Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 14. Februar 1866

14 Febr.

Lies den unten folgenden späteren Zusatz zuerst.

Mein lieber Ernst!

Ich kann es doch nicht unterlaßen, Dir zu Deinem Geburts-und Schmerzenstage einige Worte zu sagen. Sie haben mich gewißermaßen zu einer Recapitulation meines Lebens und zu der Frage geführt: was ich denn eigentlich dadurch gewonnen habe? Denn ein Resultat muß sich doch zeigen, nachdem ich nun am Schluß dieses Lebens stehe und gegenwärtig sein muß, jeden Augenblik in ein andres Leben abgerufen zu werden. Da ich mich viel mit Geschichte des Menschengeschlechts beschäftigt habe, so muß sich doch in der Geschichte der Menschheit selbst ein Resultat ergeben, wozu sie da und was hier auf Erden ihre Bestimmung ist? und dieses Resultat läßt sich nicht faßen, ohne wieder die Resultatea der neuern Forschungen über die Entstehung und Verwandlung mit zusammen zu faßen.

Geht man die Geschichte des Menschengeschlechts durch, so muß man unwillkührlich dem Kulturfaden, der sich durch die Menschheit zieht, folgen und mit der alten Geschichte beginnen, von da aber zur neuren Kulturgeschichte übergehn. Da finden sich nun die ältesten Kulturdenkmäler der Egypter, der Juden und der Griechen. Sie weisen uns sämtlich auf den Quell göttlicher Erkenntniß und der Vernunft des Menschen selbst hin, auf die uns innwohnende Vernunft; und die Geschichte der Kultur jener Völker ist zugleich die Geschichte der sich hier auf Erden entwikelten göttlichen Vernunft. Auf diese uns innwohnende Vernunft werden wir immer zurükgewiesen. Die Juden und die Griechen behaupten darinn den ersten Platz, während aber die Erkenntniß der Juden einseitig bleibt, stürmen die griechischen Philosophen schon auf die innerste Vernunfterkenntniß loß und Plato hat sie am idealsten aufgefaßt. Alle wollen ein ewiges b vollkommenes Leben nach diesem irdischen und der Glaube daran und die Hoffnung erhält uns in diesem Leben aufrecht. Dir ins besondre, mein lieber Ernst, ist diese Hoffnung durch den Tod Deiner geliebten Anna recht nahe gelegt worden und ich müßte an der göttlichen Vernunftc verzweifeln, wenn nicht der Glaube an die Ewigkeit || in mir auf das tiefste wurzelte. Aber freilich über die Art und Weise unsrer künftigen Fortexistenz ist hier auf Erden ein undurchdringlicher Schleier geworfen. Nur so viel ist uns klar, daß der hier auf Erden in unserm Körper gebaute Geist fortleben muß, wenn auch dieser irdische Körper zu Grunde geht. Die neuern Naturforschungen haben uns aber eine gute Streke weiter geführt, als die Alten waren. Wir können mit großer Wahrscheinlichkeit den früheren Zustand der Erde, ehe sie sich nach langen Revolutionen setzte, nachweisen und aus der Geschichte der Menschheit deren weitere Entwikelung hier auf Erden errathen. Die Alten kannten eigentlich doch nur die Länder des Mittelmeers und des atlantischend und die Geschichte der daran liegenden Völker. Die Entdekung von Amerika hat uns erst den übrigen Theil der Erde aufgeschloßen und da sehn wir nun, daß doch die Ansichten der römischen Welt sehr beschränkt waren und daß sie eigentlich das, worauf die griechischen Philosophen hinwiesen, wieder aus dem Gesicht verloren hatten. An das, was diese Philosophen ahnten, hat das Christenthum angeknüpft und uns in einfachen Geboten darauf hingewiesen, was aus der Menschheit werden soll. „Liebe Gott über alles und Deinen Nächsten als Dich selbst.“ Dieses ist das erste und höchste Gebot. „Gott lieben“ heißt die sittlichen und religiösen Pflichten erfüllen und „den Nächsten lieben“ heißt „die Menschheit entwikeln“. In diese Entwikelung gehört die Erfüllung aller irdischen Berufe, auf welche die Menschheit angewiesen ist und Verbreitung menschlicher Kultur über die ganze Erde. In dieser Verbreitung haben wir nun noch weniges gethan, es muß noch ganz anders werden und wir müßen die Erde noch viel beßer verstehen lernen, ehe in dieser Kultur bedeutende Schritte erfolgen können. – So trage nun auch Du, mein lieber Ernst, das Deinige zu einer tiefern Erkenntniß der Erde und ihrer Bewohner bei, dann wirst Du Deinen Lebensberuf erfüllen. Dabei muß Dir Deine geliebte Anna immer zur Seite gehen und so wird Dir das Leben, wenn es auch nur längere Zeit dauern sollte, sehr kurz werden. ||

