Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 30. Mai 1856

Berlin 30 Mai 56.

Mein lieber Ernst!

Es ist nun wohl Zeit, daß wir wieder etwas von uns hören laßen. Dein lieber letzter Brief hat uns sehr erfreut, da wir daraus ersehen, daß Du das Pfingstfest innerlich freudig zugebracht hast und daß Du Dich in Deinen dortigen Verhältnißen immer mehr einlebst. Mich nehmen jetzt vormittags die Ritterschen Vorträge in Anspruch. Da ich früh von 7–8 Uhr spatzieren gehe, so ruhe ich mich dann recht aus. Um halb 12 Uhr fahre ich im Omnibus nach dem Schloß und gehe von da ins Kollegium. Eben so fahre ich nach dem Kollegio mit dem Omnibus wieder zurük. Ritteragiebt doch viele mir neue Ansichten. So entwikelte er z. B. heute das Klima Europa’s, das hauptsächlich durch die vom Atlantischen Meer kommenden Nordwestwinde bedingt ist. Diese wehen im Durchschnitt 9 Monate des Jahres, sind sehr feucht und gehen über England, Norddeutschland durch die ganze Ebene bis nach dem nördlichen und südlichen Rußland an den Ural heran, die Feuchtigkeit der Wolkenb vermindert sich allmählich, so wie sie nach dem Osten vorschreiten. Auf dem Wolga Plateau werden sie aufgehalten und tränken hier die Flußquellen. So kommen sie bis an den westlichen Ural. Hinter dem Ural im Osten ist eine ganz andre Temperatur. Hier tritt schon das asiatische Klima mit seiner größeren Trockenheit, Kälte und Hitze ein und auch der Boden ist ein ganz andrer, er wird bloßer Steppenboden, während diesseits des Ural der fruchttragende europäische Boden beginnt, der zu beständigen Niederlaßungen, zum Ackerbau etc einladet, während der Osten hinter dem Ural und südlicher das Nomadenleben erzeugt, welches Asien charakterisirt und durch die großen salzigen wüsten Steppen bedingt ist. In Europa geht eine Hauptdiagonale vom Kaukasus über den Süden der Krim längst der Karpathen, die Sudeten, dem Erzgebirge bis Chemnitz, Altenburg, Gera, Zeitz, Naumburg, Nordhausen, dem Harz, dem Teutoburger Wald bis Münster, welche Europa in 2 Hälften schneidet, die nordöstlichste (die der Niederung) und die südwestliche (die Gebirgsländer). c Norwegen und Schweden sind Bestandtheile für sich. Die Winde und Wolken streichen nun vom atlantischen Meer herüber und machen das Klima feuchter, milder und fruchtbarer. Irland hat den meisten Regen, beinah ⅔ des Jahres. Das östliche England ist schon trokner. Vom südwestlichen Europa (dem gebirgigsten Theil) hat er uns noch nichts gesagt. Er charakterisirt jetzt das östliche Flachland Europa’s. Die Klimatologie greift doch wesentlich in die Erdkunde ein. Immer bleibt Europa das Land der versöhnenden Gegensätze, der Harmonie, während Asien, Afrika und Amerika die Erdtheile der größten Extreme sind, Amerika (besonders südlich) sehr feucht, Afrika sehr troken, Asien mit seinen großen PlateauLändern sehr kalt und doch auch in seinem Süden die extremste Hitze. In Rußland ist Petersburg wärmer als Moscau, weil die Feuchtigkeit der Ostsee sein Klima mildert, Moscau obwohl südlicher ist kälter und trokener. In Astrachan findet man die schönsten Trauben, da hier im Sommer große Hitze ist, im Winter müßen die Weinstöke sorgfältig eingehüllt werden, damit sie nicht erfrieren, während Bordeaux bei gleicher nördlicher Breite wegen des atlantischen Meeres eine viel gleichmäßigere Wärme hat. Das sind doch intereßante Erscheinungen. ||

