Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 17. März 1864, mit Nachschrift Charlotte Haeckels

Berlin 17 Merz 64.

Mein lieber Ernst!

Gestern früh erhielten wir Deinen Brief aus Mentone, nach welchem wir uns außerordentlich gesehnt hatten. Nach dem großen Unglük, was uns betroffen, glaubt man immer, es könne noch mehr kommen, und so waren wir schon Deiner Gesundheit wegen in großer Besorgniß. Gott sei Dank, daß Du wenigstens so weit gesund angekommen bist. Das übrige Unglük müßen wir ertragen lernen. Sonntag den 6 Maerz haben wir den ersten Brief nach Genua an Dich abgeschikt. Er hätte also wohl Freitag den 11 Maerz, wo Du noch in Genua warst, dort sein können. Denn Deinen Brief aus Mentone haben wir den 3ten Tag früh gehabt. Die Aufschrift hatten wir ganz deutlich gemacht. Den 2ten Brief haben wir den 13ten nach Nizza geschikt. (Nice aber Nizza dabei gesetzt.) Wir werden Dir möglichst fleißig schreiben, erwarten aber auch daßelbe von Dir. Daß dich dein Schmerz immer noch überwältigt, befremdet mich nicht, ich kenne das Alles aus eigner Erfahrung, auch wird dieser heftige Schmerz noch nicht bald weichen, erst nach einem halben Jahre empfand ich einige Linderung, ich hatte aber auch das Gefühl, daß er so nicht fortdauern konnte, sonst wäre ich zu Grunde gegangen. Mache Dich auch noch auf sehr schwere Zeiten, wenn Du zurükkommst und Deine Anna nicht mehr findest, gefaßt, dann wirst Du uns aber bei Dir haben, und das soll Dir den Schmerz erleichtern. Erst, wenn Du wieder ordentlich in Arbeit kommst, wird sich der Schmerz wesentlich lindern und Du wirst dann im Andenken an Deine Anna in deinem Beruf fortleben können. Du glaubst gar nicht, in welche Reflexionen ich durch unser Unglük gerathen bin? Die Stunden abgerechnet, wo das Gefühl zum Durchbruch kommt und wo wir den Thränen freien Lauf laßen. Ich habe mir das ganze Erdenleben in großen Abschnitten vorüber geführt, um auch mit dem Verstande zu einer Erkenntniß der Bedeutung dieses Erdenlebens zu gelangen. Ich dachte mir z. B. gestern, wenn ich in der römischen Kaiserzeit gelebt hätte, die traurige Zeit einer untergehenden Welt, während das Christenthum, welches die Welt regeneriren sollte, unerkannt und verfolgt fast bedeutungslos zu wirken schiena. Wenn man aber dieses Leben nur als ein kurzes Stadium einer ewigen Existenz betrachten kann, so verschwindet auch das Unglük, in solcher untergehenden Welt zu leben. Man hat aber nur den Beruf von Gott, eine kurze Zeit hier auszuhalten, und dann einem vollkommneren Leben entgegenzugehen. Jetzt sind die Zeiten beßer als damals zur römischen Kaiserzeit, jetzt ist die Erdenwelt und ins besondre das gebildete Europa in einer sehr schönen Entwikelung zur || Freiheit, wo Recht und Gesetz, nicht mehr Willkür herrschen sollen, begriffen, aber auch diese Entwikelung geht für den, der eben lebt, sehr langsam, man wird ungeduldig. Verfolgt man aber den Gang der Geschichte, so wird man geduldig, man sieht dann ein, daß es schnell genug geht; der kleine Mensch mit seinem kurzen Dasein kann nicht alles erleben. Ich bin alt geworden und habe vieles erlebt. Die Entwikelung der Völker hat in den letzten 50 Jahren ungeheure Fortschritte gemacht, es befremdet mich nicht mehr, bei den meistenb Regierungen den Unverstand regieren zu sehen, aber die Weltregierung, die göttliche Weltordnung weis zuletzt mit allem Unverstande fertig zu werden. Er führt eben durch seine Thorheiten und Schlechtigkeiten das Richtige herbei.

Ich lebe hier meinen Studien, meiner innre Betrachtung und vermeide den Verkehr mit der Welt so viel ich kann. So schlage ich mich am besten durch. – Wenn sich erst der Schmerz bei Dir mehr gesetzt haben wird, so wird Dich Deine Wißenschaft wieder in Anspruch nehmen, und sie wird Dich beruhigen. Vor einigen Tagen kam ein Brief von Darwin an Dich an, als eben Martens bei Mutter war (ich war ausgegangen). Du erhältst hirvon in der Beilage Abschrift, das Original wollen wir Dir hier aufheben.

