Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 28. September 1855, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Berlin 28 Sptmb. 55.

Mein lieber Ernst!

Deinen Brief aus Mailand erhielten wir vorgestern den 26sten; also am 5ten Tage nach dem Abgange. Wir haben uns sehr gefreut, daß Deine Reise fortdauernd so glüklich gewesen. Das Reisen bildet den Menschen ungemein geistig und körperlich aus, es erweitert seine Ein- und Ansichten und gewöhnt ihn an Strapazen, lehrt ihn mit Menschen verkehren und auf eignen Füßen zu stehn.a Der Charakter wird dadurch ausgebildet. So wirst Du vielfältigen Nutzen von Deiner Reise haben und wir haben die Reisekosten mit Vergnügen gegeben. Du wirst schon aus dem Briefe, den wir nach Insbruck addreßirt, ersehen haben, daß wir es ganz in Deine Entscheidung stellen, ob Du jetzt oder (wenn es geht) zu Weihnachten auf 8–10 Tage zu uns kommen willst. Du hast Dich bereits entschieden, jetzt in München zu verweilen und dann nach Würzburg zurükzukehren; und so führe es auch aus. Sobald Du aber zur Ruhe kommst, schreibe etwas über Deine Reise nieder und theile uns die Reiseberichte mit, damit wir doch sehen, was eigentlich innerlich in Deinem Geiste auf der Reise mit Dir vorgegangen und wie Du Natur und Menschen und ihr Leben aufgefaßt hast. Solche Reiseberichte müßen für das ganze Leben aufgehoben werden, sie sind ein Dokument für das Stadiumb der Geistesentwikelung, in der wir uns grade in diesem Moment befunden haben. Den Eindruk, den der Gegensatz der Gletscherwelt und südlichen Natur des Etschthals auf Dich gemacht hat, kann ich mir wohl denken, da ich, wenn auch nicht die Gletscherwelt gesehen, doch über einen Theil der Berge gefahren und geritten bin (z. B. über den Jauffen), und es hat mir um so größeres Vergnügen gemacht, diese Deine Reiseroute zu verfolgen. In diesen Tagen wirst Du nun auch den schönen Finstermünzpaß gesehen haben, noch sehe ich den Inn zwischen diesen Felsen durchstürzen, in Landeck verließen wir die Straße und fuhren nach Meran, während Du links ab nach Insbruck gegangen sein wirst. Auch Insbruck liegt günstig und nun wirst Du noch zuletzt mit einem großen Kunstgenuß schließen. Also wie gesagt: sobald Du in Würzburg einige Muße hast, schreib den Reisebericht nieder. Es ist ein großer Trost für uns Norddeutschen, daß uns c bei so vielem Mangel an schöner Natur, doch ein eigenthümliches geistiges Leben geblieben, was uns schadlos hält. Schon die bloße Einfachheit, Gradheit, Redlichkeit und Gemüthlichkeit des deutschen Charakters, was d auch der Süddeutsche in so hohem Grade besitzt, ist ein großes Gut, was mich allein schon in Deutschland festhalten würde. Dazu kommt nun noch in Norddeutschland die hohe Geistesbildung. Da muß man manches Auge wieder zudrüken über das, was einem nicht gefällt, z. B. das starre, einseitige, e mit Hochmut verbundene Preußenthum, das Junkerwesen, der märkische Sand, f die jetzigen politischen Partheikämpfe, die für ein gemüthliches Leben sehr störend sind und die Menschen sehr trennen und einander feindselig gegenüberstellen. In diesen Tagen haben die Urwähler die Wahlmänner gewählt, welche die Deputirten wählen sollen. Da ist es jetzt doch ziemlich lebendig hergegangen. Der Berliner Philister ist ruhiger gewesen als ich geglaubt habe. Aber die Kreuzzeitungsparthei mit den ihnen dienenden Ministern und Polizeigewalten hat kein Mittel, auch die schlechtesten und gemeinsten nicht unversucht gelaßen, um Wahlmänner zu gewinnen. Von einem ehrenhaften Betragen ist bei dieser Parthei nicht die Rede. Es ist immer noch möglich, daß die Kreuzzeitungsparthei bei den Wahlen die Majorität erhält.

