Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 5. März 1864, mit Nachschrift Charlotte Haeckels

Berlin Sonnabend 5 Merz 64.

Mein lieber Ernst!

Wir sind Montag Abend wohlbehalten hier eingetroffen, am Bahnhof fanden wir Heinrich, in unsrer Wohnung Bertha. Mutter Minchen war noch hier geblieben, um uns zu erwarten. Sie aß mit den Tanten und Heinrich Dienstag Mittag bei uns, und reiste Mitwoch nach Frankfurt. Wir haben in diesen Tagen sehr viele Besuche von Verwandten und Freunden gehabt, die uns ihr Beileid bezeigten und denen wir von der traurigen Katastrophe erzählen mußten. Es herrscht unter ihnen nur Ein Gefühl des starken Schmerzes über das plötzliche unerwartete Dahinscheiden unsrer Anna und wenn wir dann allein sind, laßen wir den Thränen ihren Lauf.

Ich kann zwar wißenschaftliche Dinge lesen, ich kehre dann aber immer zu unsrer Anna zurük und frage den lieben Gott, warum er sie, das liebe Kind, uns genommen hat. Dann blike ich auf das menschliche Leben und sehe, daß jeden Tag Tausende in der Blüthe des Alters dahin welken, daß der Krieg oft Tausende in Einer Stunde verschlingt und da wird mir dann recht klar, wie dieses Erdenleben nur ein kurzes Stadium unserer geistigen ewigen Existenz ist. Ich sehe dieses Leben mit seinen großen Unvollkommenheiten, mit seinen Leidenschaften, welche uns dieses Leben verbittern, mit der Doppelnatur des Menschen, wovon die eine ganz der Nichtigkeit des Irdischen, die andere dem Ewigen zugewandt ist, wie diese beiden Naturen in stetem Kampfe liegen, und wie sich dann die Aufgabe dieses Lebens ganz klar und sicher dahin herausstellt, einmal den Beruf für dieses Erdenleben und seine Beschäftigungen richtig aufzufaßen, andererseits aber nie zu vergeßen, daß wir für eine höhere geistige Entwikelung in der Ewigkeit bestimmt sind und daß wir im Gefühl dieser Bestimmung unsre irdischen Neigungen und Triebe in Schranken halten, daß wir nicht nichtigen Dingen nachjagen und uns von ihnen beherrschen laßen, sondern mit dem edlern Theil unseres Selbst der Ewigkeit zugewendet bleiben. Diese Erdenwelt hat offenbar ihren eigenen Zwek für uns Menschena, sie ist eine Vorstufe für jene Welt, wir müßen sie hier schon so viel als möglich begreifen lernen, wir müßen die göttlichen Ordnungen im Bau der Natur und der irdischen Geschöpfe und ihre Bestimmung möglichst zu erkennen suchen. Wenn wir dieses auf die rechte Weise thun, || so wird uns gleichzeitig die Sehnsucht nach oben ergreifen und wir werden unsren dahingeschiedenen Geliebten, die uns voran gegangen sind, treu bleiben. So komme ich immer nach ruhiger Betrachtung auf dieses Resultat zurük. Der Tod meiner Emilie hat damals viele irdische Neigungen, deren Nichtigkeit ich erkannte, ertödtet, ich habe den Blik auf das Ewige in mir immerfort zu erhalten gesucht und so wird es mir hoffentlich auch nicht schwer werden, dieses Erdenleben voller Hoffnung einer künftigen beßern Existenz zu verlaßen und ruhig hinüber zu gehen. – Trotz aller dieser ruhigen Betrachtungen tritt dennoch das Gefühl der Wehmuth über den Verlust unsrer Anna in einzelnen Stunden täglich auf das lebhafteste hervor, ich kann mir es noch gar nicht denken, daß wir sie nicht mehr um uns haben sollen und daß Sie uns so plötzlich in ihrer irdischen Gestalt entschwunden sein soll. Mit dem Glauben an die künftige geistige höhre Fortexistenz werde ich dann aber immer wieder ruhig und ich kann Dich nur an diesen Glauben verweisen um Dich zu beruhigen. Die göttliche Weltordnung hat uns absichtlich jede Einsicht in die Ewigkeit verschloßen und doch ist diese Ewigkeit eine unumstößliche Gewißheit, wenn wir die göttliche Weltordnung ansehen. Mit dieser Gewißheit sollen wir uns begnügen, wenn uns auch das Wie der Zukunft völlig verschloßen bleibt, und so bete ich täglich zu Gott, daß er Dir diesen Glauben schenken und ihn in Dir befestigen möge, dann wirst Du auch das Andenken an Deine Anna auf das sicherste bewahren.

