Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 24. März 1863

Berlin 24 Maerz 63.

Mein lieber Ernst!

Deinen Brief, worin Du uns Deinen Vortrag in Weimar beschreibst, haben wir gestern erhalten und ihn mit großem Intereße gelesen. Es thut einem außerordentlich wohl, wenn man einmal ein Fürstenpaar und einen Hof sieht, der sich der höheren geistigen Intereßen annimmt und sie direkt begünstigt, und in deßen Nähe man allen erbärmlichen Schnikschnak des gewöhnlichen Hoflebens vergeßen kann. Hier bei uns ist es anders, das schmekt alles nach Militär und Uniformen und die größten Lumpereien und Bagatellen werden mit einer Wichtigkeit behandelt, daß einem alle Lust vergeht, sich ihm zu nähern. Ich habe auch ana allen Festlichkeiten des 17ten Maerz keinen Antheil genommen, ungeachtet ich dazu eingeladen war. Zuerst scheute ich die körperlichen Anstrengungen, das lange Stehen im Freien, sodann die Beschwerlichkeiten eines großen Diners, sodann vermuthete ich wenig Bekannte dort zu finden, da meine militärischen Freunde alle todt sind, endlich fehlte mir die innre Freudigkeit bei unsern politischen Conflikten, die es auch zu Wege gebracht haben, daß das ganze Fest nicht als ein Volksfest, sondern nur als ein militärisches betrachtet worden, so daß das Volk hier in Berlin fast gar keine Theilnahme bezeigt hat. Die Sachen sind nun einmal nicht zu ändern und es ist am Sonntage (des Königs Geburtstage) sogar aufgefallen, daß der König die Präsidenten des Abgeordnetenhauses freundlicher empfangen hat, da man an dergleichen Dinge gar nicht mehr gewohnt ist. Die Sachen müßen ihren Gang gehen, die Weltgeschichte rechnet nicht nach Jahren, sondern nach Generationen, in 50 Jahren werden wohl die Sachen etwas weiter vorgerükt sein. Wie vieles hat sich, während ich lebe, schon ungeheuer verändert. Wenn ich also jetzt, wo ich am Ende meines Lebens bin, viel ruhiger zusehe, so darf Dich dieses nicht wundern. Es hat 200 Jahre gebraucht, ehe sich in Preußen die absolute Macht ausgebildet hat, nun sie ihre Dienste gethan und sie nun einer beßeren Einrichtung weichen soll, so darf es nicht wundern, daß der alte Absolutismus, der sich in unsern Königen personificirt hat, nicht so schnell weichen will, sondern die Sachen aufzuhalten sucht. Trotz demb ärgert man sich doch oft über die Verkehrtheiten und Bornirtheiten des Augenbliks und es bedarf wieder der historischen ruhigen Ansicht, um sich des Aergers wiederum zu entschlagen. – Mir sind doch in diesem Winter meine 80ger Jahre sehr fühlbar geworden, ich kann im Ganzen immer noch sehr zufrieden sein, aber Alter bleibt Alter, d. i. die Kräfte nehmen sehr ab und man kann nicht mehr mit der Welt so fortleben wie früher. Man muß die größte Diät in allem halten, um nicht aus dem Gleise zu kommen und so mobil, wie in den 70gern bin ich nicht mehr. Ich lese, schreibe, gehe spatzieren, besuche den engern Kreis unsrer Freunde und Verwandten, aber das vorherrschende Geschäft ist doch dieses, daß ich ein bloßer Zuschauer in dieser Welt geworden bin, das ist freilich das allgemeine Loos des Alters und wenn man auch dieses gewonnen hat, das Leben von einem höhern allgemeinen Standpunkt zu übersehen und die Bedeutung der einzelnen Dinge richtiger zu schätzen, so ist man durch die Inaktivität des Alters auch dieser Welt fremder geworden. Indem ichc über die Bedeutung dieses Erdenlebens nachdenke und die Resultate ziehe, d wächst zugleich die Begierde zu erfahren, wie es in jener Welt aussehen wird. Denn wir stehen doch hier vor lauter verschlossenen Räthseln, deren Lösung wird dort erwarten und eure naturhistorischen Forschungen tragen sehr viel dazu bei, uns diese Räthsel so recht klar vor Augen hinzustellen, wozu ja auch Dein Vortrag am Weimarschen Hofe ein Beleg ist. Ich verfolge diese Räthsel wieder auf andre Weise, wie sie sich nur in der Weltgeschichte darstellen und wie ich da den Durchbruch höhrer Ideen durch den Verlauf der Weltgeschichte verfolge. So bleibt mir z. B. der Durchbruch der christlichen Ideen, worauf unsre ganze jetzige Civilisation ruht und woraus sie hervorgegangen ist, das größte historische Wunder. In unscheinbarer niedriger Gestalt hat sich eine göttliche Idee, die menschliche Herausbildung des Menschengeschlechts, in Christo verkörpert, durch ihn e haben wir erst das Göttliche in jedemf Menschen schätzen und achten lernen und daraus ist seine Berechtigung, seine göttliche Anlage in der Welt geltend zu machen, hervorgegangen und anerkannt worden und so spielt diese Idee NB. So war es zu der Griechen und Römer Zeiten nicht, sie fanden die Sklaverei und Unterdrükung andrer Völker ganz natürlich. || selbst in dem gegenwärtigen Augenblik in den Forderungen der Völker für eine nationale Behandlung Polens eine große Rolle. Soviel ist gewiß: die Rußen sollen die Polen nicht zu Rußen machen, die Polen haben einmal eine besondre Individualität. Eine ganz andre Frage ist: wie viel Freiheit man ihnen g nach außen gestatten, welchen Wirkungskreis man ihnen nach außen zu laßen kann? und da zeigt sich selbst in den neuesten Augenbliken ihre Unfähigkeit zu einer ganz selbstständigen politischen Existenz nach außen. Denn Polen sind ungezogene, unbändige Kinder, die sich, sobald manh sie ganz frei gewähren läßt unter einander zerfleischen und auffreßen, wie sich jetzt wieder in dem Zwiespalt zwischen Mieroslawski und Langiewicz zeigt. Die Rußische Eroberungssucht hat aber auch ihre Lexion bekommen, anstatt das unbändige Polenvolk in ruhigerem Gleise zu erhalten und ihm die Freiheit zu laßen, die ihm gebührt, haben sie das ganze Volk nur knechten und verderben wolln, das geht nicht mehr und in so fern ist das europäische Nationalgefühl für die Polen erfreulich. Europa ist auch politisch seit 50 Jahren viel weiter gekommen. Es bildet eine politische Einheit, auch keine der Großmächte steht mehr isolirt da, und kann nicht mehr thun was ihr gefällt. Sie bleibt dem europäischen Bildungsprozeß unterworfen, Rußland hat nur die Wahl, die Forderungen der europäischen Großmächte, Polen nach den Traktaten v. 1815 zu behandeln, zu erfüllen oder sich in Europa zu isoliren, d. i. alle politische Einwirkung auf die europäischen Angelegenheiten zu verlieren. Die i jetzige Generation sieht diese Einrichtung der Großmächte als etwas sich von selbst verstehendes an, so war es aber nicht vor 60 Jahren, grade die Napoleonische Eroberungssucht hat den europäischen Völker Verband und den ihrer Regierungen erst gekittet und keine der Großmächte kann sich mehr isolirn. Auch das ist etwas sehr Erfreuliches und ein großer Fortschritt in der europäischen Menschheit.

