Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 18. Juni 1862

Berlin 18 Juni 62.

Mein lieber Ernst!

Seit Sonnabend bin ich wieder aus Freyenwalde zurük. Mutter hatte mir Deinen Brief, worin Du Deine Ernennung zum Profeßor anzeigst nachgeschikt, Du wirst meine Antwort, die in den Pfingstfeiertagen oder gleich darnach eingetroffen ist, bereits erhalten haben. Von Anna und Mutter Minchen habe ich bereits Antwort. Letztere (Minchen) will Dir jährlich 200 ₰ a für Anna geben, ich auch, nun seht zu, wie Ihr auskommt! Der Himmel gebe sein Gedeihn, vielleicht legt der Universitätsfiscus noch etwas zu, so daß Ihr wenigstens 700 ₰ habt. Ich denke, daß er wenn auch nicht sogleich, doch in nicht zu langer Zeit etwas zulegen wird. Seit Mutter Minchen mir geantwortet hat, und ich von Freyenwalde zurük bin, sindb nun c die Reisen zu diesem Sommer ziemlich fest gestellt worden. Ich reise mit Carl den 10 Julid an den Rhein, Mimi wird höchstwahrscheinlich nicht mitreisen. Carl geht nach Ems, ich nach Bonn und bleibe so lange in Bonn, als Carl in Ems. Sodann reise ich mit Carl zurük, so daß wir zwischen dem 12ten und 15 Auguste zurük sind. Mutter wird inzwischen nach Freyenwalde gehen. Minchen will schon Ende Juli hier eintreffen, um alles zur Hochzeit zurecht zu machen. Gleichzeitig wird auch Mutter wieder hier eintreffen, um alles zurecht zu machen, daß Du und wenn Du getraut bist, auch Anna bei uns logiren kannst. Wir wünschen sehr, daß Du nach der Trauung noch wenigstensf 2 Tage hier bleibst. Das Abreisen sogleich am Tage der Hochzeit misfällt uns. Wir wollen Euch ein Paar Tage als junge Eheleute haben.

Du würdest also Deine Reise mit Anna etwa den 21 Augustg antreten können. Für das Geld zu Eurer Reise müßt Ihr sorgen.h Ich gedenke sodann mit Mutter noch auf 14 Tage nach Hirschberg zu reisen zu Adolph. Deine Anstellung als Profeßor hat bei allen Freunden und Bekannten große Freude erregt. Am Sonnabend Abend war ich in der geographischen, da traf ich Barth, Chamisso, Hartmann, Reimers, die sich alle sehr freuten. Auch Ehrenberg habe ich Deine Anstellung mitgetheilt. Ich sagte ihm: das Einkommen sei etwas knapp. Er frug: ob Du ein Fixum bekämst? Ich sagte: als Direktor des zoologischen Museums. Er meinte: es wäre doch ein guter Anfang, wenn i Deine Einnahme im Anfang auchj etwas knapp sei. – Die Gelehrten sind das schon gewohnt, mit Geringem anzufangen, so wird wohl auch Dein Einkommen wachsen. Anna hat mir auch geantwortet und mir zugesagt: daß sie recht wirthschaftlich sein will. – In Freyenwalde habe ich unter den Kindern recht vergnügt gelebt, es sind doch hübsche Kinder, Carl sehr verständig und lernbegierig, Hermann sehr liebenswürdig, der kleine Heinrich, mit dem ich mich viel beschäftigte, ein sehr kräftiger Junge, er hat ganz mein Temperament, das wird ihm etwas zu schaffen machen. Da muß man einen starken Willen haben. Ein solches Temperament ist wie ein wildes Roß, mit dem mank zwar etwas ausrichten kann, daß man aber stark im Zügel halten muß, damit man nicht abgeworfen wird und damit es nicht durchgeht. Die kleine Anna und Marie sind auch liebe Kinder. Der Unterhalt einer solchen Familie will schon etwas sagen. Mutter Minchen schreibt: sie hoffe durch ihren Ueberzug nach Frankfurt etwas zu ersparen und dann wolle sie allmählich den bedürftigsten Kindern etwas zulegen. Jetzt wünsche ich nur: daß Carl eine für ihn paßende Stelle bekommt. Er muß, wenn eine offen wird, sich melden und dem Justizminister, der in so zurükgesetzt hat, auf den Leib gehn. Wenn Minchen von hier fortgegangen ist, wird sich inl unserem Umgang manches ändern. Wir waren viel mit ihr zusammen und es werden nun wohl andre Freunde eintreten. Die Weiss hat sich in Heringsdorf sehr gut gefallen. Sie wird morgen Mittag bei uns eßen. ||

Wie steht es mit der Anschaffung des Kant? Das geht mir sehr im Kopfe herum und doch ist mir 10 ₰ zu viel. Einzelne Schriften von ihm habe ich noch: Die Kritik der Urtheilskraft, sowie physische Geographie, auch die Anthropologie habe ich gehabt, kann sie aber nicht finden. Kant ist ein prächtiger Mensch; Es freut mich ungemein, daß Du nun in ihn hineingeführt wirst.

