Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 1. Dezember 1852

Berlin 1 December 52

Gestern früh, lieber Ernst, erhielten wir Deinen lieben Brief, worin Du uns die Feier meines Geburtstags beschreibst. Da hast Du allerdings sehr tapfer getrunken und wenn Du sonst zu Ausschweifungen im Trinken geneigt wärest, könnte uns bange werden. Wir betrachten es aber nur als ein zufälliges Ereigniß und sind bei Deiner Individualität deshalb unbesorgt. Daß Deine Kameraden eben bei Deiner Eigenthümlichkeit über diese Prästation gestaunt haben, kann ich mir wohl denken. Aus Deinem Schreiben geht ferner hervor, daß sich die Poesie bei Dir regt. Dieses freut mich, auch ich fand in frühern Jahren viel Geschmack an der Dichtkunst. Die Zeit der Jugend ist die Zeit der Poesie und man kann es unnatürlich nennen, wenn sie sich dann nicht im Menschen regt. Denn jedes Lebensalter hat seine Eigenthümlichkeit und macht seine eignen Forderungen. Im männlichen Alter stellen sich andre Forderungen heraus, da will man schaffen und wirken und in der Wißenschaft Resultate erzielen. Im spätern Alter nimmt die Produktivkraft im Denken und Handeln ab, man wird ganz objektiv und beschaulich, aber auch viel nüchterner und unbefangener und das Urtheil reifer und unpartheiischer, eben weil man nicht mehr aktiv ist, sondern den Zuschauer macht. Damals als ich in Halle war, wirkten die beiden Schlegels sehr anregend in der Litteratur und machten ins besondere auch auf das Wesen der Dichtkunst aufmerksam, welches bisher sehr philiströs aufgefaßt worden war. Seitdem ist man in jener Bahn fortgegangen, und unsre großen Dichter sind viel richtiger aufgefaßt und erkannt worden. Schiller hat in seinen großen Tragödien schon a den großen Styl der Griechen vor Augen und Göthe machte ins besondere auf Shakespeare aufmerksam, der seitdem von den Deutschen viel tiefer aufgefaßt worden als von den Engländern und er spricht durch seine großen Dramas auch im Alter an. Der Kampf der Leidenschaften tritt im Shakespeare aufs großartigste hervor aber auch das Weltgericht, das Böse kommt zuletzt immer vor den Fall, b die Vergeltung bleibt nicht aus und der Dichter lebt im Tiefsten in ganz christlicher Weltanschauung. c Eben so deuten auch Schillers Tragödien d auf eine Ausgleichung jenseits (Wallenstein, die Jungfrau von Orleans) und ruhen in so weit ebenfalls auf christlicher Weltanschauung, denn der Glauben an die Ausgleichung jenseits ist uns erst durch das Christenthum geworden, durch die sichere Aussicht auf eine künftige beßre Welt. Göthe ist mehr Grieche, er sucht seine Befriedigung in der edelsten, herrlichsten Verschönerung des irdischen Lebens, wie dieses bei den Griechen der Fall war und führt uns die herrlichsten irdischen Gestalten vor (Iphigenie, die schönen Charakter im Wilhelm Meister). Im Faust aber wird er christlich, hier schildert er die Verführung eines ursprünglich edlen das höhere suchenden Geistes durch den Teufel, deutet aber auch die Vergebung jenseits an. Da Göthe häufig mehr in dieser Welt ist, als auf das Jenseits deutet, so konnte ich ihn in meinem tiefsten Schmerz nach Emiliens Tode nicht lesen, während ich im tiefsten Schmerz Linderung in der Anschauung der Natur fand, eben weil sie auch (z. B. beim Anblik des Sternenhimmels) auf die Ewigkeit verwies. Daß die Naturerscheinungen Dich so feßeln, ist sehr schön, der innerste Mensch wird dadurch angesprochen und e über das gemeine Treiben der Welt erhoben. Wenn ich die Schneekoppe in Schlesien ansehe, da wandelt mich immer ein Gefühl der Erhabenheit an. Wie viele Tausend Generationen hat sie vielleicht schon vor sich vorüber gehen sehen, während sie unveränderlich, wenigstens nach unsrer gewöhnlichen Auffaßungsweise, da steht und allem Vergänglichen Troz zu bieten scheint. Wie klein erscheint da der Mensch mit seinem Getreibe und doch sollen auch inf diesem Getreibe die wenigen göttlichen Anlagen des Menschen durchscheinen und durchbliken. Denn auch dieses menschliche Leben soll in seinem geschichtlichen Verlauf eine gewiße Vollendung erhalten, das Reich Gottes soll wenigstens bis auf einen gewißen Grade schon in diesem Leben verwirklicht werden. Dieses ist nach meiner Ansicht nur durch das Christenthum möglich; wie denn auch schon die christliche Kultur eine menschliche Vervollkommnung erzeugt hat, wie sie die ältere Geschichte nicht kennt, denn noch nie ist die Veredelung der ganzen Menschheit, als Ziel dieses Lebens, der Menschheitg so ins Bewußtsein getreten wie in der christlichen Zeit, und wenn [man] die neuere Geschichte auf diesen Spuren verfolgt, so bekommt man immer wieder Hoffnung und Ruhe, wenn es auch für den Augenblik noch so schlecht geht. Dieses ist ins besondere || jetzt bei uns in