Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Stettin, 15. November – Berlin, 16. November 1851

d. 15. November 51

(Sonnabend)

Lieber Ernst!

Ich schreibe Dir hier in Stettin bei einer freien Stunde. Vorgestern fuhren Jacobi, Julius, Reimanna, die beiden jungen Saluskowsky und ich hierher, um die Tante Sack hier zu Grabe zu begleiten, nachdem ihre Leiche die Nacht vorher per Eisenbahn hierher gebracht war. Ihre Leiche ruht nunmehr in der nehmlichen Gruft neben ihrem früher verstorbenen Gatten. Ich habe dieses sehr paßend gefunden, da der verstorbene Oncle Sack hier 15 Jahr als Oberpräsident amtirt hat und hier also sein eigentlicher Wohnsitz war, wo man sich noch heute seiner mit vielem Dank für alles, was er für Stettin und die Provinz Pommern gethan hat, erinnert. Wir kamen früh um 11 Uhr an und begleiteten um halb 1 Uhr die Tante vom Bahnhof bis zur Gruft. Hierauf wurde bei Oncle Christian im Familienkreise zu Mittag gegeßen. Die Tante Sack hat seit 20 Jahren das von ihrem Ehegatten hinterlaßene Vermögen inclusive ihres eignen, (beides war zusammen in Einen Topf geworfen) aufs gewißenhafteste verwaltet. Sie hat es als ein anvertrautes Familiengut betrachtet und das schon vor 20 Jahren bedeutende Vermögen ist hierdurch wohl beinah noch einmal so groß geworden, so daß die jetzige Erbschaft höchst bedeutend ist. Sie zerfällt in 2 Hälften, die eine an ihre Verwandten (zu denen Jacobi gehört) die andere an die Sackschen Geschwister oder deren Kinder. Die Erbtheile, inb welche die erste Hälfte zerfällt, werden sehr bedeutend sein, da sie nur in 4 Theile zerfällt. Die Erbtheile dagegen, welche an die Sackschen Geschwister fallen, werden sich unter die vielen Kinder sehr zersplittern. Die große Gewißenhaftigkeit, mit der die brave Frau das große Vermögen, was ihr zur freien Disposition stand, verwaltet hat, ist im höchsten Grade lobenswerth und achtungswerth und so haben wir sie denn mit wahrer Theilnahme für ihren sittlichen Werth beerdigen können.

Gestern und heute habe ich mich hier etwas umgesehn, ungeachtet gestern das Wetter sehr schlecht war und morgen früh denke ich nach Berlin zurückzukehren. Ich will Dir nun von dem, was ich hier gesehn und gehört etwas erzählen. Stettin, welches längst der Oder an dem Abhange einer Anhöhe liegt, trägt ganz das Ansehn und Gepräge || einer alten Handelsstadt. Die Straßen der Stadt gehn zum Theil bergauf, haben meist hohe Häuser und sind nicht breit, wie dieses bei alten Städten meist der Fall ist. Die Stadt liegt längst der Oder, hat aber auch eine hübsche Tiefe, und ist von außen durch Festungswerk umgeben. An dem einenc Ende der Stadt befindet sich ein ziemlich ansehnlicher Park, für die städtischen Spatziergänger eingerichtet, um dort frische Luft zu schöpfen. Daran schließt sich der Kirchhof. Ohngefähr in der Mitte der Stadt (der Länge nach an der Oder gerechnet) geht eine Brücke über die Oder und am Ende dieser Brücke liegt der Packhof am rechten Oderufer, auch liegt an dieser Seite noch ein Theil der Stadt (circa ⅓ der ganzen Stadt). Auf diesem Packhof wohnt Oncle Christian. Die Wohnung ist sehr hübsch und geräumig und enthält zugleich das ganze Lokale der Provinzialsteuerdirektion. Sie liegt unmittelbar an dem Oderstrom, der hier größtentheils mit Schiffen bedeckt ist und die Aussicht aus den Fenstern der Wohnung auf diese Schiffe ist ungemein belebt. Den ganzen Tag über wird ein- und ausgeladen, während die Matrosen, je nachdem das Wetter ist, d mit dem Reinigen des Schiffs und dem Einziehen und Ausspannen das Segele beschäftigt sind. Regnet es, so werden die Segel eingezogen. Kommt die Sonne, so werden sie ausgespannt, um sie zu trocknen. Es sieht sehr hübsch aus, wenn die Matrosen an den hanfnen Leitern so heraufkriechen und an den Verbindungsseilen wie die Schwalben am Dach hängen, um die Takelage und Segel in Ordnung zu bringen und zu erhalten. Unten im Schiff wird unter Aufsicht des f Steuermanns und eines SteuerControlleurs fortdauernd aus- oder eingepackt. Es liegen vielleicht 30 Schiffe vor den Fenstern und dies giebt ein großes Leben. Dabei ist die Passage über die unmittelbar vor den Fenstern liegende Brücke ungemein lebhaft und man kann den ganzen Tag zusehn, ohne lange Weile zu haben. ||