Ich habe in diesen Feiertagen: „Die römische Sittengeschichte unter dem Kaiserreich“ von Friedländer in Königsberg gelesen. Das hat mich ungemein intereßirt. Jetzt lese ich: Die bürgerliche Gesellschaft in der altrömischen Welt von Schmidt (eine gekrönte Preisschrift). Dazu die ältere Kirchengeschichte von Hagenbach. Alle 3 führen in das römische Leben der 1sten Jahrhunderte ein. Dieser Umschwung der Weltgeschichte ist höchst lehrreich, dam lernt man erst von außen erkennen: was Christenthum ist. Im Innern muß es jeder mit sich durchmachen. Das Christenthum hat die Welt umgestaltet. Aus ihm ist die europäische Civilisation hervorgegangen. In Christo ist ein göttliches Princip in die Welt getreten und hat die Welt reformirt und so wird auch die europäische Civilisation allmählich die Runde um die Erde machen. Das Eingreifen dieses göttlichen Princips durch den innern Menschen ist das, was die Bibel den heiligen Geist nennt. Sydow hat am 1sten Feiertage hierüber sehr schön gepredigt. Die Einheit Gottes durchströmt die ganze Welt, nicht bloß in der Natur offenbart sich Gott, auch in der Weltgeschichte. Er hat dem Menschen den freien Willen gelaßen, um sich selbstständig zu Gott zu erheben. Aber trotz alles Misbrauchs dieses freien Willens in der Geschichte wird das Menschliche Geschlecht auf dieser Erde nach dem göttlichen Plane seinem Ziel entgegengeführt. Du mußt nun auch Kants Kritik der praktischen Vernunft studiren. Die Kritik der Urtheilskraft, worin er das Wesen des Schönen auseinandersetzt, ist auch sehr schön. Ich habe sie in frühern Jahren mit dem größten Intereße gelesen. – Wenn man so alt geworden ist wie ich und man nur noch kurze Zeit zu leben hat, dann frägt man sich ganz ernstlich: wozu uns Gott auf diese Erde geschikt hat und was unsre irdische Bestimmung ist? Da lernt man diese irdische von der ewigen unterscheiden, aber auch den Zusammenhang beider anerkennen. Wenn es mit diesem kurzen Erdenleben zu Ende sein sollte, dann stünde es schlimm, dann wäre es nicht der Mühe werth zu leben. Wenn der göttliche Geist in uns nicht fortdauern, sich nicht fortentwikeln sollte, wäre es mit dieser ephemeren Existenz zu Ende wäre? Gott bewahre! Da gewinnt man durch das Leben einen andern Glauben. Auch Du wirst in diesem Erdenleben Deine verschiedenen Stadien durchmachen müßen und wenn Du mit Besonnenheit lebst immer tiefere Ueberzeugungen über das göttliche Wesen gewinnen. Die sittliche Welt hängt mit der religiösen genau zusammen, das sittliche Bewußtsein ist das, was uns über diese Welt hinaus erhebt und uns zu Gott führt.

So könnte ich noch lange mit Dir plaudern. Es freut mich, daß Du für jetzt in Jena bleibst, ich habe Jena sehr lieb, von dem so viel Schönes ausgegangen ist. Dazu die schöne Natur. Sobald Du Dein Quartier für Dich und Deine Anna gefunden hast, schreibe es uns. Dein Alter

Hkl

a irrtüml. doppelt: geben; b gestr.: ist; eingef.: sind; c gestr.: über; d eingef.: den 10 Juli; e gestr.: Juli; eingef.: August; f eingef.: wenigstens; g gestr.: Juli; eingef.: August; h gestr.: , ich schaffe Dich blos nach Jena; i gestr.: Du; j eingef.: auch; k gestr.: sich; eingef.: man; l eingef.: in; m korr. aus: das;

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
18.06.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36048
ID
36048