Wir haben in diesen Tagen sehr ernste Stunden mit Deiner Freundin Weiss verlebt, die ebenfalls von unserer geistigen Fortexistenz aufs innigste überzeugt ist und sich nach Jenseits sehnt. Vor einigen Tagen ist auch die Generalin von Grolmann (68 Jahr alt) beerdigt worden, eine ganz vortreffliche Frau, die wir sehr geliebt haben. Ebenso ist vor einigen Tagen der alte Oncle Sethe in Aurich 86 Jahr alt gestorben, Oncle Julius ist zu seinem Begräbniß da gewesen. Im Uebrigen machen wir schon Vorbereitungen zum Umzug, der in der Karwoche stattfinden soll. Mimi wird zu Ostern zu uns kommen, auch Carl auf einige Tage. Mimi ist heute in Frankfurt, um Mutter Minchen zu besuchen und sich mit ihr etwas auszusprechen.

Hier gehn in diesen Tagen die Collegien zu Ende, gestern hat || Barth geschloßen, er läßt Dich herzlich grüßen. Eben so war gestern der Profeßor Braun und Frau hier, die auch den innigsten Antheil nehmen. Es thut mir recht wohl, daß ich mich mit Deiner Freundin Weiss so recht aussprechen kann und daß wir zusammen stimmen. Die Mutter wird in den nächsten Wochen der Umzug sehr in Anspruch nehmen. Ich kann ihr weniger dabei helfen, auch sind es noch 14 Tage hin. Aber ich werde mich bis dahin recht in meine philosophisch religiösen Studien versenken, ich werde besonders auch den Plato und Schleiermacher lesen und bin am liebsten zu Hause, wenn ich mich so ganz meinen Gedanken überlaßen kann. Ich habe, da die Tage jetzt länger werden, wieder meine Frühpromenaden im Thiergarten (früh nach 8 Uhr) begonnen, die mir wohl bekommen. Auch Quinke warb eines Abends bei uns, er kannte zwar die Krankheit, an der unsre Anna erlegen. Er wunderte sich aber über die große Schnelligkeit der Auflösung, indem in den Fällen, die ihm bekannt worden, die Krisis und ihr Prozeß wenigstens 2 Tage gedauert haben. – Nun mein lieber Ernst ist die größte Sehnsucht bei uns nach Briefen von Dir, Du mußt uns recht fleißig schreiben. Morgen (Sonntag) erwarten wir den ersten aus Genf. Das war ein schwerer Abschied in Apolda! Unser Carl hat uns heute geschrieben, er muß Haushalten bei den Kindern, da Mimi in Frankfurt ist.

Hier glaubt man in der Schleswig-Holsteinischen Sache an eine Wendung zum Beßern, da sich die Einfluß habenden Militärs ganz gegen die Diplomatie von Bismark gewendet haben und für ihre Anstrengungen in diesem angreifenden Winter-Feldzug, die sehr groß gewesen, einen wesentlichen Erfolg durch das Abreißen von Schleswig-Holstein von Dänemark verlangen. Freilich werden erst noch die Düppler Schanzen genommen werden müßen. Unsre junge Mannschaft in Schleswig ist voll guten frischen Muths, es finden für jetzt nur häufiger Vorpostengefechte statt und die Zündnadelgewehre sollen in den vorgefallnen Gefechten sich aufs trefflichste bewährt und den Dänen viel Schaden gethan haben. Ich will heute noch in die Geographische gehen, wo Barth einen Vortrag über Arabien und Afrika halten wird. ||

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

Sonnabend Mein lieber Ernst!

Karl, der Dich herzlich grüßen läßt, schickte für Dich einen Brief von Grabbe, eben so kam heute einer zurück von Kühne; ich habe sie Dir alle aufgehoben; soll ich sie bis zu Deiner Rückkunft aufheben, oder soll ich sie dir nach und nach schicken? Heute lege ich bloß den von Deiner Schwiegermutter bei, er wird sonst zu dick. Bis heute Sonntag, habe ich den Brief liegen lassen, weil ich immer auf Nachricht von Dir hoffte. Wenn Du noch nicht geschrieben hast, bitte dann sage uns bald, wie es mit deiner Gesundheit geht etc. wir sind immer bei Dir mit unserer Liebe. Gottes Segen wünscht Dir Deine alte Mutter.

a eingef.: für uns Menschen; b Textverlust durch Ausriss, sinngemäß ergänzt: Ich kann ihr...Auch Quinke war; c Textverlust durch Ausriss, sinngemäß ergänzt: einen Brief von Grabbe... Kühne; ich habe

Brief Metadaten

ID
35932
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
05.03.1864
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
22,9 x 14,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35932
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte an Haeckel, Ernst; Berlin; 05.03.1864; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35932