Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 13. Februar 1854

Berlin 13 Febr. 54.

Mein lieber Ernst!

Diese Zeilen sollst Du zu Deinem Geburtstag erhalten, vielleicht kommen sie etwas früher an. Wir werden an diesem Tage noch besonders bei Dir sein, ob wir es zwar immer sind. Denn die Gedanken an unsre Kinder beschäftigen uns täglich, ich möchte sagen stündlich. Was werden unsre Kinder machen? fragen wir uns öfters am Tage. Für Euch leben wir vorzugsweise. Für Euer Wohl erbitten wir uns den Segena des Himmels. Ihr seid unsere Schätze. Soeben kam ein Brief aus Ziegenrück, wo alles gut geht und der Kleine sich immer mehr entwikelt. Dem Oncle Christian hat es gar nicht in Ziegenrück gefallen wollen, er meinte immer wieder, das sei ein verdammtes Nest. Ich habe mich mehr damit ausgesöhnt, die Natur dort ist doch schön; nur die Ueberladung Carls mit Arbeit, daß er eigentlich nichts lesen kann, mißfällt mir und wird ihn auch von dort hinwegtreiben. Denn einigeb Zeit muß der Mensch behalten für seine innre Entwikelung. Dein lieber Brief, den wir vorgestern erhalten, hat die Saiten in mir angesprochen, die so oft in meinen Meditationen gespielt werden. Er trifft so recht in den Kern meiner Meditationen. Wohin es jetzt mit der Welt hinaus will? Darüber lese, sinne, meditire ich täglich. Ob es mit Europa bergabwärts geht, ob wir von den Barbaren verschlungen werden sollen, ob Europa alt und müde geworden und Amerika nunmehr an die Reihe kommt? Darüber denken jetzt, durch die Weltereigniße aufgeschrekt, viele nach. Die Meisten haben zu wenig Kenntniß der Geschichte und zu wenig philosophische Bildung, um hierüber ein Urtheil zu habenc. Dennoch ist auch der alte Wieck, der doch beides in hohem Grade besitzt, sehr zweifelhaft und neigt sich manchmal zum Glauben an den Untergang der Kultur in Europa, wenn dieser auch nur allmählich wäre, herbeigeführt durch das Supremat der Slaven und durch die wunderbaren Fortschritte der Civilisation in Nord-Amerika. Du wirfst ganz richtig die Frage auf: und was dann, wenn die Kultur ihre Höhe erreicht hat,d die so reißend dort im Fortschreiten begriffen ist? was soll dann geschehen? e Hat es dann mit der Erde ein Ende? Ist sie dann zum Untergange reif? Denn ohne Menschen und Geisteskultur ist sie blos eine leere Oede. Es wäre möglich, daß dann ein andrer Planet und ein andrer Stern an die Reihe käme! Das Weltall ist unermeßlich. Ich kann dieser Ansicht des Abwärtsgehens der europäischen Kultur und dem Dahinschwinden Europa‘s nicht beitreten. Wir sind ja noch gar nicht so weit vorwärts. Kaum f sind die Völker des westlichen und der Mitte Europas der Sklaverei ledig geworden. Der Moment zu ihrer Entwikelung ist erst gekommen, g der Osten von Europa liegt noch in Sklaverei, und hiemit sollte die ewige Weisheit abbrechen und das kaum begonnene Werk h im Stich lassen? Das scheint mir widersinnig. Die Reformation, welche das Christenthum aus seinen Banden erlöst hat, ist erst 300 Jahr alt und nun es recht zu wirken anfängt, nun es die Menschheit in gereinigter Gestalt durchdringen soll, sollte ihm ein Ende gemacht werden? Das scheint mir widersinnig. Die Frage, die jetzt stark erörtert wird, ist die: was wahres Christenthum, was sein innerster Kern sei? Das ist den Meisten noch gar nicht klar. Unsre Orthodoxen wollen es wieder in seine Windeln einwikeln, grade da es sich frei zu bewegen anfängt. Nur die wenigen, die es in sich durchgemacht haben, begreifen seine Tiefe, und den Satzi „daß Christus in die Welt gekommen sei, um die Menschheit zu erlösen.“ In ihm ist das göttliche Wesen zum Durchbruch unter den Menschen gekommen. Aber in den Dogmen sitzt das || Christenthum nicht, in der freien Entwikelung menschlicher Kräfte, in dem Kampfe des Guten und Bösen zeigt es sich. Wir werden hier auf Erden keine Engel werden, wir können unsre irdische Natur nicht abwerfen und der Kampf mit dem Irdischen bildet einen großen Theil unsers Lebensberufs, aber andrerseits sollen wir auch für diese Welt leben in den Schranken, die uns durch unser innres göttliches Wesen und durch den Kampf gegen den bloßen Sinnengenuß gezogen sind. Die irdischen Kräfte sollen sich für ein nicht für einen blos verfeinerten Sinnengenußj höhres Dasein entwikeln, das ist der Sinn und Begriff