So eben war die Geh. Räthin Weiss bei mir, sie zieht in diesen Tagen in unsre Nähe an die Potsdamer Brüke, da werden wir uns viel öfterer sehn und auch Bahrdt wird manchmal bei uns sein. Wir haben ihr Deinen Brief über die Weimarische Vorlesung gezeigt und sie hat sich daran sehr ergötzt. – Ostern kommt nun heran und es wird ziemlich unruhig werden. Heute über 8 Tage kommt Mimi mit den übrigen Kindern und wird bis nach den Feiertagen bei uns bleiben, nächsten Sonnabend kommt Theodor Bleek nach Potsdam um seine Braut zu begrüßen. Wir hoffen die Sethesche Familie einen der Feiertage bei uns zu sehn. – Bertha hat ihr neues Quartier bezogen und wird Caroline Naumann zu sich nehmen, ihre Mutter hat sich wenigstens äußerlich gefügt. Morgen über 8 Tage werden Carls Sachen in Freyenwalde aufgeladen und nach Landsberg gebracht, Carl wird zu diesem Ende nach Freyenwalde, aber nicht hieher zu uns kommen. Carln gefällt es in Landsberg, es ist dort ein großes Kreisgericht und ein großes Gymnasium, so daß es ihm nicht an Umgang mit wißenschaftlich gebildeten Leuten fehlt. – Helene ist unwohl geworden, sie wurde ganz schwach und konnte nicht die richtigen Worte finden, ihre Gedanken auszusprechen, sie brauchte verkehrte Worte, Quinke schien aber die Sache doch nicht für etwas gefährliches zu halten. August meinte, sie hätte Phosphorusgeruch im Quartier gehabt, der auch ihn inkommodirt habe. Die Gesellschaft, j die auf heute angesetzt war, ist nun aufgegeben. Morgen Mittag sind wir bei Tante Sack. – Meine kleinen Enkel, die ich bei mir habe, unterhalten mich sehr angenehm. Carl verschlingt die Freiheitskriege von Treitzke und frägt mich aus, der kleine Heinrich ist ungemein lebhaft und drollig. Quinke hat sie beide in der Kur, Carl hat einen sehr hartnäkigen Husten und muß Ober Salzbrunn trinken, der Kleine wird täglich wegen seines Ausschlags gebadet. Mit Beiden hat es sich sehr gebeßert. ‒ Ich freue mich, daß Duk nun jetzt Muße hast und Deinen Studien nachgehn kannst, auch daß Dul nun schon im öffentlichen Vortrag Ruhe, Sicherheit und Festigkeit erlangt hast, das ist eine sehr schöne Sache. Wenn ich eine Charte vom mittelländischen Meere und den dazu gehörenden Ländern sehe, dann mache ich schon künftige Reisepläne für Dich. Inzwischen bis diese ausgeführt werden, werde ich wohl die große Reise nach Oben angetreten haben. Da werde ich noch viel mehr sehn. Mutter und Clara sind munter, wir haben in den letzten beiden Monaten viel wißenschaftliche Vorträge gehört, sind auch öfters in unsrer Familie zusammen gewesen. Auf fremde große Gesellschaften laße ich mich nicht mehr ein. Wir denken oft und viel an Euch. Unsre Kinder sind unsre Schätze.

An Georg Reimer werde ich die Göttinger Recension Deines Buches geben. Es freut mich, daß sie so gut ausgefallen ist. Nun A Dieu, liebe Kinder, bleibt recht gesund und laßt bald wieder etwas von Euch hörn.

Euer Alter Hkl.

a gestr.: von; eingef.: an; b eingef.: dem; c eingef.: ich; d gestr.: wähst; e gestr.: hat w; f eingef.: jedem; g gestr.: ha; h eingef.: man; i gestr.: Gener; j gestr.: die; k eingef.: Du; l eingef.: Du

Brief Metadaten

ID
36055
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
24.03.1863
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
27,4 x 21,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36055
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Berlin; 24.03.1863; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_36055