Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 15./16. Juli 1857

Berlin 15 Juli 57.

Mein lieber Ernst!

Wir haben in diesen Tagen 2 Sendungen von Dir erhalten, vorgestern Deine Beschreibung der letzten Reise über den Sömmering, heute (über Würzburg) die ausführliche Darstellung Deiner Ansichten über die dortige medicinische Universität. Wenn wir 14 Tage lange nichts von Dir hören dann wird die Sehnsucht darnach ungemein stark. Carl hatte Deinen Brief über die letzte Reise nach dem Sömmering einige Tage zurükbehalten, da er jetzt sehr beschäftigt ist. Du hast ja wirklich schöne Naturgenüße durch die wiederholte Besuchung des Sömmerings gehabt und es freut mich, daß Dein Pflanzenintereße nicht ganz erloschen ist. – Deine Beschreibung der dortigen Universitätsverhältniße hat uns ungemein intereßirt. Die Regierung scheint wirklich viel gethan zu haben, um recht tüchtige Leute dahin zu ziehen. Aber das wißenschaftliche Intereße im Volk, das doch mehr dem Genuß zugethan ist, fehlt und die Pfaffen thun ihr möglichstes um es niederzuhalten. Oesterreich muß sich schon mit den größern materiellen Genüßen begnügen. Der Protestantismus hat das nördliche und südwestliche Deutschland weiter gefördert. – Das Streben nach wißenschaftlicher Klarheit scheint in unsrer Familie einheimisch zu sein, auch Carl hat Sinn dafür. Was mich betrifft, so laßen mir selbst im Alter die Ideen keine Ruh. Bei mir ist es Geschichte, Politik, Staatswirthschaft, und religiöse Entwikelung, was meine Beschäftigung fortdauernd in Anspruch nimmt. Ich habe nun 2 Monat mit dem größten Eifer von früh bis Abend über dem Studium der Schlachten der Freiheits-Kriege geseßen und daraus viel gelernt. Ich würde mich, wenn noch die wirkliche Ausformung eines Kriegstheaters dazu käme, leicht in das Verständniß der strategischen und taktischen Operationen zu finden wißen. Ich habe nun die Schlachten, denen ich in den Freiheitskriegen beigewohnt, erst verstehen können. Die Armee ist das Material, mit dem man operirt. Es muß aber Geist in den Truppen wohnen, sonst sind die Operationen nicht durchzuführen. Das jedesmalige Terrain, auf welchem die Streitenden zusammen treffen, entscheidet dann über die zu treffende Disposition und die Einübung, der Muth und die Ausdauer der Truppen gehört dazu, um sie auszuführen. Vorzüglich intereßant ist es mir gewesen, aus den Schlachtberichten zu sehen, wann sich die Landwehr doch schnell in das Kriegsleben gefunden und zum Kampfe ausgebildet. Freilich kam der große Zwek des Krieges und das Gefühl der erlittenen Tyrannei dazu, um den Geist der Truppen zu beleben und so wird der Zwek des Krieges immer auf Kriegslust und den Geist der Truppen einen großen Einfluß haben. Ein großer Feldherr (Friedrich II, Napoleon) weis zwar die Truppen schon an für sich, abgesehn von dem Zwek des Krieges, zu begeistern, daß sie mit Lust das Kriegshandwerk treiben und muthig in den Tod gehen. In frühern Jahrhunderten war der ritterliche Kampf an und für sich Zwek, das sieht man an den Söldnern und Miethtruppen. Auch laßen sich ruhmsüchtige Völker (z. B. Franzosen) leichter in den Krieg treiben. Aber die Deutschen insbesondre sind jetzt mehr defensiver Natur, sie wollen wißen, wofür sie sich schlagen. Gilt es den Feind von den Grenzen abzuhalten und den Feind aus dem Lande zu schlagen, so werden sie auch wieder da sein. Ich habe mich nach den Schlachtberichten auch gefreut, wie gut sich meine Schlesier geschlagen haben, ich gehöre doch zu ihrem Stamm, bin von ihrem Fleisch und Blut, und es ist ein wohlthuendes Gefühl zu sehn, daß es doch etwas taugt. Ich bin nun 5 Jahr nicht in Schlesien gewesen und es ist meine Absicht, mich auf der bevorstehenden Reise wieder einmal zu orientiren, wie es dort aussieht. Ich werde daher kleinere Exkursionen machen und will mit der Mutter über Breslau zurükreisen, so daß wir wohl erst in den letzten Tagen des August wieder hier eintreffen werden. ||

