Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 15. Februar 1864

Berlin 15 Febr. 64.

Mein lieber Ernst!

Diese Zeilen sollst Du morgen zu Deinem Geburtstage erhalten, welchen wir morgen Mittag im kleinen Kreise mit einigen Verwandten und Bekannten zu feiern gedenken, die Schwestern Jacobis (alt und jung) Barth, die Weiss etc. Die letzten Wochen habe ich höchst unbehaglich zugebracht, ich durfte Abends nicht ausgehen, mußte das Collegium aussetzen, dadurch wurde meine ganze Zeiteintheilung gestört, das viele Lesen ohne einige Zerstreuung bekommt man auch satt, dazu der Aerger über die öffentlichen Dinge, das führte allerhand innere Kämpfe herbei und ich hatte Stunden, wo ich wirklich lebenssatt war, mein sonst rüstiges Wesen vermißte ich, da ich nicht ausgehen konnte und ich kam mir auf einmal um zehn Jahr älter vor. Wenn man noch an einige Rüstigkeit gewöhnt ist, so bemerkt man das sehr schmerzhaft. Indeß haben diese Wochen doch auch ihr Gutes gehabt. Das viele historische Lesen hatte mich auf einen ganz objektiven Standpunkt versetzt, ich hatte insbesondre die Geschichte des römischen Kaiserreichs, den Untergang der alten Welt und die allmähliche Bildung der neuen durch die Völker Wanderung gelesen. Indem ich so die Zustände des untergehenden römischen Reichs mit unsern jetzigen durch das Christenthum humanisirten Zuständen verglich, fühlte ich mich doch mit den jetzigen europäischen Zuständen ungemein befriedigt. Ich sah, wie die aufkeimende Idee christlicher Kultur unter harten schweren Kämpfen immer mehr um sich gegriffen hatte und herrschend geworden war, ich lernte den langsamern, aber immerfort zur Veredlung führenden Gang der Geschichte begreifen, wornach man siea immer nur im Laufe mehrerer Generationen erkennt. Ich überschlug, was ich seit mehr als 2 Generationen erlebt hatte, und konnte den auffallenden Fortschritt, den die europäische Menschheit in dieser Zeit gemacht hat, nicht verkennen; so wurde ich wieder ruhig, fand die Kämpfe der Gegenwart begreiflich, sah, wie wir nur durch diese Kämpfe weiter kommen können und wie es ohne sie keinen Fortschritt giebt, da nur der Kampf der aufkeimenden Idee mit den morsch gewordenen Verhältnißen die Kräfte lebendig macht || und so bin ich nun im Stande, mitten unter den drükendsten und empörendsten Ereignißen der jetzigen Tage doch die feste Hoffnung einer beßeren Zukunft festzuhalten. Es gilt bei uns in Preußen des Kampfes der Freiheit gegen die despotische Willkühr, die uns aus den früheren Zeiten zurükgeblieben und die in Deutschland wohl bei uns am tiefsten gewurzelt hat, Oesterreich ausgenommen, wo sie herrscht wie bei uns aber mit mehr Verstand und wo die Bevölkerungen noch weit mehr zurük sind, weit mehr zu genießen haben und also den politischen Druk von oben nicht so fühlen. Die Freiheit ist dortb erst theilweise im ersten Erwachen, während wir in den letzten 40 Jahren schon ein gut Stük c auf dem Wege der sproßenden Freiheit zurükgelegt haben und uns immer mehr fühlen lernen und dieses letztre ist die Hauptsache. Wenn das Volk wach bleibt und immer mehr wach wird, dann müßen die Dinge vorwärts gehen. Die Wege, welche die göttliche Vorsehung hirzu einschlagen wird, müßen wir ruhig erwarten, und ihr vertrauen. Denn sie weiß sehr wohl was sie will und wenn man die Geschichte studirt, dann entsteht ein unvertilgbarer Glaube an die göttliche Leitung. Das Geschmeiß, welches in seinem bornirten Wahnsinn den Gang der göttlichen Dinge nicht ahndet und ihn aufzuhalten gedenkt, muß man seinem eignen Untergang überlaßen. Aber Geduld gehört dazu, um diese Ansicht festzuhalten und sich durch sie zu ermuthigen und man muß sich ergeben und das bescheiden, was die Vorsehung uns erleben zu laßen sich vorbehalten hat. Unsre Regierung ist so wahnsinnig, tritt unsre Intereßen so mit Füßen, daß die Nachwelt es kaum zu begreifen vermag und doch sollen wir auf diesem Wege vorwärts gebracht werden.

