Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 13. März 1854

13 Merz 54.

Mein lieber Ernst!

Wir haben uns in den letzten Tagen einer recht schönen milden Luft erfreut und das Gefühl gehabt, daß der Winter vorüber ist. Auch die längeren Tage sind mir zu meinen Spatziergängen sehr angenehm und ich habe nun nicht mehr nötig, den ganzen Spatziergang im Finstern zu machen. – Die letzten 8 Tage sind ich und viele hier politisch sehr aufgeregt gewesen. Die Kreuzzeitungspartei und die rußische Schwägerschaft üben einen sehr übeln Einfluß auf unsern König aus. Bei seinem schwachen Charakter ohne Thatkraft ist ihm das Neutralitätssystem sehr angemeßen und dies führt uns zum Verderben. Er betrachtet den rußisch-türkischen Krieg wie einen Kampf des Christenthums gegen den Mohammedanismus und da neigt er sich für Rußland, welches unter der Firma des Christenthums nur seiner unersättlichen Eroberungssucht fröhnt. Die Junkers gehn mit Russland, weil sie in ihm den Hort des Absolutismus sehen und unter dieser Firma den König regieren. Sie und ein großer Theil der Gardeofficire sind für Rußland. Von einem preußisch deutschen Vaterland wißen sie nichts und verlaßen sich auf die in den letzten Jahren eingetretene Apathie des Volks und deßen blinde Unterwürfigkeit gegen das Königthum. Die Neutralität wird uns aber zum Verderben, sie dekt unsre ganze Schwäche auf und entzieht uns die Achtung Deutschlands, so daß Oesterreichs Einfluß, welches weit entscheidender ist, a immer mehr zunimmt. Die englischen und französischenb Zeitungen sprechen vonc Preußen schon d mit großer Verachtung. Sehe ich aber die Sache vom großen historischen Standpunkt an, dann fürchte ich, wir sollen durch große Leiden (rußische Knechtschaft) wieder erst aus unserm Schlaf aufgerüttelt und das Volk für seine sklavische Gesinnung gezüchtigt werden. Die älteren Männer kennen noch Preußens Ehre und haben dafür Gefühl, in der Jugend ist nichts zu spüren, der schlimme Einfluß des Hofs und Despotismus von oben hat ihr alles Selbstgefühl genommen, während siee vor dem Ausbruch des Kriegs 1813. voll von Nationalgefühl war. Der 40jährige Frieden hat alles erschlaft und die Jahre 1848/50 haben alles muthlos gemacht, wir sind schon an die Schande gewöhnt. Aber ein Volk, was nichts auf sich hält, ist verloren. Die meisten deutschen Stämme möchten sich gestern zu uns halten, aber sie finden keinen Anhalt bei uns, es giebt bei unsf fast nur Junker und Philister und die Bauern sind zu dumm, das haben die Wahlen zu den Kammerng gezeigt. Dennoch ist die Majorität der 2ten Kammer antirußisch und es wird wahrscheinlich in diesen Tagen eine Interpellation an das Ministerium erfolgen. Der Prinz von Preußen ist antirußisch und wird von Manteuffel unterstützt. Sie können aber gegen die Kreuzzeitungspartei nicht durchdringen, die den König in seinen mittelalterlichen pietistischen Neigungen gefangen hält. – England und Frankreich werden aber auf die Länge die Neutralität Preußens nicht respektiren, unsre Häven bloquiren und unsere Industrie und Handel zerstören. Dadurch wird vielleicht der Philister gepakt und zum Aufwachen gebracht, die Regierung aber hat dann nichts als Schande geärndtet. Die Aufgabe ist einfach und klar: Rußland will was früher Napoleon, die Herrschaft über Europa. Dieses muß ihm vereint entgegentreten und Rußland in seine Grenzen zurükweisen. Im Verein mit Europa kann Preußen im rechten Moment den Krieg gegen Rußland ohne Gefahrh beginnen. Dann wird es sich selbst schützen und Ehre haben. Die übrigen Mächte werden uns nicht in der Neutralität laßen, gezwungen aber ist unser Einfluß und Ehre dahin. – Was sind das für Zustände, wenn [das] Volk kein Nationalgefühl hat und durch den Herrscher alles über sich ergehen läßt! –

Ich bin seit 8 Tagen ganz untröstlich, und muß alle Faßungskraft zusammen nehmen. Auchi ein Brief der rußischen Kaiserin voll Lamentös über Preußens Feindschaft soll auf den König sehr gewirkt haben und die Junkers haben dieses benützt und ein zu schleichen gesucht. – In Europa aberj ist das Gefühl für seine Civilisation sehr lebendig und ich glaube nicht, daß die rußische Oberherrschaft durchdringen wird. Auch bei uns ist die Maße des Volks antirußisch, aber die Mehrzahl der gebildeten Stände zu schlaff. Sie müßen erst aufgewekt werden. ||