Daß Dir Deine jetzigen Verhältniße manche schwierigen Aufgaben bringen, ist ja recht schön. So wird der Mensch durch das Leben erzogen! Gott hat Dich wirklich sehr gnädiglich geführt, wie Du ja selbst einsiehst. Nun halte nur waker aus, auch wenn schwere Stunden kommen. Man muß das Seinige thun und sich in den Willen Gottes ergeben. Das würde ich noch auf meine alten Tage lernen müßend, wenn ich es nicht schon früher hätte üben müßen. Du kennst meine starke politische Richtung, die Entwickelung Preußens, Deutschlands und Europas liegt mir ungemein am Herzen. Wenn man aber sieht, wie die Dinge bei uns gehen, so kann man sich oft in die Wege Gottes kaum finden, die oft besonders bei uns ganz diametral entgegengesetzt sind denjenigen, die wir vorschreiben würden. Der Gegensatz zwischen dem Osten und Westen von Europae tritt immer mehr hervor, Deutschland soll das vermittelnde Glied beider sein. Von uns f soll die westliche Kultur hinüber nach dem Osten wandern. Rußland hat durch sein Abschließen vom Westen bittre Erfahrungen gemacht, es ist in seiner inneren Entwikelung unter dem Regiment Nicolaus ganz zurükgeblieben und seine Hülfsquellen für den Krieg sind dadurch sehr vertroknet. Nicolaus wollte keine Verbindung mit europäischer Gewerbethätigkeit, keine Chausseen, keine Eisenbahn, mit stokrußischer Einseitigkeit gedachte er Europa zu bezwingen. g Sein Nachfolger (der in diesen Tagen hier zum Besuch ist) muß das entgegengesetzte System annehmen. Unser verstorbener König gieng in den Hauptstüken mit der Zeit und kam dadurch vorwärts. Der jetzige will die Zeit zurükschrauben, mit seinem Tode wird sein ganzes System, was dem innersten Wesen und Bestimmung des preußischen Staats zuwider ist, zusammenstürzen. So werden erst immer die falschen Wege versucht, um sich festzurennen und dadurch den richtigen wieder Bahn zu brechen. Wenn man den Fortschritt in frühern Jahren erlebt hat, wie ich und nun den Rükschritt sieht, dann h möchte man die Geduld verlieren und doch bleibt nichts übrig als sich darein zu finden. Inzwischen bringt der wiederhergestellte Friede viel Leben und Bewegung in die industriellen Unternehmungen, besonders in Bergwerken. In den letzten Wochen sind wir unangemeßen überrascht worden. Die Saksche Stiftung kann die erhöhten Stipendien nicht mehr zahlen, die Zahl der Intereßenten ist zu groß geworden. Ich erwartete noch 400 rℓ. für Dich zur Promotion, die werden nun wohl zu Waßer werden. – Carl ist sehr froh, die Seinigen wieder bei sich zu haben. Es soll jetzt sehr schön in Freyenwalde sein. Wir haben aber viel Regen, es möchte aufhören zu regnen. Carl studirt jetzt die bäuerlichen Verhältniße der Vorzeit. Es ist doch schön, daß wir ihn und die Seinigen so in der Nähe haben. Die Kinder machen uns viel Freude. Wir rüsten uns allmählich zur Badereise. Ich denke mir den Aufenthalt in Nenndorf nicht sehr intereßant und werde mich reichlich mit Büchern versehn. Allein es muß überstanden werden, da die Kur nöthig ist. Mit der Karo haben wir abends fleißig Deine Reisebriefe gelesen, jetzt sind wir beim Comer See. Die Zeit wird hoffentlich auch kommen, wo Du wieder reisen kannst. Nun genug für heute. Grüße Bekmann recht herzlich.

Dein Alter Hkl

a gestr.: Er; eingef.: Ritter; b eingef.: der Wolken; c gestr.: Englan; d eingef.: müßen; e eingef.: von Europa; f gestr.: hin; g gestr.: Er; h irrtüml. Dopplung: man

Brief Metadaten

ID
35979
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
30.05.1856
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
22,4 x 28,7 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35979
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Berlin; 30.05.1856; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35979