Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 27. Mai 1862, mit Nachschrift Charlotte Haeckels

Berlin 27 Mai 62.

Mein lieber Ernst!

Es ist nun wohl Zeit, daß ich Dir einmal selbst schreibe. Wir haben jetzt eine Zeit, in der alles quer gegangen ist. Carl hat die Stelle in Neu Ruppin nicht bekommen, es ist ihm ein jüngerer vorgezogen worden. Wir müßen anerkennen, daß es so hat sein sollen und wohl wieder andre beßere Zeiten kommen werden. Carl ist eben hier und will sich beim Justizminister nähere Aufklärung erbitten, da das Verfahren ganz gegen die Regel ista, indem er als der älteste vom Kammer Gericht unanimiter zu der Stelle vorgeschlagen war. Die Sache macht in der b Kreisrichterwelt und beim Kammer Gericht großes Aufsehen, indem das Verfahren gegen alle Observanz ist. Wahrscheinlich stekt der Nepotismus dahinter. Carl wird wohl noch eine andre Stelle finden. Aber das Willkührliche des Verfahrens ist betrübend und Aergererregend. Wird Dir es etwa auch so gehen? Da jetzt alles verkehrt geht, so erwarte ich auch von dieser Seite etwas. Ferner wird die Verwaltung der Wesphalia (unsres Bergwerks) getadelt. Carl wird zum Sonnabend od. Sonntag hinreisen nach Dortmund, da am 4ten Junic General Versammlung ist, um sich an Ort und Stelle vollständig zu unterrichten. Ich schike Dir hier ein Schema zur Vollmacht für Carl, welches Du als Aktionair auszufüllen, und dabei zu bemerken hast, daß Du Dich jetzt als Privatdocent in Jena aufhältst. Es ist noch ganz unentschieden, was Mutter und ich diesen Sommer machen werden. Carl hat es wieder d seit Maerz etwas im Halse sitzen und auch Mimi ist oft erkältet gewesen. Mutter und ich wünschen daher, daß beide Carl und Mimi nach Ems gehen. Da aber die Kinder den Keuchhusten haben, so will Mimi e sie nicht verlaßen. Mutter hat sich erboten, solange als sie in Ems wären, nach Freyenwalde zu gehen und die Kinder zu pflegen. Entschluß ist noch nicht gefaßt. Ich denke jedenfalls in den ersten 8 Tagen des Juli nach Bonn zu gehn und dort bei derf Bleek, die mich aufs Dringendste eingeladen hat, den Juli zuzubringen. Wenn die Sachen nicht wieder verkehrt gehen, so nehmen wir an, daß Mitte August Deine Hochzeit ist. Minchen und Anna sind heute früh nach Heringsdorf gereist und denken zur Hochzeit wieder herzukommen, nach der Hochzeit will Minchen ihren Ueberzug nach Frankfurt halten und dann auf einige Zeit nach Heringsdorf. Durch Minchens Abgang von hier wird sich meine und Mutters Lage sehr verändern, denn wir sind sehr viel mit ihr und Anna zusammen gewesen. Wir werden zum Winter uns nach anderm Umgang umsehen. Ich fühle doch meine Achtziger Jahre sehr stark, es ist nicht mehr wie vor 10 Jahren, am Tage über liege ich meist auf dem Sopha und lese od. schlafe. Aber marschiren kann ich noch gut, früh 1 ½ Stunde und Abends eben so viel. Aber es thut mir sehr bange, daß ich nicht mehr für die Welt thätig sein kann, sondern den Zuschauer abgeben muß. – Ueber Deine Aussicht zur Profeßur wird gar nicht gesprochen, wie Du es wünschest. Das ganz verkehrte Verfahren dort g und daß Seebek bei seiner Anwesenheit ganz offen von der Sache gesprochen, hatte in mir die Vorstellung erzeugt, daß, da die Fürsten eingewilligt, nunmehr die Sache entschieden sei. Denn überall in der Welt frägt die Regierung die wißenschaftliche Behörde zuerst und wenn diese ihre Erklärung abgegeben, giebt sie ihre Genehmigung, ihr imprimatur. Bei Euch ist es umgekehrt, zuersth giebt die Regierung ihre Genehmigung und wenn dieses geschehen kann dann die wißenschaftliche Behörde Nein! sagen, was ganz der Stelle und Würde einer Regierung zuwider ist. Ich hatte die i Erklärung der wißenschaftlichenj Behörde für eine bloße Förmlichkeit gehalten, in der Voraussetzung, daß sich die Regierung von der Genehmigung der Universität schon im Voraus überzeugt habe. Nun spreche ich gar nicht mehr über die Sache und auch denen, die ich hierüber gesprochen, ist Stillschweigen auferlegt. Was die Politik bei uns betrifft, so erfährst Du ja täglich aus den Zeitungen, wie die Sache steht. Die Kammer ist völlig loyal und wird sich ganz in den Schranken ihrer Rechte halten. Das gefällt aber den Herrn da oben nicht, sie können den alten Absolutismus nicht los werden, sie werden sie aber doch darein fügen müßen. Unter der Fortschrittsparthei || sind sehr viel verständige Männer. Die Veteranen des Liberalismus sehen aber in denselben immer noch die Revolutionärs des Jahres 1848, und thun darin sehr unrecht. Einige derselben, Waldek und Consorten, sind allerdings incorrigibel und träumen von ganz unpraktischen Dingen. Aber diese Gruppe entscheidet nicht. Schulze Delitzsch, Twesten und viele andre sind sehr vernünftig und man kann füglich nicht mit ihnen gehen. Legen Vinke und Consorten ihre Schrollen nicht ab, so werden sie schlecht dabeik fahren. Wäre ich in der Kammer, so würde ich auch wahrscheinlich zur Fraktion Bokum-Dolfs halten, die mit dem vernünftigen Theil der Fortschrittsparthei die Majorität bilden wird. Sieht endlich der König, daß die vernünftigen Fortschrittsleute sich in den Schranken halten, so wird er doch nachgeben müßen. Aber er ist jetzt nicht mehr vorurtheilslos. – Die Vollmacht für Carl schike mir bis zum Sonnabend. Dein Alter

Hkl.

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

Mein lieber Herzens Ernst!

von mir noch einen innigen Gruß, ich war heute früh 5 ½ Uhr noch zu Anna gegangen, die frisch und munter mit ihrer Mutter abgereist ist, uns wird sie sehr fehlen. Du kannst Dir denken, wie entrüstet wir darüber sind, daß der H., der die Stelle in Neu Ruppin bekommen hat, 6 Jahr später als Karl sein Examen gemacht hat. – Karl meint ich sollte an Deinen neuen Hemden die kleinenl Knöpfe so setzen, daß sie stehen, schreibe mir darüber Antwort. Mit herzlicher Liebe

Deine Mutter

a eingef.: ist; b gestr.: Juri; c eingef.: Juni; d gestr.: etwa; e gestr.: den; f eingef.: der; g gestr.: Erke; h eingef.: zu; i gestr.: wißenschaftliche; j eingef.: wißenschaftlichen; k irrtüml. doppelt: schlecht dabei; l eingef.: kleinen

Brief Metadaten

ID
35942
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
27.05.1862
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
27,5 x 21,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35942
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte an Haeckel, Ernst; Berlin; 27.05.1862; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35942