Dein letzter Brief hat mich sehr intereßirt, 1) Deine Ansichten über die Profeßoren Kölliker, Virchow, Schleiden. Du läßt Dich zu leicht enthusiasmiren und spürst dann hinterher die Lüken und Mängel. So wolltest Du früher nichts von Braun wißen, den du nun anzuerkennen anfängst. Indeß ist es immer gut, wenn man hinterher noch das rechte findet. Du mußt Dich nur künftig vor voreiligem Enthusiasmus hüten, aber so ist Deine Natur, entweder oben auf in Begeisterung oder trostlos. Da mußt Du Deine Natur corrigiren lernen. Ich bin ein Siebziger und corrigire unaufhörlich an meiner Natur, daran hat man zu thun, so lange man lebt. Sodann übertreibe es nicht [mit] den Arbeiten, gehe zur Erholung auf 8–14 Tage nach Ziegenrück, wo Du sehr willkommen sein wirst. Die großen politischen Fragen in Europa haben auch Carl aufgerüttelt, er fängt wieder an lebendiger zu werden. –

Mündlich habe ich die Versicherung von der Militär Commißion, daß Du bis zum lzurükgelegten 23sten Jahr zurükgestellt bist, schriftlich noch nicht, aber ich erwarte die schriftliche Verfügung und bin wiederholt wegen Deines Nicht-Erscheinens vom 2 Merz m vormittags und nachmittags bei der beim Militär Commißarius gewesen. Nun die längeren Tage kommen mußt Du Dir viel Bewegung machen, Dein Körper verkommt sonst. Auch wir freuen uns sehr auf die Zeit, wo Du wieder bei uns sein wirst und wir wieder mit Dir zusammen leben. An geistiger Anregung wird es Dir hier nicht fehlen, darin ist Berlin ein vortrefflicher Ort. Die Schüchternheit bei öffentlichen Vorträgen, die Du jetzt hast, wird sich bald verlieren. Dabei kommt Dir Dein gutes Gedächtniß sehr zu statten, welches Dich nicht im Stich läßt, während bei mir das Gegentheil der Fall ist. Du mußt nun Deinen medicinischen Kursus durchmachen, auch in den Kliniken praktisch wirken, dabei Naturwißenschaften treiben und Dich dann zu einer großen naturwißenschaftlichen Reise in die Tropenländer vorbereiten, holländisch (wegen der ostindischen Inseln), englisch und französisch lernen. Inzwischen wird sich auch Dein Knie hoffentlich so weit wiederherstellen, daß Du reisen kannst, so Gott will. Hiernach magst Du Dir, vorausgesetzt, daß Dir die Naturwissenschaften keine Ruhe laßen, Deinen Lebensplan einrichten. Die Schiffsärzte sind auf den holländischen Schiffen und in ihren Kolonien auf den ostindischen Inseln sehr gesucht (Lichtenstein!)n – Unsre Bekanntschaft mit Weiß kann Dir die Bekanntschaft mit intereßanten Männern erleichtern. – Forsche doch nach, wie es mit Deinem Recept zugegangen, daß Du eine falsche Dosis (für Ochsen oder Esel) bekommen hast. –

Die Lektion, die Dir das Fräulein auf dem Maskenball gegeben, ist Dir ganz recht. –

Daß Du ein freundlicheres Quartier gemiethet hast, ist uns ganz recht. Mache Dir nun

aber auch, wenn das Frühjahr kommt, wieder mehr Bewegung. In den kurzen Tagen im Finstern zu spatzieren, ist nicht angenehm. Nun mußt Du aber wieder natürlich leben und ins Freie gehn. – Es sind jetzt sehr schöne Concerte hier, ich und die Mutter haben die Lind gehört und werden sie morgen noch einmal hören, auch den berühmten Violinenspieler Vieux Temps habe ich gehört, er spielt sehr schön. – Nun für heute genug. Schreibe uns bald wieder.

Dein alter Dich innigst liebender Vater

Hkl

a gestr.: von; b eingef.: und französischen; c gestr.: mit; eingef.: von; d gestr.: von; e eingef.: sie; f eingef.: bei uns; g eingef.: zu den Kammern; h eingef.: ohne Gefahr; i eingef.: Auch; j eingef.: aber; k eingef.: von der Militair Commißion; l gestr.: 23; m gestr.: beim; n eingef.: (Lichtenstein!).

Brief Metadaten

ID
36005
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
13.03.1854
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
22,6 x 28,6 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36005
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Berlin; 13.03.1854; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_36005