Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 18. April 1864

Berlin 18 Aprill

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Mein lieber Ernst!

Damit Du nicht zu verwaist fragst, wollen wir Dir öfters schreiben. Vor einigen Tagen war unser Brief an Dich kaum abgesendet, als der Deinige mit dem Schreiben an Profeßor Braun eintraf, welches ich ihm dann eigenhändig übergeben habe. Er lag zu Bett a an rheumatischen Beschwerden, ich blieb aber doch ½ Stunde bei ihm. Sie laßen Dich aufs herzlichste grüßen. Wir haben in den letzten 8 Tagen sehr unruhig gelebt. Da Mimi mit den Kindern noch bei uns ist, so sehen wir uns mit den nähern Verwandten und Freunden fast täglich. Das Wetter ist schön und troken aber kalt, wir haben seit längerer Zeit Nordostwind. Die Tanten, Jacobis, sehen wir fast täglich, haben auch mitunter kleinere Gesellschaft wie z. B. gestern Mittag, auch morgen Abend werden wir eine haben. Donnerstag den 21sten reist Mimi wieder zurük, Mutter Minchen ist schon seit Vorgestern wieder nach Frankfurt. Sie wird Ende dieses Monats nach Heringsdorf gehen und schon im Juni ins Bad nach Wiesbaden, wo sie bis zum August bleiben wird. Imb August will sie nach Westphalen zu ihren Verwandten und dann wieder nach Heringsdorf zurük. Sie wird auf ihrer Reisec nach Wiesbaden nach Jena kommen und uns dort besuchen. So ist der Plan für diesen Sommer. Mutter und ich wollen d in der Woche vor Pfingsten ein Paar Tage nach Merseburg zu Karo und e gedenken dann den 1sten Pfingstfeiertag in Jena einzutreffen und bis in den August hin bei Dir zu bleiben. Was wir dann, wenn Du Dein Collegium beendigt hast, mit Dir gemeinschaftlich vornehmen werden, wird sich ja finden. Im September denken wir ein Paar Wochen zu Carl nach Landsberg zu gehen und da wirst Du wohl mit gehen. Den October bist Du dann hier bei uns. So wäre also der Sommerplan, wenn es Gott gefällt, ihn durchzuführen. Ich möchte gern in der letzten Hälfte des August auf ein Paar Wochen nach Hirschberg, da könntest Du im Gebirge herumsteigen. Doch steht hierüber noch nichts fest. So eben kommt ein Brief von Carl aus Landsberg an Dich, den ich beilege. –

