Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 3. April 1864, mit Nachschrift Charlotte Haeckels

Berlin 3 Aprill

Nachmittag.

Mein lieber Ernst!

Es ist fast unerträglich, Briefe an Dich abzuschiken und nicht zu wißen: ob sie Dir zu Händen kommen? 3-4 die wir abgeschikt, scheinst Du gar nicht erhalten zu haben, obgleich die Adreße genau und deutlich geschrieben war und ich glaubte, daß in Frankreich auf der Post mehr Ordnung sein würde wie in Italien. Deine Briefe an uns kommen sehr ordentlich an, sie gehn über Paris und wir erhalten sie gewöhnlich den 3 Tag früh, so Deinen letzten vom 30. Maerz erhielten wir gestern Vormittag, den 2ten Aprill. Wie schön wäre es, wenn Du die unsrigen eben so schnell erhieltest.

Heute früh war ich in der Kirche bei Sydow. Er und auch Thomas in der Nikolaikirche erörterten dena Ausspruch Christi: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Das gilt auch für Dich, mein lieber Herzenssohn. Mutter und ich bitten Gott täglich, daß er Dein Herz öffnen und Dir Glauben schenken möge. Das Jenseits ist und bleibt für uns ein verschloßnes Buch, sehen können wir nicht hinüber, aber unser Herz ist auf den Glauben an die Ewigkeit gewiesen. Ich habe in der Kirche, als ich den letzten Vers des Liedes sang, recht um unsre Anna geweint, sie stand ganz lebendig vor mir; und ich weine täglich mehrmals um sie in stiller Stunde, das liebe Kind. Nun sie ist der höhern Entwikelung, dem ewigen Leben schon näher als wir. Man muß sich nur diese Entwikelung nicht zu irdisch vorstellen, aber ihr geistiges Selbstbewußtsein mit einer wesentlichen Rükerinnerung an das, was sie hier war, wird nun schon im Vorschreiten begriffen sein. Man muß sich nur die irdischen Anschauungen von Zeit und Raum, in welche unser Bewußtsein hier gekleidet ist, nicht als Bedingung des dortigen Lebens denken, dort wird das geistige Selbstbewußtsein || in andern Elementen leben. Als ich so recht bitterlich in der Kirche geweint, gieng ich mit Mutter unter dem unfreundlichsten Wetter ein Stük aus der Kirche, wir nahmen eine Droschke und fuhren zu Mollards, um ihnen zu der Verlobung von Max Glük zu wünschen, er heirathet ein sehr liebes Mädchen eines hiesigen Fabrikherrn aus einer sehr achtbarn einfachen Familie. Von da giengen wir nach Hause. Inzwischen war Quinke bei uns gewesen, um mir anzuzeigen, daß den alten Kühne der Schlag gerührt habe. Er ist bald darauf gestorben, ein schöner Tod. Sonntag gieng ich in der Regel nicht mit ihm, sonst sind wir in den letzten 4 Wochen alle Morgen von halb 9 Uhr - halb 10 Uhr im Thiergarten zusammen spatzieren gegangen und haben oft sehr ernstliche Gespräche geführt, auch über das Christenthum, für welches er Empfänglichkeit hatte. Er war bei vielen Eigenheiten, die seinem Umgang schwierig machten, ein sehr gemüthvoller und für andre aufopferungsfähiger Mensch. Ich suchte mich in ihn zu finden und das thut mir jetzt sehr wohl. Er wird mir sehr fehlen, er hat einen schönen, wünschenswerthen Tod gehabt, 78 Jahr alt, 4 Jahr jünger als ich. Was ist natürlicher, daß ich da auch an meinen, vielleicht sehr nahen Tod denke. Aber mein lieber Ernst, ich wünsche jetzt noch einige Zeit zu leben, ich möchte gern nochb bei meiner Lotte und meinen Kindern bleiben. Ich wünschte besonders auch noch zu erleben, daß Deine innre Katastrophe vorwärts geht, denn in dem Zustande, in welchem Du jetzt bist, wirst Du und kannst Du nicht bleiben. Wenn Du nur den Glauben an die Ewigkeit, an eine geistige erhöhte Fortdauer gewinnst, dann hast Du ein wesentliches Gut errungen. – Wenn ich Dir nur beschreiben könnte, wie furchtbar schal, erbärmlich und nichtig mir jetzt wieder das Erdenleben vorkommt, ich kann mich ganz in Dich hinein || versetzen aber in diesem Umfang darf dieses nicht bleiben, man würde sonst unfähig sein, für dieses Erdenleben zu wirken. Gott hat dieses Erdenleben geschaffen, darum muß es, so wie es hier ist, gut sein. Es ist ein Stadium, ein nothwendiges Stadium in der Entwikelung unseres Geistes und das Studium der Weltgeschichte zeigt, daß schon hier auf Erden die Menschheit in einer fortdauernden Vervollkommnung, bis auf einen gewißen Grad nehmlich begriffen ist. Den irdischen Theil unsers Wesens werden wir nie ganz abstreifen, die Sünde wird uns auf dieser Erde nicht verlaßen, aber die Menschheit wird immer menschlicher, der rohenc Thierheit immer mehr entfremdet werden, die Anerkennung des eigenen Geistes im Menschen und seine darauf gegründete Berechtigung wird immer mehr wachsen und sich geltend machen, daher die Kämpfe der Gegenwart. – Ich lese jetzt viel theologische Schriften. Das ernste aufrichtige Forschen denkender Theologen führt doch zu etwas, und so wird auch das Christenthum immer mehr von einer engherzigen Orthodoxie gereinigt, und das wahre Wesen Christi d als wirklicher Mensch immer mehr erkannt. Christus ist der größeste Religiöse, die reinste religiöse Erscheinung der Weltgeschichte, er kann nur durch ein religiöses Gemüt wahrhaft erkannt werden, denn die Religion bildete sein ganzes Wesen, er war religiös durch und durch. Gott sei Dank, daß wir eine solche Erscheinung in der Weltgeschichte haben, an dem sich das religiöse Gemüth erwärmen kann. Wenn erst das religiöse || Element in Dir wieder lebendig geworden sein wird, wovon ich bei Deinem kindlichen, unverdorbenen Gemüth nicht zweifle, so wirst Du auch Christum begreifen lernen.

