Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Landsberg, 21. September 1865, mit Nachschriften von Charlotte und Karl Haeckel

Landsberg den 21 Sptmb. 65.

Mein lieber Ernst!

Da wir nun schon 10 Tage hier sind, so müßen wir doch etwas von uns hören laßen. Zuförderst danken wir Dir für Deinen Brief, den wir vorgestern erhalten und woraus wir ersehn haben, wie Du in Helgoland lebst, allerdings im Ganzen sehr einförmig, aber doch in guter Gesellschaft und da Du nun einmal die Arbeit zu liefern versprochen hast, so mußt Du Wort halten; man kann nicht immer von intereßanten Studien leben. Ich habe hierin freie Hand, da mein Geschichts Cursus abgeschloßen ist und ich nur noch meine Muße lebe. Der Aufenthalt bei Dir in Jena a im Juli und der jetzige hier im September ist ein rechter Contrast, dort die schönen Natur, die herrlich gruppirten Berge und bloß Umgang mit erwachsenen Menschen, hier Carl und Mimi mit ihrer Kinderwelt, die uns ungemein ansprechen und uns täglich Beschäftigung geben, die Anhöhen, welche Landsberg umgeben, allerdings kahl, wenn man aber von ihnen herabschaut, ist die Gegend doch nicht unintereßant. Der schöne schlangenförmige Waßerspiegel der Warthe durch die weidenreiche Ebene mit den darauf befindlichen Viehheerden gewährt eine schöne Abwechslung. Wahrscheinlich ist diese Ebene in frühern Zeiten ein Eichenwald gewesen, wie die Rudera zeigen, den man jetzt als Weideland und Akerland auszubeuten suchtb. So verwandelt der Mensch immer mehr die Oberflächec der Erde zu seinen irdischen Berufs und Erwerbszweken; wer weis, wie sie in einigen Jahr Tausenden aussehen wird. Ich studire hier sehr fleißig Ritters Erdkunde nach Vorlesungen, die er in Berlin gehalten hat und die im Jahr 1862. bei Reimer herausgekommen, und Einend Band aus zwei Theilen bestehend bilden, der 1ste Theil enthält mehr die Vergleichung der verschiedenen Erdtheile unter siche, ihre Configuration und die damit zusammenhängenden Erscheinungen der Geschichte. Der 2te Theil ist ausschließlich Europa gewidmet, wozu er in seinem großen Bändereichen Werke nicht gekommen ist und welches er dafür durch dieses kleinere Werk hat entschädigen wollen. || Es ist ungemein intereßant und ich kann in den Stunden, welche ich meinen Studien vorbehalte, gar nicht davon laßen, so sehr zieht es mich an. So habe ich noch gestern und heute die Beschreibung des Ural gelesen, der für die Entwikelung der rußischen Macht durch seine Bergwerke von der größten Bedeutung ist; nun werden erst die mehr westlichen Länder folgen. Auch die Beschreibung des Caukasus, dieses Grenzscheidegebirge im Süden Europas ist höchst intereßant und die bedeutendsten Erscheinungen in der Geschichte der Völkerwanderung werden daran geknüpft und erklärt. Bin ich mit diesem Buche fertig und komme ich nach Berlin, so geht es wieder über den Humbold her, seinen Kosmos und seine Reiseberichte über Amerika, von seiner Reise in den Jahren bis 1806. Da werde ich täglich mit der Mutter Abends zusammen lesen, die immer darüber klagt, daß ich zu viel allein studire und daß sie mich zu wenig habe. Außer der Lektüre haben mich in den letzten Wochen 2 Gedanken sehr bewegt, der Tod meiner alten geliebten Freundin, der Ober Präsidentin v. Bassewitz in Potsdam und die Eröffnung der schlesischen Gebirgsbahn die gestern erfolgt ist. Letztere weist auf die Zukunft hin, das Andenken an meine verstorbene Frendin auf die Vergangenheit. Diese hat sich in der schwersten Zeit meines Lebens, als ich f nach dem Tode Emiliens vor Schmerz vergehen wollte, wie eine Mutter meiner angenommen, da meine eigne Mutter nicht täglich bei mir sein konnte und als ich mich nach 5 Jahren wieder zu heirathen entschloßen hatte, so hat sie mich auf Deine Mutter aufmerksam gemacht und mir Deine Mutter zuführen helfen. Ewiger Dank sei ihr dafür. Dieser Tod mahnt mich recht ernstlich daran, wie kurz nur noch meine Lebenszeit sein wird. Sie ist 82½ Jahr alt geworden und sie fürchtete, g als ich im Juni bei ihr war, zu alt und sich undh andern zur Last zu werden. Ich tröstete sie aber damit, daß sie, wie so viele alte Leute ein gnädiger Schlagfluß treffen könne und so ist es auch wirklich gekommen, sie ist nur 2 Tage krank gewesen, beim Eßen eines Rebhühnchens ist der 1ste Anfall erfolgt, der 2te den Tag darauf, so daß sie nicht lange || gelitten hat. Sie hat in sittlicher Hinsicht aufs Wohlthätigste auf mein Leben eingewirkt und ich werde ihr ewig dankbar dafür sein. – Mein Intereße für die Schlesische Gebirgsbahn hat eine andre entgegengesetzte Seite. Durch diese Bahn wird den schlesischen Gebirgsbewohnern ein neues Verkehrsleben aufgehen. Die Eröffnung dieser Bahn wird ihnen eine neue Art des Verkehrs öffnen, es wird wieder mehr Wohlstand ins Gebirge kommen, welcher durch die Veränderung des Verkehrs seit den französischen Kriegen ungemein gelitten hatte und welches die Engländer dazu benutzt hatten, die Leinenfabrikation und den Absatz nach Amerika ganz an sich zu ziehn. Die Eröffnung dieser i Bahn wird ferner das reitzende schlesische Gebirge, welches zu sehr abgeschloßen und zu unzugänglich war, den Fremden aufschließenj, es fehlte diesem Gebirge der leichte Zugang, wie ihn die Alpen von Norden her haben und wenn diese es auch an Reitz und Intereße übertreffen, so giebt es doch eine große Zahl von Menschen, die diese weitern Reisen scheuen und sich k im Sommer lieber auf einige Monate in der Nähe niederlaßen, um die Natur zu genießen. Dazu ist das schlesische Gebirge ganz angethan und während man bisher Thüringen und die sächsische Schweitz vorzog, weil man leichter dahin gelangte, wird man nun häufiger ins schlesische Gebirge reisen.

