Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, [Berlin], 25. Oktober 1864

25 Octob 64.

Mein lieber Ernst! Nun ist es wohl Zeit, daß wir Dir wieder einmal Nachricht von uns geben. Ich lebe den Vorschriften der Aerzte zufolge mein trauriges Leben fort, täglich mehrere Stunden im Freien gehend da ich gut zu Fuße bin und in den Zimmern nicht über 15 Grad Wärme. In der Nacht häufig viel Schmerzen in den Händen und in den Schultern. Doch habe ich in den letzten beiden Nächten gut geschlafen und meine Kräfte haben im Ganzen zugenommen. Mein Aussehen im Gesichte ist sehr munter, so daß alle, die mich sehen, darüber wundern (wie z. B. noch gestern Abend der alte Jacobi). Der Gang der Krankheit scheint also im Ganzen gut zu sein. Wenn ich nun zu Hause bin, so lese ich viel. Vor einigen Tagen habe ich das Leben von Gneisenau von Reimer zum Geschenk erhalten, da ich zum Theil Materialien dazua geliefert habe. Das Buch sollte eigentlich heißen: Gneisenau und seine Zeit, denn es giebt sehr viel Intereßantes darin, was zwar mit seinem Wirken zusammenhängt, aber nicht unmittelbar ihn angeht, sondern Stein und die b ganzen damaligen Verhältniße. So erscheint Fried. Wilhelm III in einem sehr vortheilhaften Licht, was die Militär- und innern Personen betrifft. Er war ein wahrhafter Vater seines Volks und hat daßelbe wahrhaft geliebt, er hat es von den Feudalfeßeln befreit und [ist] dafür auch wieder geliebt worden. Ich bin davon häufig Zeuge gewesen. Im Jahr 1819. als ich in die Prignitz reiste sagte mir ein Bauer: der König hat uns erst zu Menschen gemacht, wir sind ihm dafür aufs äußerste dankbar. Auch war er ohne Vorurtheil, was das Militär betraf, gieng auf die Militär-Reformen ein und hielt streng darauf, daß die Bürgerlichen gleich den Adeligen avancirten und c daß die letztern nicht bevorzugt wurden. Das weiß ich auch von Thürcks Schwiegersohn dem Ober Postdirektor Schneider, der mir darüber Details erzählt hat. Fried. Wilhelm IV hatte ein entgegengesetztes System, er hat viel verdorben und den Junkerhochmuth so recht gepflegt. Wir erndten jetzt die Früchte. Aber die Zeit ist mächtiger als die Individuen, sie müßen ihr dienen. Nur geht die Zeit langsam und auf ein Paar Generationen kommt es ihr nicht an. Wir sind nun sehr gespannt auf die nächste Session der Kammern begierig. Das Volk ist für die Cammer gut gestimmt, da sie sich in Schleswig gut genommen hat. Es will den Staat Friedrichs II || als europäische Großmacht aufrecht erhalten und alle Mittel hirzu bewilligen. Unser Volk hat in Schleswig einen so schönen militärischen Geist gezeigt, daß es klar geworden, daß dieser nicht vom 3 jährigen Dienst abhängt. Es will dem König alle Mittel bewilligen, um bei Ausbruch des Krieges mit 320.000 Mann auftreten zu können. Es verlangt aber für die Infanterie nur 2 jährige Dienstzeit, da das Fehlen von 200 000 d jungen rüstigen Arbeitern in den Gewerben e ein ganzes Jahr hindurch sehr vermißt wird. Das ist der strittige Punkt, über den es wohl schwerlich zu einer Einigung kommen wird, da der König in diesem Punkt zu bornirt ist. Ferner wird sich das Abgeordneten Haus das fernere Willkühr Regiment des Bismark nicht länger gefallen laßen und es wird darüber zu den härtesten Kämpfen kommen, der König darüber ganz mit seinem Volk zerfallen. Die Gesinnungen des Kronprinzen werden dagegen sehr gerühmt, er soll höchst vernünftig sein. Als ich mit Carl vorgestern Alles durchgesprochen hatte, äußerte dieser: es sähe jetzt grade aus wie vor 50 Jahren. Die Streitfragen im Innern wären dieselben. Nur in der äußern Politik war Fried. Will. III zu schwach und zu unentschloßen. – Man muß das Gneisennauische Buch studiren. Perz hat offenbar seine sehr fachkundigen Mitarbeiter gehabt, die höchst intereßante Details liefern, wie ich z. B. von dem Grafen v. Götzen (damaligen Generalgouverneur in Schlesien) mit dem ich damals viel verkehrte, erfahren habe. Er ist viel beßer gewesen, als ich mir ihn gedacht, wie seine Berichte an den König zeigen, das hat mich ungemein gefreut. Nun mein lieber Ernst, das Schreiben wird mir schwer, ich muß vor heute schließen. Dein

Dich liebender alter

Vater

Grüße Deine Freunde von mir, auch Seebeck. Ich bin mit Deinen Ansichten Deiner jetzigen Lebensverhältniße sehr zufrieden und danke Dir dafür. Du hast mir damit eine große Freude gemacht.

Haekel

a eingef.: dazu; b gestr.: da; c gestr.: vor; d gestr.: Alt; e gestr.: sehr

Brief Metadaten

ID
36024
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
25.10.1864
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
22,8 x 14,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36024
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Berlin; 25.10.1864; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_36024