Wir leben jetzt in unserm neuen Quartier sehr behaglich. Mimi mit den 6 Kindern ist bei uns und Carl schon seit Donnerstag (nach den Feiertagen) wieder zurük. Soeben war Doctor Börner, der früher in Landsberg war und jetzt hirher gezogen ist, auch mit Virchow verkehrt, bei uns. Er sagte uns: daß Deine Arbeit über die Radiolarien die größte Anerkennung findet und daß besonders auch der allgemeine Theil als klassisch anerkannt wird. Du siehst also: daß wenn Du fortarbeitest, Du hier nicht umsonst gelebt haben wirst. Nur mußt Du außer der Wißenschaft auch dem Gemüth seine Berechtigung zuerkennen, sonst wirst Du ganz einseitig und bleibst nur ein halber Mensch.

Wir haben von hier wenigstens 2 Briefe an Dich nach Nizza und 2 nach Villafranca gesendet. In dem erstern war auch eine Abschrift des Schreibens von Darwin an Dich, worinn er Dir für seine Vertheidigung in Stettin dankt. Das Original seines Schreibens haben wir hier behalten. Gehe doch zum Director des Post Amts in Nizza sage ihm: daß Briefe von uns angekommen sein müßten. Denn es liegt wahrscheinlich an der Faulheit der Unterbeamten, wenn gesagt wird: es seien keine angekommen. Melde mir den Erfolg; denn wenn das so fort geht, daß Du keine Briefe von uns erhältst, so gehe ich hier zum General Post Director und bitte ihn, sich bei dem französischen Gesandten zu beschweren, daß Briefe, die man von hier an die Seinigen nach Nizza od. Villa Franca schikt, dort keine Beförderung finden können. Das ist ja gegen alle Einrichtungen civilisirter Länder. Ich bin über dieses Verfahren ganz aufgebracht. A Dieu, mein lieber Ernst. Schreibe nur recht bald wieder. Die Weiss, bei der ich gestern war, läßt Dich herzlich grüßen. Dein Dich liebender Vater

Haekel.

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

Den herzlichsten Gruß und Kuß von Deiner treuen Mutter.

a korr. aus: das; b eingef.: noch; c eingef.: rohen; d gestr.: imm

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
03.04.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35953
ID
35953