Wir haben Dich zwar erst seit 3 Wochen verlaßen, sehnen uns aber sehr Dich wieder zu sehen, was wohl vor Weihnachten nicht geschehen wird. – Hier leben wir ganz glüklich unter unsern Kindern. Wir konnten Carln gestern zu seinem Geburtstage nichts beßeres wünschen, als daß er ihm alles so erhalten möge, wie er es besitzt. Es war abends eine l hübsche Gesellschaft von Freunden da, die bis 12 Uhr blieben und sehr munter waren. Ich hielt bis 11 Uhr, wo vom Tisch aufgestanden wurde, aus und begab mich zu Bett, weil ich müde war und Nachmittags mit Carl noch einen tüchtigen Spatziergang gemacht hatte. Komme ich nun am Sonnabend über 8 Tage nach Haus, so wird sich in meiner Zeiteintheilung manches ändern. Zum 1 Octob. Tritt wieder ein Bedienter ein und die Tage werden kürzer.

Dein Dich liebender Vater Hkl ||

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

Mein lieber Herzens Ernst! Herzlichen Dank für Deinen Brief und die ihn begleitende Photographie, ich habe hier soviel Deiner gedacht und hatte rechte Sehnsucht nach Nachricht von Dir, erwartete sie aber bestimmt zu Karls Geburtstag, und so traf Dein Brief etc. denn auch richtig gestern hier ein. Heute kam an Dich beifolgender Brief von Gegenbauer, ich habe das Couvert abgenommen; m Hoffentlich wird es Dir wohl thun, wenn Du bei Deinem Freund Allmers bist. Wenn auch das Leben auf Helgoland im Ganzen Dir wenig zusagt, so freue ich mich doch, daß Du nicht allein bist, und es macht mir Freude, Dich auf der Photographie mit Freunden zu sehn. ‒ ‒ ||

