Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Bad Eilsen, 28. Juli 1856, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Eilsen 28 Juli 56

Liebster Ernst!

Deine beiden Briefe (den ersten durch Carl) haben wir richtig erhalten. Wir haben aus dem ersten die Feier von Virchows Abschiedsfest und aus dem letzten Deine Colique attaque ersehen. Es war mir schon immer bedenklich von Dir zu erfahren, daß Du bei dem kalten Wetter täglich gebadet hast und so lange im Waßer geblieben bist. Du gehst mitunter höchst unvorsichtig zu Werke und trozest auf Deine Gesundheit. Nun hast Du ein Warnungszeichen erhalten. Daß ich aller Vergeigelei entgegen bin, weißt Du, aber man muß nicht, weil man jung ist, darauf losstürmen. Du bewegst Dich immer in Extremen und kannst die richtige Mittelstraße nicht finden. Laß Dir diese Attaque, so wohl was die Diät, als Bekleidung gegen Erkältung betrift, eine Warnung sein. Denn auf irgend eine Weise mußt Du gefehlt haben. Dein ganzes Temperament neigt schon zu Extremen, dazu kommt noch Deine Jugend, die an und für sich schon überschäumt. Du hast Dich also doppelt in Acht zu nehmen. Was für Vorwürfe müßtest Du Dir machen, wenn Du Dir durch dieses Brausen und Ueberschäumen wirklich einen dauernden Schaden zufügen solltest. Also befleißige Dich der Mäßigung und suche im mittleren Gleise zu bleiben. –

Was die Dir von Kölliker angetragene Reise betrift, so kommt alles darauf an, daß Du Virchow nicht in Verlegenheit bringst. Die Zeit seiner Abwesenheit mußt Du jedenfalls aushalten. Läßt sich nach seiner Zurükkunft die Sache arrangiren, daß Du abkommen kannst, so habe ich nichts gegen die Reise und werde Dir das nöthige Geld geben, auch für Nizza, wenn es nach Triest nicht gehen sollte. Ueberschlage Dir, was Du brauchen wirst, und zeige mir das Weitere an. Doch wahrscheinlich sprechen wir uns vorher, wenn nichts dazwischen kommt, da Mutter gern Würzburg sehen möchte. Mit Mutter geht es fortdauernd gut, sie trinkt den Aufguß von China und Quassia fort, hat auch in diesen Tagen wieder als der 14te Tag des weggebliebenen Fiebersa eintrat, ChinaTrank genommen und wird diesesb gegen den 21sten wiederholen. Mit der Diät sind wir höchst vorsichtig und auch vor Erkältungen nehmen wir uns sehr in Acht. Mutter ist immer Abends 7 Uhr zu Hause und geht dann nicht mehr aus. Wir haben ein sehr hübsches gesundes Zimmer und haben jetzt drei Touren zu Wagen gemacht, einmal auf die Paschenburg nach Hameln und zwei Mahl in die Gegend von Rinteln, wo ein Caffeehaus ist ganz ähnlich dem von Bucha bei Saalfeld und wo man vor der Türe unter Bäumen das ganze schöne Weserthal übersieht, wie in Bucha das Saalfelder. Es hat uns großen Genuß gemacht. Das Thal ist sehr fruchtbar und auf beiden Seiten von Bergen eingeschloßen, durch welche sich die Weser schlängelt. Die Porta Westphalica denken wir noch in diesen Tagen zu sehn, da das Wetter beßer geworden ist, wenn es auch noch mitunter regnet. –

Sonnabend den 2 August denken wir nach Aurich abzureisen und mit dem Eisenbahnzuge schon Nachmittag 61/2 Uhr in Emden zu sein. Vielleicht daß wir noch denselben Tag bis Aurich (3 Meilen davon) reisen, wo wir 14 Tage zu bleiben und uns recht auszuruhen gedenken. Denn das Baden greift (wenigstens mich) an. Mutter wird 30, ich 21 Bäder nehmen. Der Appetit bei Mutter beßert sich und die Kräfte nehmen langsam zu. In einigen Tagen wird hier die Erndte beginnen. Ich habe in der letzten Zeit recht hübsche, für mich instruktive Bekanntschaften gemacht. Der Vormittag geht über der Kur hin und Nachmittags schlendre ich herum, zum Theil mit Mutter. Mutter liest Bunsen über die jetzigen religiösen Erscheinungen, ich fahre im Buche von Schwarz fort, das mich sehr intereßirt. Den 3ten Theil von Perthes haben wir auch durchgelesen. Perthes spricht uns aber nicht an, seine religiös stark orthodoxe Richtung verwirrt ihm sein Urtheil auch in politischen Dingen und auch seiner religiösen Richtung, die sehr stark rechts ist, können wirc nicht zustimmen. Diese extreme Richtung richtet doch große Verwirrung in Staat und Kirche an und lähmt alle politischen Kräfte. Ein Christenthum, was uns d die fortschreitenden Entwikelungen der europäischen Menschheit verdächtig || macht, die gröbsten politischen Misbräuche und Uebelstände ignorirt und das Kämpfen dagegen als revolutionär ansieht, ist nicht das rechte. Christus hat zue seiner Zeit sehr männlich gegen den Pharisäismus gekämpft und ist diesem Kampf zum irdischen Opfer geworden. Wenn man alles, was absolute Willkühr des Königthums und hochmüthige, eigennützige Junkerei zu Tage fördert, für göttliche Ordnung ansehen soll, wenn das Geltendmachen ursprünglicher Menschenrechte, die bisher mit Füßen getreten worden, ein Verbrechen sein soll, so zeugen solche Ansichten von der höchsten Verkehrtheit. Aber leider sind viele gute, zur religiösen Mystik geneigte Menschen jetzt in diese schiefe Richtung hineingerathen. –

Die Stettiner werden heute nach Berlin kommen und in unserm Quartier wohnen, auch Carl wird mit Hermine da sein. Die Stettiner werden sich nur kurze Zeit in Berlin aufhalten und die Haeckelei mit Helene wird in den ersten 5–6 Tagen des August nach Heringsdorf gehen. Mutter und ich denken 14 Tage in Aurich und 14 Tage in Bonn zu bleiben, so daß wir in den 1sten 8 Tagen des September zu Dir nach Würzburg zu kommen gedenken. Für heute genug.

Dein Alter

Hkl

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

Mein lieber Herzens Ernst! Wie sehr hat es mich betrübt, daß Du so krank gewesen. Nun, Gott sei Dank, daß es glücklich vorüber gegangen ist, nimm Dich nur ja recht in Acht, besonders in der ersten Zeit, damit es nicht wieder kommt. Wenn Du reisen willst, mußt Du vor allen Dingen recht frisch und gesund sein, sonst kann ich Dich nicht mit Ruhe reisen sehen. –

Nun, so Gott will, sehen wir uns noch, und ich besuche Dich in Würzburg, wozu ich mich unaussprechlich freue. Vater sagt: Mutter will Würzburg sehn; ich weiß es aber besser, ich will meinen Jungen sehen. –

Mit meiner Gesundheit geht es besser; und nun sorge auch, daß Du Dich gesund hältst; und denke mit Liebe an Deine alte Mutter.

a eingef.: des weggebliebenen Fiebers; b eingef.: dieses; b eingef.: ihren; c korr. aus: kann ich; d gestr.: ganze; e eingef.: zu

Brief Metadaten

ID
35890
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Kurfürstentum Hessen-Kassel
Datierung
28.07.1856
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
22,4 x 28,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35890
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Eilsen (Bad Eilsen); 28.07.1856; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35890