Wir haben hier seit mehreren Wochen sehr schönes Wetter, nur wenige Regentage. Da denken wir immer, daß Dir dieses auch zu Theil werden wird. Vorgestern haben wir Umzug gehalten und nun fangen wir an, allmählich auszupaken und uns einzurichten. Mutter ist wieder so weit hergestellt, daß sie dabei wieder kramen kann und ich halte darauf, daß dieses nicht im Uebermaß geschieht. Der Ausschlag ist sehr gewichen und das Gesicht fängt wieder an, weis zu werden. || Aber ihre Kräfte sind doch sehr mitgenommen und ihre Nerven sehr angegriffen. Aber sie hält sich innerlich freier und leichter als vor der Krankheit. Auch unser neues Quartier, was sehr freundlich und wie es scheint, troken g und warm ist, wird hoffentlich wohlthätig wirken. Wir haben die schöne Mittagssonne. Die Zimmer vorn heraus für mich und Mutter sind sehr hübsch. Aber wir müßen den Platz recht eintheilen, da das Quartirchen nach dem Garten zu, was für Dich bestimmt ist, noch nicht leer ist. Du hast doch schon eine Menge Sachen, die Platz wegnehmen und Mama hat auch bei der Erbtheilung für Dich gesorgt, daß Du nun Mahagonibücherspinde und noch einige andere Aufsätzegeräthe erhältst, um Bücher etc. zu placiren. Du wirst Dich aber etwas in Acht nehmen müßen, daß Du auf Reisen etc. nicht zu viel anschaffst, sonst fehlt es an Platz, alle diese Dinge hinzustellen und hinzulegen. Mutter hofft Pflanzen und Thiere alles gehörig conservirt ins neue Quartier herüber gebracht zu haben, an Sorgfalt und Aufsicht hat es nicht gefehlt. –

So eben war Quinke hier und sprach sich über den Zustand der Mutter befriedigend aus. Die Haut hat sich sehr gebeßert, sie muß sich aber noch täglich mit Oel einschmieren und wird auch den ganzen Winter über wöchentlich 1–2 Mahl baden müßen. –

Künftigen Monat (etwa gegen den 20sten) erwarten wir Mimi mit den Kindern hier. Bertha ist soeben in ihr neues Quartier eingezogen und ich gehe hin, sie zu besuchen. – Nachmittag. Bertha ist sehr nett logirt, eine Treppe hoch mit 1 Fenster nach dem Havenplatz die übrigen nach der Dessauer Straße. Jetzt hat sie Anna bei sich. Aber sie wird die Einsamkeit sehr tief empfinden, die sie sich selbst bereitet. Sie hat nach des Grosvaters Tode alle vermittelnden Vorschläge, die ihr bis auf eine gewiße Schranke ihre Unabhängigkeit sichern sollten, mit einer gewißen Schroffheit zurükgewiesen, was h Mutter tief verletzt hat. Ich werde immer älter und gehöre zunächst der Mutter. Das getheilte Leben der letzten Jahre, wo wir vieles des Grosvaters wegen thaten, kann nicht fortdauern und ich will nunmehr wieder mit Mutter besonders viel zusammen sein. Hätte Bertha mit uns auf 1 Flur gewohnt und wir wenigstens Mittags zusammen gegeßen, so hätte sich vieles vereinigen laßen. Da sich Bertha aber ganz getrennt hat, so wird sie viel einsamer leben. Gertrud wohnt 3 Treppen über uns und hat ein sehr hübsches Quartier, mit sehr schöner Aussicht. Wir freuen uns sehr auf Mimi und die Kinder. Jetzt gilt esh, uns nun wieder bequem häuslich einzurichten. Für heute genug. Schreib uns bald wieder. Dein

Dich liebender Vater

Hkl

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

In aller Arbeit und Unruh muß ich doch einen Herzens Gruß an meinen lieben Jungen zusetzen. Eben war Therese Hahnewald hier, und sagte der alte Graf Henkel spräche immer von Dir seinem jungen Freunde. Gott sei mit Dir. Behalte lieb Deine Aeltern.

a gestr.: Auch; b korr. aus: Statium; c gestr.: doch; d gestr.: d; e gestr.: P; f gestr.: etc.; g gestr.: ist; h gestr.: sie; i eingef.: es,

Brief Metadaten

ID
35906
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
28.09.1855
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
22,4 x 28,7 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35906
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte an Haeckel, Ernst; Berlin; 28.09.1855; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35906