Diesen Nachmittag habe ich bei schönem Wetter mit Oncle Christian und Tante Minchen einen Spatziergang nach Fraundorf gemacht, eine Stunde von hier, die Oder abwärts, wo ich ein Bild von der Gegend bekommen habe. Der Spatziergang führt über Hügel und Thäler, zur rechten, wie man nach Fraundorf geht, liegt die Oder und der große Dammsche See. Im Hintergrund nach Süden zu eine Hügelkette mit Wald bewachsen, welche das Ganze schließt. Im Ganzen eine sehr hübsche mannigfaltige Landschaft, von mehrern Stunden im Umfang. Dabei ist der Boden des Landes meist gut und fruchtbar, die Menschen sehr körnigt, und körperlich sehr kräftig, die Sprache schon halb platteutsch, Tante Minchen findet eine Aehnlichkeit zwischen hier und Westphalen, alles norddeutsches Gepräge, während die Provinz Sachsen und Thüringen den Uebergang zu Süddeutschland macht. An Geisteskultur steht die Maße des Volks gegen den Sachsen und Thüringer sehr zurück, ist aber sehr derb und kräftig. Der Märker steht zwischen dem Pommern und Sachsen zwischen inne. Auch die politische Kultur ist hier noch sehr zurück. Kein Wunder! wie die Provinz Pommern sehr reaktionair ist. Auch das Klima scheint hier schon etwas rauher zu sein wie in Sachsen. – Das wären so meine Hauptbetrachtungen von dieser Reise, die ich Dir habe mittheilen wollen. Wir haben in diesen Tagen sehr traulich hier in der Familie gelebt, die sehr liebenswürdig ist. Mimi kann noch immer ihren Husten und Schnupfen nicht los werden. Sie hat meist das Zimmer gehütet, da über dem das Wetter sehr schlecht war. Sie grüßen Dich alle herzlich. ||

Berlin Sontag Vormittag den 16. November. Soeben bin ich hier von Stettin angekommen und habe Deinen Brief gefunden, der mich sehr gefreut hat, besonders, was Du über Simons Predigt schreibst. Grüße alle Freunde recht herzlich, insbesondere auch Wieck, dem ich für seinen lieben Brief sehr danke und bald antworten werde. Ueber die Linksche Bücherauktion werde ich Dir noch schreiben, ich gehe heute Mittag zu Weiss Eßen und werde mit ihm darüber sprechen. Ich glaube, Du kannst für ausgezeichnete Werke, die Du später brauchst, höher gehen. h Du erhältst noch in dieser Woche Antwort. – Seit gestern ist es kalt geworden und gefroren. Für heute weiter nichts.

Dein

Dich liebender Vater

Haeckel

a eingef.: Reimann; b eingef.: in; c eingef.: einen; d gestr.: die; e korr. aus: Seegel; f gestr.: Sten; g eingef.: zwischen inne; h gestr.: und

Brief Metadaten

ID
35978
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Preußische Provinz Pommern / Königreich Preußen
Datierung
16.11.1851
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,1 x 23,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35978
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Stettin / Berlin; 16.11.1851; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35978