Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 12. November 1861, mit Nachschrift Charlotte Haeckels

Berlin, 12 Novemb 61.

Lieber Ernst!

Den Brief an Reimer habe ich gestern Nachmittag abgegeben. Nachdem er ihn gelesen, meinte er, es sei Schade daß er ihn nicht einige Zeit früher erhalten. Er werde sein Möglichstes thun. Dann sagte er: es scheine nuna doch, daß es mit Verbeßerung Deiner äußern Lage vorwärts gehen solle. Ich erwiderte: So lange ich es nicht schwarz auf weis sähe, glaubte ich an nichts.

Hier ist alles mit den Wahlangelegenheiten beschäftigt, fast täglich Vorversammlungen. Auch ich habe vorgestern (Sonntags) an einem kleineren Comité Theil genommen, um die größere Versammlung über die Besprechung der Wahlen vorzubereiten. Es waren lauter vernünftige Männer drinn. Lette, Böckh, der Geograph Kiepert etc. Wenn auch eine Anzahl Mitglieder der extrem liberalen Parthei in die Kammer gewählt wirdb, so kann es gar nichts schaden. Die wunden Stellen werden dann schonungslos aufgedekt. Aber wie diese Wunden zu heilen sind, ist eine andre Frage. Eigentlich constitutionell ist nur ein kleiner Theil des Adels und die Majorität des gebildeten Mittelstandes. Die untern Klaßen, der Bauern und Arbeiter wißen und verstehen noch nicht die Bedeutung einer constitutionellen Verfaßung. Wären sie c so klar in der Sache wie der gebildete Mittelstand, dann stünden die Sachen ganz anders und man könnte mehr durchsetzen. Sie sind noch zu sehr an das absolute Königthum gewöhnt, d das weis man oben und darum glaubt man schlimmstenfalls, e wenn die constitutionelle Parthei die Sache ganz auf die Spitze stellt, auch Sachen gegen deren Willen und Ueberzeugung durchzusetzen. Durch Auflösung einer neuen und in der Militärfrage durchausf nicht nachgiebigen Kammer und Appellation des Königs an das Volk g über die Nothwendigkeit der geforderten Militärmittel würde der König wahrscheinlich doch seinen Zwek erreichen. Es ist also immer die Hauptfrage: was man unter den gegebenen Umständen durchzubringen hoffen muß? Also: die Abschaffung der noch übrigen Feudalverhältniße, damit wird man wohl durchkommen. –

Was Dich betrifft, mein lieber Ernst, so bitte ich Dich nur, bei allem Fleiß Dich doch nicht körperlich zu ruiniren, um das Buch fertig zu machen. Mache Dir täglich etwas Bewegung und beobachte eine angemeßne Diät, bis das Buch fertig ist. Dann kannst du ja später wieder regulärer leben. Ich wünsche nur nicht, daß Du Dir durch die gegenwärtige Anstrengung Deiner Gesundheit für die Zukunft einen dauernden Schaden zufügst. Damit wäre die baldige Verbeßerung Deiner äußeren Lage zu theuer erkauft.

Ich habe starkenh Schnupfen und befinde mich nicht ganz wie gewöhnlich. Auch Kühne hat sich erkältet. Wenn man alt geworden, muß man sich doch sehr in Acht nehmen.

Hkl

a korr. aus: uns; b eingef.: wird; c gestr.: we; d gestr.: man; e gestr.: auch Dinge; f eingef.: durchaus; g gestr.: wie; h eingef.: starken

Brief Metadaten

ID
35939
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
12.11.1861
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
27,5 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35939
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte an Haeckel, Ernst; Berlin; 12.11.1861; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35939