Auf Annas Tod ist nun jetzt Kühne’s erfolgt, der mir auch sehr fehlen wird. Ich habe seit Mitte Februar (Annas Tode) bis jetzt einen wirklichen innern Gemüths- und Geistes Cursus durchgemacht, von welchem ich nun schon einige Resultate übersehe. Zunächst ist es mir ergangen wie Dir, die hiesige Welt mit ihrer Nichtigkeit und dem elenden Treiben der Menschen hat mich förm||lich angeekelt. Ich hätte am liebsten fortgewollt. Aber es ist ein höherer über uns, der uns auszuhalten befiehlt und da sieht man dann gar bald, daß dieser fortdauernde Ekel sich mit einer pflichtgemäßen Wirksamkeit in dieser und für diese Welt nicht verträgt. Man muß also diese Welt nehmen wie sie ist und sich dann fragen: was für sie zu thun ist? Dieser Frage kannst Du gar nicht entrinnen, bei mir Alten, der ich das Leben schon hinter mir habe, ist das eine andre Sache. Ich mache nur noch den Zuschauer und theile meinen nächsten Angehörigen mit, was ich gelernt habe. – Zunächst zeigt uns die Natur die göttliche Weisheit durch und durch und ohne göttliche Liebe wäre diese Weisheit keine Weisheit, sondern Tyrannei. Also die göttliche Weisheit und Liebe regiert die Welt. Du bist nun mit deinem Naturell ganz auf die Natur angewiesen, darauf, die göttliche Weisheit darinn zu erkennen und wirst in Deinem Beruf eine genügende Beschäftigung und Arbeit finden. Der Mensch besteht aber aus 2 großen Elementen, Verstand und Gemüth. Das letztere fordertf sein Recht und Du darfst deßen Forderungen nicht ignoriren, sonst bist Du nur ein halber Mensch und es kommt jetzt, nachdem Dir Gott Deine Anna genommen, nur darauf an, daß sie in Deinem Gemüt für diese irdische Welt ihren rechten Platz findet, was nur die Zeit bewirken kann, denn in Deinem Herzen sollst Du sie behalten. Du sollst also das Andenken an sie nicht aus Deinem Herzen wünschen um Dir Ruhe zu verschaffen, das wäre das schlechteste, was Du thun könntest. Umgekehrt mußt Du alles, was Dich an sie erinnert, recht zu bewahren suchen. Ich spreche aus Erfahrung, denn g ich habe das alles durchgemacht und bis auf den heutigen Tag ist mir das Andenken an meine Emilie geblieben. Die Zeit hat es nur mehr in den Hintergrund gedrängt, nicht ausgelöscht. Ich bin durch meinen Lebensweg immer mehr zum Nachdenken über dieses Erdenleben hingewiesen worden und jetzt, nachdem ich am Ende deßelben angekommen bin, kann ich sichre Resultate aus diesen Betrachtungen ziehen. Wir haben einen ewigen und einen irdischen Theil in unsrer menschlichen Natur. Beide liegen sich hier in fortdauerndem Kampfe, wir können den irdischen Theil in uns nicht vertilgen und eben so macht der ewige Theil in uns seine Rechte fortdauernd geltendh und wir finden durch das, was täglich in der Welt vorgeht, die weitere Erklärung. Das Leben auf dieser Welt ist ein kurzes, nothwendiges Stadium in unsrer geistigen || ewig fortdauernden Entwikelung. Täglich werden Tausende in der Blüte ihres Lebens von hier abgefordert, die ihrer weitern Entwikelung jenseits entgegen gehen. So auch Deine Anna. Wenn andere noch 40, 50 Jahre hier fortleben, so scheint das eine lange Zeit. Die Begriffe von Zeit und Raum tragen aber hier ein irdisches Gepräge und was nun hier lange Zeit scheint, sind dort vielleicht nur kurze Momente. Das Wie des Jenseits ist uns überhaupt verschloßen. Daß aber ein Jenseits ist, wißen wir durch einen unvertilgbaren Glauben. Das haben unsre größten Geister erkannt. Dagegen giebt uns über die Wie der irdischen Entwikelung schon Natur und Geschichte Auskunft. Diese Entwikelung hat ihre Lebensperioden, eine solche Periode hat ihre Jahrtausende, so die griechisch-römische, so die vorgriechische semitisch-zoroastrische. In allen aber spricht sich immer der unerschütterliche Glauben an eine Weltregierung, so auch bei den besten Griechen, ein Gefühl der Sünde, bei dem Hindu wie bei dem Buddhisten, und ein Bedürfniß nach einer vollkommenern Welt. Zuletzt hat das Christenthum diesen Glauben in seiner größten Reinheit und Tiefe wieder lebendig gemacht. Es hat das tiefste Innre des Menschen ergriffen, i es hat uns weiter entwikelt, was schon vor ihm dunkler erkannt wurde, und darum ist es auch unvertilgbar. Das erkennen selbst die kraßen Rationalisten an. Der Streit um die Person Christi, der jetzt so lebhaft geführt wird (Renan, Davis Strauss etc.) ist Nebensache. Kurz das Christenthum ist in der Welt und wirkt in der Welt, es hat die Welt veredelt und diese Veredelung wird immer fortschreiten. Der Mensch wird immer mehr Herr der Natur werden, wir werden diese immer mehr erkennen lernen. Aber das Alles hat nach einer andern Seitej hin, nach der ethischen, seine Grenze. Die k ethische Vervollkommnung iml ausgedehnten Grade ist erst für jenes Leben bestimmt. Aber nicht bloß Herr der Natur soll der Mensch auf dieser Erde immer mehr werden, die Menschheit soll sich auch geistig bis auf die eben bezeichnete Grenze immer mehr vervollkommnen. Dazu gehört die politische Freiheit. Auf dieser Entwikelungsstufe sind wir jetzt angekommen. Der Mensch ist sich seines geistigen Wesens bewußt. Dies giebt ihm seine Rechte und diese Rechte sind in dem christlichen Gebot der allgemeinen Menschenliebe eingeschloßen. Sie folgen daraus von selbst. Wir haben || seit 80 Jahren diese Kämpfe in Europa begonnen und sie sind nöthig, wenn die Freiheit überhaupt gedeihen soll. Sie machen erst die menschlichen Kräfte lebendig. Wie elend erscheint da alle Diplomatik, welche diese Freiheit negiren will. Bald nach den Freiheitskriegen wurde das Streben nach Freiheit lebendig, diese Kriege selbst giengen daraus hervor. Man hat sie seit 50 Jahren zu unterdrüken gesucht und alle Kräfte der Tyrannei und Diplomatie sind daran gescheitert, sie ist immer fortgeschritten. Sie war am meisten in Napoleon und Metternich (in der österreichischen Politik noch heute) personificirt. Alle ihre Künste sind zu Schanden geworden und werden es hinfort noch werden, jeder elende Friedensschluß (wahrscheinlich demnächst wegen Schleswig Holstein) wird in seinem Laufe durch seine eigne Elendigkeit und Nichtigkeit zu Schanden werden, denn das regierende Weltprincip will die Fortentwikelung der Menschheit, es ist eigen genug, daß grade die Regierungen dieses am wenigsten anerkennen und ihm den größten Widerstand entgegen setzen. Aber es giebt einen höhern Meister über ihnen, Gott regiert die Welt.

In diesen Tagen werden die Düppler Schanzen genommen werden, das wird noch Menschen kosten. Unsre Truppen haben einen sehr schweren Winterfeldzug gehabt und manches gelernt, die Erfahrungen werden für unsre Armee nicht ohne Nutzen sein. Besonders hat sich die Artillerie und die Zündnadelgewehre bewährt. Daß die Politik in Betreff von Schleswig Holstein so elend ist, kommt vorzüglich von Oesterreich her, welches mit England Hand in Hand geht. Als Gegengewicht dient Napoleon, wir wollen sehn, was er bewirken m und wie Preußen sich dabei nehmen wird. Die deutschen Fürsten, denen jetzt Gelegenheit gegeben war, sich als eine Macht zu zeigen, haben sich aufs elendeste benommen und sich in ihrer Nichtigkeit gezeigt. – Nun mein lieber Ernst, schreibe uns recht fleißig. Wir wollen daßelbe thun.

Dein Dich liebender Vater

Haekel.

Wie ich soeben erfahren, sollen die Düppler Schanzen genommen sein.

a gestr.: ah; b gestr.: Ende; eingef.: Im; c eingef.: Reise; d gestr.: ein P; e gestr.: dann; f korr. aus: fördert; g gestr.: es g; h gestr.: hier gewahr; eingef.: geltend; i gestr.: darum; j eingef.: Seite; k gestr.: ethesis; l gestr.: ist; eingef.: im; m gestr.: wird

Brief Metadaten

ID
36033
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
18.04.1864
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
22,8 x 14,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36033
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Berlin; 18.04.1864; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_36033