– Wir haben hier nach mehrmaligem Frost und mehreren schönen Wintertagen gestern und vorgestern wieder Thauwetter gehabt. Freitag Abend gieng ich ins Kollegium, war aber der einzige, den Barth vorfand und gieng daher, als wir bis halb 7 Uhr gewartet hatten, mit ihm nach Hause. Es mußte an diesem Tage etwas vor sein, denn sonst hat er doch im Privat Colleg 5-6 stehende Zuhörer, die nachschreiben. Im Publico (Geschichte der Geographie) hat er etwa 15-20. Sein Vortrag ist etwas troken, aber doch zusammenhängend und lehrreich, er hat die Materie gut durchgearbeitet und der Gegenstand ist so intereßant, daß ich wenigstens sehr gern und mit großer Aufmerksamkeit zuhöre, man muß aber allerdings wißenschaftliches Intereße an diesen Gegenständen haben. In der letzten Stunde setzte er die Bedeutung || Europas für die Entwikelung dieses Erdenlebens und deßen Kultur auseinander, die in der Vermittelung der Extreme liegt, die auch in seiner Natur herrscht und die herrlichsten Erzeugniße giebt, während der Norden Asiens und der Süden Afrikas und Asiens nur die stärksten Extreme erzeugtd und so einer harmonischen Ausbildung fremd bleibt. Eben so setzte ere den Lauf der Alpenkette von Westen nach Osten als charakteristisch für Europa und es in 2 Hälften spaltend auseinander und beschrieb in der Schweitz und im südlichen gebirgigsten Ober Italien das In einander Laufen der nördlichen und südlichen Zustände in ihrer größten Mannigfaltigkeit. Barth hat seine Stunde Abends von 6-7 Uhr sehr ungünstig gewählt, es fallen in diese Zeit viele Publica, die ungemein stark besucht werden und andrerseits sind grade diese Stunden sehr verführerisch, um sich entweder den Zerstreuungen des Abends hinzugeben, oder bei schlechtem kalten Wetter sich faulliegend zu Hause zu halten.

Wir hoffen nunmehr, daß Deine Anna wieder wohl ist, sie soll sich nur recht in Acht nehmen. Du bist nunmehr 30 Jahr, im Uebergang vom jugendlichen zum männlichen Alter, es ist mit die schönste Zeit des Lebens, die volle jugendliche Kraft mit der beginnenden Besonnenheit und Ueberlegung. Gott schenke Dir körperliche Gesundheit, ein ungestörtes glükliches Zusammenleben mit Deiner Anna, und einen sichern, befriedigenden und belebenden Fortschritt in Deiner Wißenschaft. Daß man in Deinem Alter noch ein Sprudelkopf ist, ist ganz natürlich, die Besonnenheit und Ruhe wird allmählich immer mehr bei Dir einkehrn und Dir Klarheit geben. Vor allem lerne immer mehr die Bedeutung des Christenthums als das reformatorische und herrschende Princip dieses Erdenlebens kennen. Daß der geringste bei uns nach seinem Rechte frägt und dass dieses geachtet werden muß, haben wir dem Christenthum zu danken. Die Forderung der Menschenrechte im Jahr 1789 gieng aus dem Christenthum hervor. – Adieu mein lieber Ernst, die herzlichsten Grüße an Anna von

Eurem Alten Hkl

a eingef.: sie; b eingef.: Die Freiheit ist dort; c gestr.: Weges; d gestr.: ausbildet, eingefügt: erzeugt; e eingef.: er

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
15.02.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36029
ID
36029