Carl Gottlob Haeckel an Anna und Ernst Haeckel, Berlin, 5. Januar 1864, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Berlin 5 Januar | 64.

Lieben Kinder!

Nun die Feiertage vorüber, ist es wohl Zeit, Euch zu schreiben, wie wir dieselben zugebracht, zumal Ihr uns geschrieben, wie dieses bei Euch der Fall gewesen. Wir haben sie bis zum neun 29 December sehr still verlebt. Am heiligen Abend war Tante Gertrud bei uns, Tante Bertha war in Potsdam. Eben so lebten wir die beiden Feiertage ganz still. Am 29sten kam Carl aus Landsberg, wir gaben an diesem Tage ein kleines Männerdiner, wo Kühne, Barth, Parthey, Jacobi, Reimer, Tante Bertha zugegen waren und es recht munter zuging, Mutter hatte gut gekocht, auch Eis und Champagner wurde gegeben. Am 31sten Abends waren wir bei Tante Bertha die Familie beisammen, die Potsdamer waren da und wir waren recht munter. Einen Abend war Fräulein Arndt aus Freyenwalde hier und Miss Braun nebst Bruder. Am Sonntag ist Carl wieder abgereist. Gestern Abend waren Giesels und Esmarch bei uns, der uns mancherlei über Oesterreich erzählte, wo es schlecht aussieht. Wir sind dieser Tage voll Spannung gewesen, was nun endlich der Bundestag über die Schleswig-Holsteinsche Frage beschließen wird. Ich erwarte nicht viel und bin überhaupt sehr muthlos. Am meisten ärgere ich mich über unsre innern Zustände. Während wir täglich maltraitirt werden, wird alles mit leeren Protestationen hingenommen und die Regierung übt die rohe Gewalt ununterbrochen fort. Ich habe jetzt den 1sten Theil der Kirchengeschichte des Eusebius gelesen, die fortdauernden Verfolgungen des Christenthums in den ersten 3 Jahrhunderten. Da lernt man: wie eine höhere Idee durchzuführen ist, da sieht man, was ein göttlicher Geist gegen die rohe Gewalt vermag. Zu Hunderten wurden die christlichen Märtyrer hingerichtet und aus jedem Martyrerthum sproßten neue Märtyrer auf. Kühn und mit Begeisterung gingen sie dem Tode entgegen und aus jedem Opfer entsproßen neue Bekenner. Sie erregten durch ihre Todesverachtung die Bewunderung der sie umgebenden, so wuchs mit jedem Opfer ihre Zahl, die Idee, für welche sie sich hingaben, die Einheit Gottes, die Verachtung der heidnischen Götter und die Weigerung den Kaiser anzubeten:! || Die unbegrenzte Unterstützung ihrer Brüder, die Opfer, welche sie für sie brachten, mehrte täglich ihre Zahl und in 3 Jahrhunderten hatte das Christenthum das Heidenthum gestürzt! Auf solche Weise brachen sich die Ideen Bahn, in ähnlicher Weise gieng es mit der Reformation. Aber jetzt, wo es gilt, gesetzliche Zustände für eine geregelte Freiheit herbeizuführen, rührt sich wenig oder nichts, auf das Kammergeschrei blikt die tyrannische Regierung mit Verachtung herab und so verfallen wir immer mehr in Sklaverei. Es ist freilich schwer zu sagen: wie man es anfangen soll, einen beßern Zustand herbeizuführen? Unsere Verfaßung ist in ihrer jetzigen Gestalt zu lükenhaft. Hätten wir ein jährliches Steuerbewilligungsrecht, dann wäre ein Anhalt gegeben und ohne ein solches werden wir nie die Freiheit schützen können. Allerdings befindet sich die Regierung auf dem reinen Weg der Gewalt, die Kammerverhandlungen werden fruchtlos ablaufen, man wird die Abgeordneten wieder nach Hause schiken und thun was man Lust hat. Freilich wird man keinen Krieg führen können, den will man ja aber auch nicht, die politische Schande ist der Regierung ganz gleichgültig geworden. Wenn man nur Soldaten halten, damit exerciren, die Junker in der Armee unterbringen und sie darin unterhalten kann, so ist man ganz zufrieden. Ich sehe noch keinen Ausweg aus diesem Elend und bin wirklich in Verzweiflung. Ich gräme mich bei Tag und Nacht.

