Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 2. Mai 1857, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Berlin 2 Mai 57.

Mein lieber Ernst!

Gestern erhielten wir Deinen ersten Brief aus Wien und die Beschreibung Deiner Prager Reise. Die schöne Lage von Prag hat auch auf mich immer einen sehr angenehmen Eindruk gemacht, und es freut mich, daß Du dort in wißenschaftlicher Hinsicht manches Intereßante gesehn und mit Freunden und Bekannten einige angenehme Tage verlebt hast. Auch hier haben wir inzwischen kaltes, schlechtes Wetter gehabt und erst in den letzten Tagen fängt es an, etwas zu milder zu werden [!]. Die ersten Tage nach Deiner Abreise fanden wir uns sehr verwaist und verlaßen, es war immer als müßtest Du ins Zimmer treten. Bald nach Deiner Abreise fand sich Adolph Schubert ein. Er machte in Frack und Glacéhandschuh einen sehr förmlichen Besuch, und war sehr steif und förmlich, aus dem Gespräch ergab sich, daß er wohl schon 4–5 [Tage] hier gewesen war und sich in der Jacobsstraße eingemiethet hatte. Seitdem ist er einige Mahl bei uns und wieder natürlicher gewesen. Er scheint übrigens wohl zu sein, will einige Wochen hier bleiben und dann eine Reise nach Danzig und Königsberg und sodann über Bromberg und Posen zurückmachen. Einen Mittag hatten wir Tante Sack mit den Kindern bei uns. Sodann kam Carl Montag und blieb bis Donnerstag bei uns. Dienstag kam Doctor Krüger nebst Frau aus Ziegenrück auf seiner Versetzungsreise nach Breslau. Er ist diese Woche bei uns geblieben und will Dienstag früh wieder abreisen. Die Frau Doctorn ist mit Carl am Donnerstag nach Freyenwalde zu Mimi gereist, was Mimi große Freude gemacht haben wird. Carl und der Doktor wußten sich viel zu erzählen. Der Doktor sieht beßer aus als ich vermuthete. Er muß sich zwar sehr schonen, ich glaube aber doch, daß er sich durchschlagen wird. Zudem kommt er in eine viel beßere Lage nach Trebnitz bei Breslau, eine Stadt von 5000 Einwohnern, wo ein Kreisgericht ist und wo eine viel bequemere Praxis ist. In 2½ Stunden fährt man von Trebnitz nach Breslau. Das ist auch sehr angenehm. Da haben wir denn also seit 8 Tagen in ziemlicher Unruhe gelebt. Tantea Minchen aus Stettin ist auch hier, um ein Quartier zu miethen, höchstwahrscheinlich vis a vis von Bertha im neuenb v. Diebitschschen Hause. Carl Sethe ist gestern wieder nach Heidelberg gegangen. Ich habe 2 Vorträge von Sydow über das Gewißen gehört, habe den Aufsatz über mein Leben fortgesetzt und bin öfters bei Bertha gewesen. Die Rükerinnerungen aus meinem Leben führen mich doch in mancherlei Betrachtungen und versetzen mich ganz in die Vergangenheit. Die Gegenwart ist zwar c in vieler Hinsicht nicht erfreulich. Wir sind aber doch troz vieler widerlicher Erscheinungen im langsamen Fortschreiten begriffen. Das constitutionelle Leben bürgert sich allmählich ein, die Kammern haben in dieser Session, welche in diesen Tagen geschloßen wird, bedeutenden Widerstand geleistet. Sie wollen auf keine neuen Steuern eingehn und die Regierung hat die Erfahrung machen müßen, daß sie nicht mehr alles kann, was sie will. Die gebildeten Stände kommen allmählich zum Bewußtsein und auch die begünstigten Junker werden renitent, wenn es zum Zahlen kommt. Ich denke in 8 Tagen auf einige Tage nach Eisenach zur Versammlung der Thüringischen Bergwerksaktionairs zu reisen und in Merseburg bei Karo und in Erfurt bei Keller vorzusprechen. Der alte Bassewitz und deßen Sohn der Landrath waren vorige Woche mit dem Brautpaar hier, um Besuch zu machen. Die 2te Tochter vom Landrath heirathet einen GardeLieutenant aus Potsdam, einen Hrn. v. Reinhard, und kommt also nach Potsdam zu wohnen. Der Major v. Alvensleben in Lissa d Schwiegersohn vom alten Bassewitz ist hierher versetzt, die altee Bassewitz wird also eine Tochter und eine Enkeltochter in die Nähe bekommen. Das ist für uns Alten die größte Freude, die Kinder zu sehen und um uns zu haben.f Carl hatte den kleinen Carl mitgebracht, der sich nicht wenig darauf zu Guthe that, daß er nun schon Reisen machen könne. Er hat uns viel Spas gemacht. Wenn es grün und warm geworden sein wird, wollen wir auf einige Tage nach Freyenwalde. Mutter hat sehr starken Husten, krampfartig. Quinke war || diesen Morgen hier. Ich zeigte ihm einige Stellen aus Deinem Briefe. Er läßt Dir sagen: Du möchtest nicht in den gewöhnlichen Gelehrtenhochmuth verfallen, es thäte den Kranken sehr wohl, wenn ihnen die praktischen Aerzte Linderung verschafften. Du weißt: ich halte es auch mit den praktischen Aerzten, ohne deshalb die Wißenschaft gering zu schätzen. Auch die Doktorin Krüger meinte: der ärztliche Beruf sei doch ein schöner Beruf: wie vielen Menschen würde doch geholfen. Das habe sie selbst in ihres Mannes Praxis verspürt. Krüger hat vorigen Winter eine gute Praxis gehabt. Die Poken waren in dortiger Gegend ausgebrochen und er hat vielen helfen können. – Ich bin nun sehr begierig, wie es Dir in Wien gefallen wird. Es ist doch gut, daß Du Richthofen getroffen hast. Wien wird Dich in vieler Hinsicht intereßiren, besonders auch der Gegensatz zwischen Wien und Berlin, den die Wiener nicht zugeben wollen. Sie meinen, die Kultur sei in Wien so weit wie in Berlin, was ich nicht glaube. –