Deutschland der Fall, wo gegenwärtig die rohe Gewalt regiert und in den leitenden Staatsmännern auch nicht eine Ahnung von der Entwikelung der Menschheit, ihrem gegenwärtigen Stadio und wie sie aus demselben, der höhern Fortentwickelung entgegen zu führen sei? vorhanden ist. Die karicaturartigen Ausbrüche der innern Sehnsucht nach beßern Zuständen werden zum Vorwand genommen, um sich auf die roheste und frechste Weise hwieder in den Besitz der unumschränkten Gewalt zu setzen und keine Lüge und Betrug wird unversucht gelaßen, um wieder dahin zu gelangen. In den verschiedenen Klaßen der Gesellschaft herrscht theils Verblendung und roher Eigennutz und Herrschsucht i theils eine jämmerliche Apathie, die nur nach dem Genuß der nächsten Stunde fragt und unbekümmert um das Wohl des Ganzen sich zufrieden stellt, wenn sie nur in Ruhe gelaßen wird. Da gehört ein starker Glaube an die göttliche, die Menschheit einem sichern Ziel entgegen führende Vorsehung dazu, um nicht ganz irre zu werden. In ruhigern Stunden finde ich diesen Glauben immer wieder, aber ich habe oft schwere Stunden des Grams und der Niedergeschlagenheit. Ich habe sie ins besondre gestern seit dem Lesen der Thronrede gehabt, wo unverhüllt die Absicht ausgesprochen ist, die Theilung der Gewalten (d. i. die constitutionelle Verfaßung) zu beseitigen. Dabei hat man die Frechheit, von sittlicher Pflege des Volks zu sprechen, während man es durch einen Haufen von Regierungsmasregeln demoralisirt und über die geleisteten Eide hinwegspringt.j Nun, es ist Gottes Wille, daß auch diese Prüfungen durchgemacht werden sollen. Die Nemesis wird nicht ausbleiben. Wir haben, lieber Ernst, vorgestern Abend drei Freunde bei uns gehabt und einen recht schönen Abend erlebt, auch Deiner aufs lebhafteste gedacht. Sonst leben wir sehr still, wir fühlen uns sehr verwaist durch die Entfernung unsrer Kinder und leben eigentlich nur mit Papa und Bertha. Ich habe mich viel zu Hause mit ökonomischen Angelegenheiten beschäftigt und gehe dann von 4–6 Uhr spatzieren, so dann bleibe ich meist zu Hause, schreibe oder lese, am meisten sind wir mit unsern Gedanken bei den Kindern, und ich suche k alle Kräfte zusammen zu nehmen, um zur politischen Ruhe zu gelangen. Es gehen immer mehr Nachrichten ein, wie schändlich es bei den Wahlen zugegangen ist. Dafür sind auch aus diesen Wahlen Kammern hervorgegangen, daß sichl Gott erbarmen möge. Eine Menge roher Junker vom gröbsten Eigennutz und Herrschsucht und eine Menge serviler Beamten, die sich zu allem brauchen laßen! – Wie soll das werden, wenn der Staat m von außen gedrängt wird und alle Kräfte des Volks zu seiner Vertheidigung in Anspruch genommen werden!! – Inzwischen gehe Du mein lieber Ernst, Deinen Studien nach, die von der Politik nicht angefochten werden und Dir die Natur immer mehr aufschließen sollen. Sei fröhlich und heiter und verzweifle nicht an Dir selbst. Ich kenne diese Zustände auch aus meiner Universitätszeit, wo mir alle Aussicht verschwunden schien, etwas Tüchtiges zu leisten. Du bist eben in den ersten Anfangsgründen der Wißenschaft, da wird einem oft ganz bange. Aber allmählich wird es lichter und die Finsterniß verschwindet. Höre nur jetzt immerfort tüchtig medicinische Kollegien und sei unbesorgt über das, was aus Dir werden soll. Nur tüchtig in die Wißenschaften hinein, das übrige wird sich finden. Daß Du Dich Kölliker nicht zum Zeichnen angeboten hast, ist sehr unrecht, Du mußt diese Scheu zu überwinden suchen. Es ist auch eine große Lebenslehre für unsre Entwikelung, die sich darbietenden Gelegenheiten zu benutzen und nicht vorüber gehen zu laßen. Sie sind wie ein Ruf der Vorsehung zu betrachten, den wir beachten sollen. Merke Dir dieses für die Zukunft. –

Es ist doch eine trostlose Jahreszeit jetzt, immer trübe, neblich und feucht, dabei die kurzen Tage! Nun man muß aushalten. Ich hoffe, Du wirst zum Sommer die Umgegenden von Würzburg noch sehr hübsch finden. Quincke wenigstens hat sie sehr hübsch gefunden. Was macht denn Dein Knie? Wenn Du das Pflaster abnimmst, so streiche ja die betreffenden Stellen stark mit dem Daumen, als wolltest du etwas hart gewordenes zerdrüken. Ueberhaupt versäume nicht, Dir Bewegung zu machen. Das erfordert die Gesundheit. Nun a Dieu, mein lieber Ernst, schreibe uns bald wieder.

Dein Dich liebender Vater

Haeckel

a gestr.: die Griechen, und; b gestr.: und merk; c gestr.: Göthe hat; d gestr.: immer; e gestr.: und; f eingef.: in; g eingef.: der Menschheit; h gestr.: in den; i gestr.: und; j eingef.: und über die … hinwegspringt.; k gestr.: da; l eingef.: sich; m gestr.: und

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
01.12.1852
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35915
ID
35915