Ich kann es mir, nachdem ich die Geschichte gelesen, wohl denken, daß Du Dich zu Italien und dem Mittelmeer hingezogen fühlst. Es ist das schönste Meer auf der Erde. Aber wir sind in die glüklichen Zeiten gekommen, wo man in kurzer Zeit über die Erde und um sie herumfliegen und so ihre Schönheiten recht genießen kann. Das beste, was die Römer gethan haben, ist, daß sie griechische Kultur über die e Menschen von Europa verpflanzen halfen und so die westlichen Länder zur Aufnahme des Christenthums vorbereiteten. Aber sie selbst waren durch ihre Eroberungen innerlich zu verdorben, um den Sinn des Christenthums in sich aufnehmen zu können. Dazu waren die germanischen Völker bestimmt und durch sie wurde das Christenthum und die darinn liegenden Länderf erst weiter über die Erde verbreitet und in diesem Beruf sind wir fortdauernd begriffen. Du bist auf ganz richtigem Wege, wenn Du Dich auch in diesen schweren Tagen durch das Andenken an Anna g nicht aus Deinem eingeschlagenen Gleise bringen läßt. Du wirst immer ruhiger werden und ihr Bild wird Dich wie ein lieblicher Schatten durch dieses Erdenleben begleiten. Ich habe darinn selbst bittre Erfahrungen gemacht und weis also, was bleibend ist und was vergeht. Und so lebe denn in Deinem Beruf, der Dir so viel Freude macht und im welchem Du so viel Anerkennung findest, thätig fort. Gott hat Dir in Deinen Aeltern und nächsten Verwandten innige Theilnehmer an Deiner Lebensthätigkeit gegeben und Du stehst keineswegs vereinzelt und einsam da, sondern von liebenden Menschen umgeben. Gott helfe Dir ferner fort.

Dein

Dich liebender Vater

Hkl

Den vorstehenden Brief hatte ich vorgestern geschrieben, als ich in allgemeinen Betrachtungen begriffen war, die mir die Lektüre angeregt hatte. Heute lebe ich vorzugsweise Deinem Geburts und Leidenstage, und da magst Du aus dem vorstehenden Briefe vor allem das herausnehmen, was diesem Tage ins besondere gilt. Ja, ja || Gott hat Dir eine sehr schwere Prüfung auferlegt. h In Deinem Innersten wohnt aber auch der Glaube, daß Du Deine Anna geistig wiedersehen wirst und mir vor allen, der ich nur noch kurze Zeit zu leben habe, ist dieser Glaube eine völlige Gewißheit. Er wohnt in dem Innersten unsres Geistes. i Der Glaube an die göttliche Liebe ist es, der uns aufrichtet und uns dieses kurze Erdenleben mit Hoffnung durchmachen hilft. Mit dieser göttlichen Liebe, mit Gottes Weisheit ist es unverträglich, daß wir unsre verlornen Geliebten, die wir in unserm Innersten wahrhaft geliebt haben, nicht geistig wiederfinden sollten. Es ist eine verhältnißmäßig nur kurze Unterbrechung, wenn wir eine Zeit lang von ihnen getrennt sind und darum sollen wir auch, wie Du jetzt thust, unsern irdischen Beruf aber immer mit dem Gedanken an die Ewigkeit erfüllt, hier ruhig weiter fortsetzen. So weilen wir denn hier auf Erden, wie auf einer Stufe unsrer ewigen Existenz, auf einer kurzen Stufe im Verhältniß zu der uns beschiedenen Ewigkeit. An diesem Gedanken halte fest, so wird Dir das neue Jahr, was Du jetzt beginnst, nicht blos erträglich, sondern auch lieb werden. Auch stehst Du nicht allein auf dieser Welt, Du hast Deine Eltern j und nächste Verwandte, die aufs pünktliche an Dir Theil nehmen, Du hast Deine Freunde, welche Dir Gott zugeführt hat.

Dein Dich aufs zärtlichste liebender

Vater Hkl

a korr. aus: Resula; b gestr.: Le; c gestr.: Vernuft; eingef.: Vernunft; d eingef.: und des atlantischen; e gestr.: Erde; f eingef.: Länder; g gestr.: aus dem; h gestr.: En; i gestr.: und in; j gestr.: , die;

 

Briefdaten

Empfänger
Datierung
16.02.1866
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36023
ID
36023