Hans Meyer an Ernst Haeckel, Leipzig, 25.-26. Dezember 1918

Leipzig 25/12.18.

Lieber Vater,

Der erste Feiertag ist vorüber, allerlei Besuche sind empfangen und gemacht, die Feststimmung der Kinder ist in ruhige Bahnen zurückgekehrt, wir haben soeben mit grossem Behagen Liesens vortrefflichen Weihnachtsfleischsalat (ohne Fleisch) verzehrt, und nun benutze ich die erste seit langer Zeit eingetretene Mußestunde, um Dir einen Weihnachts- und Neujahrsgruss || zu schreiben. Leider mit gemischten Gefühlen. Schlimme Wochen liegen auch hier in Leipzig hinter uns und schlimmere werden uns wahrscheinlich noch bevorstehen, denn die „Unabhängigen“ und Spartakusmänner und -weiber sind ganz rabiat. Sie scheren sich den Teufel um die Anordnungen der mehrheitssozialistischen Regierung, requirieren auf eigne Faust und hätten schon längst mit einer allgemeinen Enteignung, Sozialisierung und Plünderung begonnen, wenn nicht noch ein paar Regimenter || Frontsoldaten treu zur Regierung hielten. In Berlin haben ja endlich die Truppen die bolschewistischen Marinekerle zusammenzuschiessen begonnen, aber Ebert und Genossen haben aus zarter Rücksicht auf die Unabhängigen dem Vormarsch Einhalt getan. Es wird also weiter „nationalisiert“ und geräubert werden, bis die noch „ordnungsliebenden“ Fronttruppen eine Diktatur einsetzen oder bis die Entente einmarschiert. Scheusslich! Man wird sich den Rest seines Lebens schämen müssen, ein Deutscher zu sein.

Den Hauptskandal werden wir am Wahltag erleben. Da werden die Unabhängigen mit || ihrem bewaffneten Gesindel die Wahllokale zu sperren versuchen, die Wähler mit Gewalt abschrecken und die Nationalversammlung von vornherein sprengen oder doch den energischen Versuch dazu machen. Es hängt alles davon ab, ob die Regierung der Mehrheitssozialisten dies durch militärische Maßnahmen verhindern will oder kann. Nach ihrem bisherigen Verhalten bezweifle ich es. Hoffentlich täusche ich mich darin.

Und zu alledem der wirtschaftliche Zusammenbruch infolge der Kohlenstreiks, der Kohlenbesetzung, der Verkehrslähmung, des Industriestillstandes u. s. w. Die Arbeitslosigkeit in den grossen Städten schwillt daher riesig an, bald kommt Nahrungsmangel || dazu, und da noch Niemand auswandern kann – was sonst jetzt schon Hunderttausende tun würden – , so verschärfen sich die Gegensätze ins Ungeheure. Es ist nicht auszudenken, wie die Katastrophe sein wird, wenn nicht bald mit eiserner Faust Ordnung geschaffen wird – Hindenburg! – und wenn nicht bald die Grenzen geöffnet werden, um Nährmittel und Industrierohstoffe herein- und überflüssige Menschen hinauszulassen.

Und wer ist an diesem furchtbaren || Schicksal Schuld? In erster Linie natürlich England, dieses vampyrhafte Scheusal unter den Weltmächten, das im Lauf der vergangenen 4 Jahrhunderte einen nach dem andern seiner See- u. Handels-aRivalen durch Koalitionen abgewürgt hat: im 15. u. 16. Jahrhundert die Portugiesen und Spanier, im 17. Jahrhundert die Holländer, im 18. und 19. Jahrhundert die Franzosen, im 20. Jahrhundert die Deutschen.

Hoffentlich wird nun endlich in allen wahren deutschen Herzen ein Haß gegen England und seinen französischen Helfershelfer entflammt werden, der bis nächste Jahrhundert überdauert, bis || Deutschland Rache genommen haben wird, nicht bloss „Revanche“.

In zweiter Linie trägt die verfluchte pazifistische Politik Bethmannischer Art die Schuld an unserm Zusammenbruch. Sie hat alle gesunden starken Kräfte in unserem Volk unterdrückt, alle wirksame Tätigkeit unsrer nationalen Presse und Propaganda geknebelt, diplomatisch gänzlich versagt, mit der Sozialdemokratie paktiert und durch alles dies und vieles andre die antinationalenb Gegenströmungen im Volk gross werden || lassen, die uns im Innern und Äussern zermürbt, die besten Elemente im Volk verbittert, unsre herrliche Armee und Flotte revolutionär zersetzt und zerstört und uns am Ende absolut machtlos unsern Totfeinden ausgeliefert habe. Man sollte meinen, den Illusionierten der vormaligen Reichstagsmehrheit vom Schlage Erzberger, Scheidemann, Junck etc. müssten endlich die Schuppen von den Augen fallen; aber nein, sie jagen weiter hinter ihren Phantomen her, bis auch ihnen einc gewaltsames Ende kommen wird. Über all dies wollen wir uns mündlich weiter unterhalten, sobald der Verkehr nach Jena wieder geöffnet ist. Bis dahin lass Dir’s so gut gehen, wie es die Not der Zeit zulässt und sei herzlichst gegrüsst von

Deinem Hans mit Liese, Getrud, Lotte

Der Brief ist von gestern Abend liegen geblieben bis zum heutigen 2ten Feiertagsmorgen, der uns Deinen Brief aus Jena brachte. Vielen Dank und alles Gute!d

a eingef.: See- u. Handels-; b eingef.: antinationalen; c korr. aus: einen; d Text weiter am oberen Rand von Seite 2, diametral zur Schreibrichtung: Der Brief … alles Gute!

Brief Metadaten

ID
35747
Gattung
Brief ohne Umschlag
Verfasser
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
25.12.1918
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
13,0 x 17,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35747
Zitiervorlage
Meyer, Hans an Haeckel, Ernst; Leipzig; 25.12.1918; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35747