der wahren Kultur, und davon sind wir noch weit entfernt. Ein blos verfeinerter Sinnengenuß ist Hyperkultur, und unterscheidet sich von der wahren, wie Gold von der Schlacke. Das Streben in Europa nach politischer Freiheit hängt mit der Entwikelung der wahrenk Kultur genau zusammen, diese kann sich erst entfalten, wenn jene erobert ist. Wir befinden uns aber erst in den Kinderjahren der politischen Freiheit; solange sich ganze Völker noch von beschränkten Fürsten in unsinnige Kriege schleppen laßen, wie das Vieh, l haben sie die Kindersokken noch nicht ausgezogen; und bei der gegenwärtigen rußisch-türkischen Frage wird den Völkern an den Puls gefühlt, wie weit sie sind? Ein Volk, das sich für die Rußen in den Krieg treiben läßt, liegt eben noch in den Feßeln der Knechtschaft und ebenso zeigt auf der andern Seite das türkische Auftreten, daß wenn der Islam die Türken und Zubehör noch nicht verschluckt hat, doch keine geistigem Entwikelungsfähigkeit in ihm liegt, daß diese vielmehr im Christenthum gesucht werden muß. Die Türken werden sich eine christliche Institution nach der andern aneignen müßen, um fortbestehen zu können, und so werden sie zuletzt unbewußt ins Christenthum übergehen, indem sie europäische Civilisation, die ein Ausdruck der innern Fortentwikelung der Menschen und Völker ist, in sich aufnehmen. Europa hat durch seine geographische Gestaltung viel vor den übrigen Welttheilen voraus, es gestattet n die Entwikelung einer Mannigfaltigkeito von Individualitäten wie kein andrer, das hat schon Ritter bemerkt; seine Halbinseln, seine Binnenmeere, seine ursprünglichen Völker und Individualitäten (Germanen, Romanen, Slaven, finnische Völkerschaften) erzeugen eine so verschiedenartige Gestaltung, wie in keinem andern Welttheil, darauf beruht sein Uebergewicht. Nordamerika, das größer ist als Europa, wird viel einseitiger und einförmiger werden. Was endlich die Naturforscher vom Boden sagen, der nur eine Reihe Jahre tragen könne und dann mit seiner Fähigkeit die Völker zu ernähren zu Ende sei, ist auch nicht wahr. Die Kultur der Chinesen und Indier ist, soweit nur die Geschichte reicht, wenigstens 6000 Jahr alt, und der Boden ernährt die dort lebenden Völker fortdauernd; es giebt freilich ein Maas der Bevölkerung, das nicht überschritten werden kann. Das Ausroden der Wälder hat allerdings geschadet und in gewißer Hinsicht seine Tragbarkeit aus verminderter Befruchtung vermindert, aber in Europa kennt man jetzt diesen Mangel und sucht ihm abzuhelfen, durch angemeßne Kultur, indem man das unfruchtbare Land der Forstkultur übergiebt und nur den fetten Boden dem Ackerbau vorbehält. Dieser selbst hat aber durch die neuen landwirthschaftlichen Systeme (z. B. Thaer‘s Fruchtwechsel) sehr gewonnen. Babylonien, Klein Asien, Caschmir sind nicht durch die p Entnervung und Entkräftung des Bodens herunter gekommen, sondern durch den Despotismus, den der Islam in seiner Einseitigkeit begünstigt. – Die Achtung vor der Menschennatur und ihre Entwikelung, die auf den Boden des Christenthums gewachsen ist, befruchtet auch die Felder und setzt die Länder in den Stand, jedes nach seiner Art, ihre Völker zu ernähren. Also nicht sporadische || Kultur, heute im Morgenlande, morgen im Abendlande, heute in Asien, morgen in Europa, übermorgen in Amerika, sondern eine über alle Erdtheile verbreitete christliche Kultur ist die Bestimmung des Menschengeschlechts, alle Erdtheile mit ihren Bewohnern sollen aufeinander einwirken, jeder den andern erziehen helfen, dazu sind jetzt Eisenbahnen und Dampfschiffahrth und elektrische Telegraphen in die Welt getreten, es soll sich ein Weltverkehr bilden, wie er noch nie da gewesen und dieser soll die Völker erziehen helfen, nachdem das Christenthum als allgemeine Weltreligion (s. jetzt die Bewegungen in China) q sich aus seinen Anfängen herausgearbeitet r und als Bildungselement für die Menschheit Wurzel gefaßt hat; diese Religion, die auch dem Geringsten sein Recht und seine Achtung und seine Entwikelung sichert und so auch die Achtung der Eigenthümlichkeit der Völker, durch welche sie s bestimmungsgemäß für das Erdenleben erzogen werden, ist noch nicht 2000 Jahr alt, während die Braminen Religion gewiß schon 6000, wie jung ist das Christenthum auf der Erde!