Gestern war die Familie hier wieder zusammen, um in der Erbschaftssache des Oncle in Aurich Vollmachten für Oncle Julius und für Deinen Schwager Heinrich auszustellen, welche die Regulirung der Erbschaft besorgen wollen. Es war complettes Aprill Wetter Sonnenschein, Schneegestöber, Wind etc. Die vorige Nacht hat es gefroren und es ist heute schöner heller Tag. – Mutter ist schon sehr mit dem Umzug c beschäftigt, der künftigen Mitwoch den 23sten erfolgen soll.

Von da ab wohnen wir Schellingstraße N. 14. Ich wollte wir hätten ihn erst hinter uns und wären im neuen Quartier eingerichtet. Carl mit den Jungen wird wahrscheinlich zum Fest kommen, Mimi mit den übrigen Kindern etwas später, sie will die Feiertage bei der Mutter zubringen und dann auf einige Wochen zu uns kommen. – Ich lese jetzt in unsrer Zeitschrift für allgemeine Erdkunde von Kooner den Aufsatz von Barth: „Seine Reise durch die europäische Türkei“ im Decemberheft 1863 und Januar und Febr. Heft 1864. Er beschreibt sie, indem erd sein sehr gewißenhaft und genaues Tagebuch wieder giebt. Es ist sehr schade, daß es diesen Beschreibungen an Phantasie fehlt. Man findet daher seine Beschreibungen langweilig und troken. Aber sie enthalten ein || gutes Material und man muß sich die Mühe machen, dieses zu einer anschaulichen Composition zusammen zu setzen. Der Balkan (Haemus) ist noch wenig bekannt und besucht. Die Reise durch die europäische Türkei ist etwas kostbar, denn man kanne sie wegen der herrschenden Räuberei nicht ohne militärische Begleitung machen. Der Haemus enthält ungemein schöne Gegenden, die bis zu 9000 Fuß sich erheben. Es finden sich darin griechisch christliche Klöster und sehr viel einzelne Weiler. Von Bulgarien und Rumelien ist er nach Griechenland gegangen. Die Gegend von Athen hat unter der Regierung des Otto sehr gewonnen. Mit großer Sorgfalt sind die alten Baukunstwerke wieder gereinigt und hergestellt. Aber die Civilliste des Otto hat das Volk verdroßen und die Deutschen verhaßt gemacht. Die Deutschen gehören, wenn auch nicht ausschließlich, doch sehr reichlich zu den Bildungselementen der christlichen Welt und Oesterreichs Beruf ist es ins besondre, die Kultur der Neuzeit im Südosten von Europa zu verbreiten, nicht aber Italien, welches sein eignes Bildungselement, zu tyrannisiren. Darinn hat es ganz recht, daß es sein deutsches Element nicht aufgeben will, es soll aber Deutschland nicht knechten. Die Kulturvölker sollen nun einmal die noch in Rohheit versunkenen geistigf beherrschen und sich mit ihnen amalgamiren. So will es die Weltgeschichte. Für heute genug

Dein Alter

Hkl.

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

Heute war ich wieder beim Ph. Graf, die Visitenkartten werden in 8 Tage fertig sein. Von den großen Bildern hat er bloß die Platte gefunden, wo Anna mit dem Strickzeug gemacht ist, er meint, wenn Du es nach dem andern wolltest, so möchten wir später das Bild mit herbringen, darnach könne er es machen. – || Ich dachte es würde Dir doch lieb sein, den Brief von Darwin zu haben, mitschicken wollte ich ihn nicht, weil er erstens auf dickes Papier geschrieben ist, und dann dachte ich, es wär Dir doch unangenehm, wenn dieser Brief dasselbe Schicksal, wie unser erster haben sollte. Emilie Voswinkel hat ihn abgeschrieben.g Schreibe uns ja recht bald wieder, das ist ja für uns ein großer Trost.

Tante Bertha hat Deine Adresse sich geben lassen, sie will Dir schreiben, frag also von Zeit zu Zeit auf der Post nach bis wir deine Adr||esse wissen.h

a eingef.: schien; b gestr.: manchen; eingef.: den meisten; c gestr.: zum; d eingef.: er; e eingef.: kann; f eingef.: geistig; g eingef.: winkel hat ihn abgeschrieben.; h weiter am Rand v. S. 1: esse wissen.

Brief Metadaten

ID
35931
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
17.03.1864
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
22,8 x 14,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35931
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Berlin; 17.03.1864; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35931