– Das einzige erfrischende ist jetzt die Winterkälte, in der Regel alle Morgen 10 Grad. Ich gehe nach 9 Uhr 1 Stunde spatzieren. Abends um 6 Uhr besuche ich Barths Collegium, was mir wohl gefällt. Am Sonnabend war ich mit Carl in der Geographischen, wo einige recht hübsche Vorträge vorkamen. Ich danke Dir, lieber Ernst, für Dein Buch über physische Geographie, es kommt mir bei Barths Vorträgen sehr zustatten und ich lese darin, ebenso benutze ich Berghaus Atlas fleißig. So lebe ich zwischen politischem Aerger, Studium der Erdkunde und der Kirchengeschichte. Der Renan fängt nun auch hier an, Aufsehen zu erregen, nachdem die Recensionen deßelben in den öffentlichen || Blättern begonnen haben. Er ist nicht ohne Geist, hebt die jüdischen Zustände zur Zeit Christi und den Gegensatz zwischen Galiläa und Judäa gut heraus, meint es ehrlich und erkennt den Geist des wahren Christenthums. Aber die Person Christi hat er doch nicht richtig begriffen. Er mag auch darin recht haben, daß Christo die ganze damalige heidnische Kultur fremd und er kein gelehrter so genannter geistreicher Mann, sondern in dieser Hinsicht ganz einfach war. Aber er war ein durch und durch von Gott erfüllter Mensch, in welchem die Idee der christlichen Liebe, des übersinnlichen ewigen Lebens eine solche Stärke gewonnen hatte, daß sein ganzes Wesen davon erfüllt war und eben dadurch die Welt zu reformiren. Mit den äußern auch geistigen Beschäftigungen dieser Welt gab er sich nicht ab. Aber a den ewigen Theil unsers innersten Wesens, den wir mit in jene Welt hinüber nehmen, hatte er b aufs sicherste erkannt, darum hat seine Lehre die Herzen erobert, darum wird sie nie untergehen. –

Du hast der allgemeinen Berliner Zeitung sehr unrecht gethan, sie wurde von den Reaktionärs am meisten verfolgt, die Nationalzeitung genirt sich vielmehr nach den äußern Verhältnißen, denn sie will bestehen, woraus von selbst folgt, daß sie nicht stark auftreten, nicht die Dinge bei ihrem Namen nennen darf. Dein Patent, was Du von der Dresdner Gesellschaft erhalten, hat uns sehr amüsirt. Gegrüßt sei Poli III. – Nun, so lebt recht glüklich miteinander fort. Habt wenigstens in Eurer Häuslichkeit und in Deiner Wißenschaft innern Frieden, wenn kein äußrer Frieden möglich ist. Carl muß sich politischc auch sehr in Acht nehmen, er steht auf der schwarzen Listed und ich habe ihm selbst dazu gerathen vorsichtig zu seine. Aber es giebt eine überzeugungstreue Grenze, welche man festhalten muß, es komme was das wolle.

A Dieu meine lieben Kinder

Euer Alter

Hkl

[Fragment eines Briefes von Charlotte Haeckel]

f für Hermine; ich hatte damals so viele gewünscht weil ich sie zu Weihnachtsgeschenken nach Hirschberg für die Schwestern haben wollte, dazu ist es nun zu spät, und im Ganzen hört man auch, daß sie nicht ganz praktisch sein sollen; also mir ist es lieb wenn ich nicht alle 6 nehmen brauche, wenn es nicht anders ist, will ich auch etwas Verlust dran tragen. –

Die Kaffeemaschine kostete 2½ Thaler, die Quittung findest Du mit in meinem Kouvert eingesteckt; ich habe zwischen den Sachen die Briefe und Annoncen gepackt, die für Ernst gekommen. ||

Nun, Liebe Kinder, lebt recht wohl, haltet Euch gesund und behaltet lieb

Eure

alte Mutter Lotteg

a gestr.: das; b gestr.: er; c eingef.: politisch; d eingef.: er steht … Liste; e eingef.: vorsichtig zu sein; f Einfügungszeichen: +; g Text weiter auf S. 3: Nun, liebe Kinder … Mutter Lotte

Brief Metadaten

ID
35665
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
05.01.1864
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,3 x 22,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35665
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte an Haeckel, Ernst; Haeckel, Anna; Berlin; 05.01.1864; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35665