Du scheinst doch immer tiefer in die Naturwißenschaften hineinzugerathen und der Wiener Aufenthalt für Dich von bedeutendem Vortheil gewesen zu sein. Das freut mich sehr. Hast Du erst Dein Staatsexamen hinter Dir, dann magst Du ganz der Wißenschaft leben. Aber das Studium der Medicin hat Dich, ohne daß Du es erwartet hast, erst recht in diesen Theil der Wißenschaften hineingebracht. Was mir ungemein wohlthuend ist, ist dieses, daß ich Dir so lange die Mittel zu Deiner Entwikelung habe gewähren können. Dies wird Dich in den Stand setzen, Dir darnach selbst fortzuhelfen. An reinem Streben fehlt es Dir nicht. Und die Befriedigung dieses Strebens macht Dein Lebensglük aus. Auch wirst Du wohl Dich meist in Berlin aufhalten, bist Du ein Unterkommen gefunden hast und solange ich lebe, werde ich es auch einzurichten suchen, daß Du bei mir wohnst.

Die große Hitze dauert hier fort, wir haben hin und wieder etwas Regen gehabt, aber nicht bedeutend, die Flüße troknen sehr ein und wir werden wohl einen troknen Sommer behalten. Wir haben nun schon Mitte Juli. Ende des Monats wird wohl Carl seine Reise antreten. Aber Ihr müßt uns von Zeit zu Zeit schreiben, wir können nicht leben, ohne von unsern Kindern zu wißen, und wenn alles geht, wie es gehen soll, so werdet hoffentlich Carl und Du einen rechten Genuß von der Reise haben. –

Ich bin nun mit meiner Lebensbeschreibung bis zum Ende des Krieges 1814. vorgerükt. Ich habe von jedem Gefecht und jeder Schlacht ein kurzes, aber charakteristisches Bild zu geben versucht, und zu diesem Behuf die Schlachtberichte mit großer Sorgfalt studirt. Zum Winter werde ich nun meinen 2ten großen Lebensabschnitt vom Jahr 1816 ab bis jetzt ausarbeiten. Ich habe gar nicht geglaubt, daß mich die Sache so intereßiren würde. Aber ich werde die Anschauung meiner ganzen Lebensverhältniße und der Zeit, in der ich gelebt, darin verweben; das giebt ein weites Feld und ich lebe so, indem ich diese Dinge niederschreibe, in der Zeit fort. Die Menschen wandeln jetzt erst im Schlaf, daß sie gar nicht wißen, was Gott mit der Zeit vor hat. Sie werden aber in den nächsten 20 Jahren gewaltig aus ihrem Schlaf aufgerüttelt werden. Das Menschengeschlecht entwikelt sich nach Gottes Willen und es giebt wahrhaftig Erscheinungen genug, um uns zu zeigen, daß wir in einer großen Zeit leben: der Verkehr der Völker durch die Eisenbahnen und Dampfschiffahrt, das Streben der Völker nach Theilnahme an der Regierung, das Wiedererwachen des Christenthums in einer reinen, dem Fortschritt der Zeit mehr zusagenden Gestalt, die nähere Verbindung mit dem Orient, die menschlichere Ausbildung der slavischen europäischen Völkerschaften etc. Das giebt für den, der Augen hat, zu sehen, viel zu denken, und ich bin so voll auf mit Meditationen und Studien darüber beschäftigt, daß ich mir wohl noch einige Jahre frische Lebenskraft wünsche, um sie fortzuführen. –

Nun mein lieber Ernst, unsern nächsten Brief, so Gott will aus Warmbrunn. Wir werden ihn wohl an Carl schiken, daß er ihn Dir mitbringt.

Dein Alter Hkl

16. Juli.

Ich danke Dir für Deinen heute eingegangenen Brief auf das herzlichste. Deine Vorschläge sind ungemein wohl gemeint, aber ich kann darauf nicht eingehn, weil es mir am Gelde fehlt, indem ich in diesem Jahr schon sehr bedeutende Ausgaben gehabt habe. Vielleicht wird es möglich, daß Du uns in den nächsten Jahren diese schönen Gegenden zeigst.

Brief Metadaten

ID
35982
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
16.07.1857
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
28,1 x 22,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35982
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Berlin; 16.07.1857; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35982