Vor unserer Abreise von Berlin erfuhren wir noch den Tod unserer Freundin, der Frau von Bassewitz, die wir sehr lieb hatten und hochschätzten. Auch war die Nachricht angekommen, daß Posts in B. A. ihr Kindchen verlohren haben. So bringt das Leben viel Ernstes. Hier haben wir alles wohl und munter gefunden, und wir freuen uns sehr über die Kinder. Vater ist auch wohl. Wir machen fast täglich Spaziergänge. – Karl hat viel zu thun, er mußte auch gleich nach Tisch aufs Gericht, ist aber willens Dir noch heute zu schreiben, daher schließe ich, ihm den übrigen Platz zu lassen. Mit der innigsten Liebe umarmt Dich Deine

Mutter Lotte. ||

[Beischrift Karl Haeckels]

Landsberg a/W.

Vielen Dank, lieber Bruder, für Deinen Geburtstagsgruß u. das Bild, das gestern früh auf dem Steueramte feierlichst n aus der Umhüllung herausgezogen wurde. Die Gruppe ist sehr nett u. erregte Abends, als einige Freunde bei uns versammelt waren, allgemeines Interesse. Der Italiener erinnert unverkennbar an Aegidi; die ganze Umgebung u. der Anzug versetzt den Beschauer in die Schifferregion u. an die Meeresküste. – Nur Schade, daß Eure Ausbeute, wie Du schreibst, nicht sonderlich ist. Wir eilen mit diesem Briefe, weil wir fürchten, daß Du am Ende noch früher Helgoland verläßt, das Wetter wird wohl dort jetzt auch besser geworden sein. Wir haben hier jetzt ganz herrliche Herbsttage, doch Abends u. Morgens schon kalt. Aber sie wecken die Sehnsucht nach der schönen Gegend wieder von Neuem. Wie gerne träume ich mich in die Tyroler Landschaft hinein und erneuere beim Lesen des Schaubach die schönen Bilder, die wir gesehen. Dazu kommt dann die Lust, so Manches, das man hat seitenwärts liegen lassen, noch später zu sehen. Und wenn man dann heraustritt in die märkische Ebene und den herrlichen Sonnenschein ano so lederner Landschaft verschwendet sieht, schmeckt Einem die Gegenwart noch viel, viel weniger. Doch man ist nun einmal ein Akten- Karrengaul und das ist nicht zu ändern. Durch die angenehmen politischen Zugaben wie z. B. das neue Fortschritts- || Rescript sollte man uns das wahrlich ohnehin nicht zu poetische Dasein nicht noch mehr verleiden! − − Trotz all dem waren wir gestern Abend recht munter beisammen, auch der Alte, der sich mit der Mutter recht an unsren Sieben erfreut. Die beiden Jüngsten sind gar zu niedliche Pussels; Georg läuft an den Stühlen u. Meubles sich festhaltend aufrechtp umher und dazwischen auf allen Vieren quer durch die Stube nach Affenart mit großer Schnelligkeit. Heinz wird nun zum 15 Octbr auch in den Schulzwang eingespannt.

Nun ade, lieber Bruder, halte Dich munter und vollende die weitere Reise, von der Du, namentlich von dem Pathmos Deines Almers, wohl noch mehr hören läßt, nach Wunsch

Dein treuer Bruder

Karl

Mimmi läßt Dich schön grüßen; ebenso die beiden Jungens, denen Du Freimarken sammeln möchtest.

a gestr.: und; b korr. aus: versucht; c eingef.: Ober; d eingef.: und Einen; e eingef.: unter sich; f gestr.: vor; g gestr.: zu; h eingef.: sich und; i gestr.: Aber; j irrtüml.: aufzuschließen; k gestr.: lieb; l gestr.: Ges; m gestr.: damit es; n gestr.: ge; o gestr.: auf; eingef.: an; p eingef.: aufrecht

Brief Metadaten

ID
35928
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
21.09.1865
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
22,8 x 14,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35928
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte an Haeckel, Ernst; Landsberg a. d. W. (Gorzów Wielkopolski); 21.09.1865; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35928