– Und so wünsche ich Dir denn zu Deinem Geburtstage eine immer größere Erkenntniß Deines innern Wesens, eine immer weitere Entwikelung Deiner Kräfte, getragen durch Religion und Sittlichkeit, suche über das Christenthum immer mehr ins Klare zu kommen und es immer tiefer in Dich aufzunehmen; wir sind jetzt grade in einem Stadio, worüber in dieser Hinsicht viel Unklarheit und Verwirrung herrscht. Aus dem Boden des Christenthums entspringt die allgemeine Menschenliebe, die Aufopferung für Andere, die Förderung ihres physischen und geistigen Wohlergehens, die Achtung für Gesetz und Recht und wenn dieses alles zusammen wirkt, so wird das Reich Gottes immer mehr vorbereitet. – Deine Studien sind jetzt noch Versuche, wohin eigentlich Deine Anlagen wollen. Bald klingt diese, bald jene Saite vor, Du wirst diese Versuche noch mehrere Jahre fortsetzen müßen, bis Du zu klarem Bewußtsein kommst und Du dich dann ruhig durch Deinen innern Instinkt weiter treiben läßt. Du mußt die Geduld hiezu nicht verlieren, es wird sich schon alles aufklären und wir wollen dir dazu behülflich sein. Habe immer Gott vor Augen und im Herzen, daß Religion und Sittlichkeit Dich auf allen Wegen begleiten, sie bilden die reine, frische Luft, in welcher der innre Mensch allein gedeihen kann, und durch welche die Gesundheit des innern Menschen erhalten wird. –

Dein Dich innig liebender alter Vater

Hkl

a korr. aus: Seegen; b eingef.: einige; c eingef.: zu haben; d eingef.: ihre Höhe erreicht hat,; e gestr.: Ist; f gestr.: ist; g gestr.: und; h gestr.: zu; i gestr.: Wie; eingef.: Satz; j eingef.: nicht für einen blos verfeinerten Sinnengenuß; k gestr.: genauen; eingef.: wahren; l gestr.: ist; m eingef.: geistige; n gestr.: einer; o eingef.: die Entwikelung einer; p gestr.: Verer; q eingef.: (s. jetzt die Bewegungen in China); r gestr.: hat; s gestr.: in ihrer

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
13.02.1854
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35880
ID
35880