Ich sehne mich nun doch nach dem Frühling. In den letzten Wochen haben wir rauhes Wetter gehabt. Ich mache meine täglichen Spatziergänge. Meine Bekannten sind sehr zusammen geschmolzen. Ich habe nur noch die Reimersche Familie, Julius nebst Familie, die Weiß, Kortüm, Ribbek. Im Reimerschen Hause hoffe ich, daß wir ganz gemüthlich wohnen werden. Minchen wird im Diebitschschen Hause wahrscheinlich 600 rℓ. geben müßen, sie will den Heinrich bei sich behalten. Zu Michaelis kommt, glaube ich, Heinrich Sethe aus Heidelberg nach Berlin zurük. Da wirst Du wieder einen Vetter in der Nähe haben. Seine Schwestern, die Kindchen gefallen mir auch, und mit Julius und Adelheid sind wir sehr befreundet. So stünde denn ein gemüthliches Leben für die nächsten 2 Jahre in Aussicht, die Mutter Reimer dazu gerechnet. Der harten Schläge hätten wir genug gehabt. Gott möge uns einige Jahre Ruhe gönnen und ich möchte Dich auch der äußern Existenz wegen gern noch einige Jahre vorwärts wißen und dieses noch erleben. Stürbe ich jetzt, so würde es doch der Mutter, Deine und Carls Existenz sehr erschweren. Bist Du aber über den Berg, dann wird es der Mutter viel leichter. Carl klagt auch sehr über theures Leben in Freyenwalde. Aber es ist doch dort eine ganz andre Existenz als in Ziegenrück. Krügers fanden ihn auch viel wohler aussehend. Nun wüßte ich für heute nichts besonderes zu schreiben. Sobald Du etwas eingerichtet sein wirst, erwarten wir von Dir wieder einen Brief.

Dein Alter Hkl.

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

Sonntag früh. Nur noch einen guten Morgen, mein lieber Ernst! Gestern war L. Passow hier, die sagte mir Lachmann habe in Poppelsdorf selbst eine passende Wohnung gefunden und gemiethet, und es gefiel ihm recht gut dort. Nun leb wohl, mein Herzens Junge! Gott sei mit Dir. Denke fleissig an Deine alte Mutter. Die Doktorin ist gestern angekommen und hat sie in Freienwalde alles wohl verlassen.g Kann ich das Stinkende weg schütten, was in den Gläsern in der Anziehstube steht.h

a eingef.: Tante; b eingef.: neuen; c gestr.: ist; d gestr.: ist nach Berlin verse; e gestr.: Großmutter; eingef.: alte; f eingef.: die Kinder …zu haben.; g Text weiter am linken Seitenrand: Die Doktorin …wohl verlassen.; h Text weiter am linken Rand von S. 1: Kann ich … Anziehstube steht.

Brief Metadaten

ID
35883
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
02.05.1857
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
28,2 x 22,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35883
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte an Haeckel, Ernst; Berlin; 02.05.1857; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35883