Berlin den 15ten Febr 68.
Mein lieber Ernst!
Da morgen Dein Geburtstag ist, muß ich Dir heute wohl schreiben und gratuliren. Wir haben hier auch sehr veränderliches Wetter, z. B. vorige Nacht gewaltigen Sturm, dann wieder auch Schnee und Frost. Ich studire jetzt Gervinus Geschichte des 19ten Jahrhunderts und habe den Wiener Congreß gelesen, ein gewaltiges Ding, denn Europa hatte sich durch die Revolution völlig verändert, die alten Staaten waren zu Grunde gegangen und die neuen sollten sich, nachdem alles durcheinander geworfen war, erst formiren. Da wollte nichts mehr paßen, ein Versuch wurde nach dem andern gemacht. Dies war die Arbeit des Congreßes, wenn man etwas versucht hatte, fiel es bald wieder aus einander. So lebe ich jetzt in diesen Versuchen. Es fällt schwer, den Faden zu behalten. Ich will sehen, wie ich durchkomme. – Mein körperlicher Zustand ist doch sehr verändert, ich kann nicht mehr marschirn, sondern muß mich durch meinen Diener führen laßen, sonst geht es ganz gut, ich habe Appetit, kann lesen und schreiben. Ich gehe alle Mittag von 1-2 Uhr mit Mutter eine Stunde spatzieren. Ach mein liebes, liebes Mutterchen. Zu Hause lese ich oder schlafe ich. Dieses ist der tägliche Wechsel der Dinge. Lebe Du nur recht munter mit Deiner lieben Agnes und Deinem kleinen Walter. Du wirst nun wohl bald herkommen. Darauf freue ich mich recht. – A Dieu mein lieber Ernst.
Dein dich liebender Vater Haekel