz anders gestaltet hatten, hat mich in den 20ger und 30ger Jahren dieses Jahrhunderts sehr tief betrübt, ich sah das wohlhabende Land sehr verarmen, jetzt sehe ich noch auf meine alten Tage deßen Wiederbelebung, was mich ungemein freut. Täglich besuche ich die alten Wege, die ich als Knabe und Gymnasiast so oft durchwandert habe. Manche sind durch die jetzt eintretenden Veränderungen schon sehr verwandelt. Aber ich erkenne auch in diesen Veränderungen einen großen Akt der Weltgeschichte und betrachte sie in dieser Hinsicht mit Vergnügen. Die Natur ist hier doch im ungemein schön. || Als wir gestern von Loewenberg über die Berge hierher fuhren, hatten wir auf der sogenannten Röhrsdorfer Höhe eine ungemein schöne Aussicht. Nach Norden und Osten sieht man das platte fruchtbare Land mit einzelnen hervorstehenden Bergen in demselben, insbesondre den Grädigberg und den Probstheimer Spitzberg, letzterer ganz vulkanisch. Man fährt von Loewenberg in Thälern, die mit langen Dörfern gefüllt sind, allmählich mehrere Stunden bergauf und das Riesengebirge bleibt durch die Vorberge ganz verdekt. Kommt man aber auf die Röhrsdorfer Höhe (in der Nähe des ehemaligen Klosters Liebenthal), so steht das Riesengebirge wie durch einen Zauberschlag geöffnet mit Einem Mahle da und man erfreut sich der reizendsten An- und Aussicht. Hat man hier auch keine Alpen, so gewährt doch der Gebirgskamm und ins Besondere die Schneekoppe einen imponirenden Anblik. Kommt man eine Meilef von Hirschberg in ihre Nähe, so sieht man sie auf einmal und ununterbrochne 4000 Fuß emporsteigen, was einen gewaltigen Eindruk macht. Ich habe viele Jahre hier in Hirschberg und in Landeshut in ihrer Nähe gewohnt und doch konnte ich mich gestern als ich sie wieder sah, eines Gefühls ihrer Erhabenheit nicht enthalten. Wir leben nun hier bei Schuberts sehr angenehm wie zu Hause und erwarten zu Ende dieser oder Anfang künftiger Woche unsern Carl. Der Verkehr mit so vielen Fremden und der tägliche Genuß der schönen Gegend hat doch die g hiesigen Einwohner vor dem Versinken in ein großes Philisterthum h bewahrt und man findet nicht selten empfänglichen Menschen, zu denen auch mein Schwager Lampert gehört. Adolph Schubert war in diesen Tagen sehr hypochondrisch (ich kenne diesen Zustand aus frühern Jahren), heute geht es wieder beßer. Er hat eine brave Frau, einen prächtigen kleinen Jungen und es fehlt ihm äußerlich nichts, und doch raubt ihm seine Verstimmung, die körperliche Gründe hat, vielen Genuß. Unsere Mama ist von der Reise (wir waren vorgestern die ganze Nacht durchgefahren) etwas angegriffen und pflegt sich. Sie läßt Euch, so wie Tante Weiss, der ich diesen Brief mitzutheilen bitte, herzlich grüßen. Wir haben in Landsberg gefroren, gestern und heute aber einige heiße Tage gehabt. Jetzt aber zieht ein Gewitter im Gebirge herum. Auch Herrn Profeßor Barth bitte ich zu grüßen.

Euer Alter Hkl

a irrtüml.: Papelallellen; b eingef.: keine; c eingef.: giebt; d eingef.: Gebirgs; e mit Einfügungszeichen eingef.: durch die Versorgung mit wohlfeilen Kohlen; f gestr.: Stunde; eingef.: Meile; g gestr.: schöne Gegend; h gestr.: sehr

Brief Metadaten

ID
36056
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsland aktuell
Tschechien
Datierung
05.07.1863
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
22,8 x 14,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36056
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Hirschberg (Jelenia Góra); 05.07.1863; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_36056