Carl Gottlob Haeckel an Anna und Ernst Haeckel, Hirschberg, 19./20. August 1863, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Hirschberg den 19ten | August 63.

Lieben Kinder!

Da wir nun schon über 14 Tage hier sind, so ist es wohl Zeit, Euch einmal Nachricht von uns zu geben. Wir haben sehr unruhig gelebt, fast immer schönes Wetter, aber auch große Hitze gehabt. Carl kam von Leipzig sehr angegriffen von den Strapazen des Turnfestes an und hatte die Reise über den Iserkamm aufgegeben. Dagegen hat er von hier aus schon mehrere Touren gemacht. Zunächst ging era mit einer Gesellschaft unserer hiesigen Freunde auf die Anna Capelle und von da sofort unter Begleitung eines jungen Kaufmanns b noch an demselben Tage über die Schneekoppe, wo er vortreffliches Wetter hatte, nach der Grenzbaude und von da den andern Tag nach Johannisbad in Böhmen, von da auf der böhmischen Seite durch außerordentlich erhabene Schluchten so weit, daß er den 3ten Tag wieder c auf die preußische Seite an einem der niedern Uebergangspunkte d über Giersdorf zurükkehrte. An einem andern Tage machten wir mit Lamperts eine Tour nach dem Bieberstein hinter Wernersdorf und von da über Petersdorf zurük. Am Sonntag waren wir beim Pastor Steudner in Petersdorf, wo wir auch den Kreisgerichtsrath Weissig aus Bunzlau, den Carl seit Jahren kennt (er ist der Bruder der Steudner) fanden. Gestern früh fuhr ich mit Carl in einem 1 Spänner nach Landeshut; über die neue Straße, die gleich den oesterreichischen im Zikzak, um die steilen Berge zu umgehen, gelegt ist. Man fährt durch schöne Thäler bis Landeshut, immer über sanfte Anhöhen oder an den Abhängen der Berge umher. Nachmittag fuhren wir nach Grüssau und heute früh sind wir auf der alten steilen Straße von Landeshut nach Schmiedeberg unweit der Friesensteine vorbei, die wir besuchten, hierher zurükgekehrt. Carl findet doch das Schlesische Gebirge ungemein schön. Besonders das Hirschberger Thal gewährt ungemeine Abwechslungen durch die vielen kleinen mit Wald bewachsenen Berge, die sich darin befinden und besonders bietet die Beleuchtung des Gebirges an halbbewölkten Tagen die reitzendsten immerfort wechselnden e Erscheinungen. Ich kann wohl sagen: ich habe 14 Tage wirklich in Naturgenüßen geschwelgt. Sonnabend will Carl wieder zurükreisen. Mutter und ich wollen den 26sten Nachmittag hier abreisen und den 27sten früh um 5 Uhr mit dem Courierzug wieder in Berlin eintreffen, um am 29sten der Hochzeit in f Potsdam beizuwohnen. – Mich hat es besonders intereßirt, die industriellen Zustände hier im Gebirge zu beobachten, deshalb bin ich auch in Landeshut und Grüssau gewesen, wo ich im Jahr 1812. eine große Artvertheilung von Grüssauschen Domänenvorwerken unter die Weber auszuführen hatte. ||

Das Volk im schlesischen Gebirge ist außerordentlich fleißig und hat sich in den letzten g 20–30 Jahren unter den schwierigsten Verhältnißen zu erhalten gewußt. In den letzten 10 Jahren haben sich die gewerblichen Verhältniße sehr gebeßert. Es haben sich unternehmende Männer gefunden, deren Fabrikanstalten in den letzten 20 Jahren einen bedeutenden Umfang erreicht haben, alle Verbeßerungen in Spinnerei, Bleiche und Appretur, worin uns die Engländer sehr vorgeeilt waren, sind nachgeahmt worden und die Leinenfabrikation hat sich wieder gehoben, wozu auch der nordamerikanischen Krieg durch das Vertheuern der Baumwolle beigetragen hat. Man findet in Waldenburg, der Grafschaft Glatz, in Landeshut, Erdmannsdorf, Liebau große Fabriketablissements, die sehr bedeutende Geschäfte machen. Diese Etablissements laßen durch ihre Spinnmaschinen das Garn spinnen, und durch Lohnweber weben. Sie haben ihre Bleichen, in denen nach neuerer Art mit Chlor gebleicht und sodann besonders appretirt wird. Alles, was man noch vor 20 Jahren sehr vermißte, ist nun ins Leben getreten. Daneben haben sich die Weber durch Bearbeitung kleiner Akerstüke ungemein einer kleinen Landwirthschaft befleißigen gelernt, mittelst deren sie gegen die drükendsten Nahrungssorgen gesichert sind. Wir machten in Grüssau vor 50 Jahren den Anfang damit, indem wir zu den Stellen 2–3 Morgen Aker und Wiese zusammen in Erbpacht gaben, um sich eine Kuh halten, Kartoffeln und einiges Gemüse bauen zu können. Dieses haben sie seit der Zeit vollständig gelernt und wo sich eine neue Gelegenheit findet, ein kleinesh Akerstück zu erwerben, sind sie dahinter her. Bäuerliche i und gutsherrliche kleine Forstgrundstüke werden abgewaldet und zu Aker gemacht. Die großen Forstgrundstüke werden dagegen von den sie ruinirenden Weide-, Rest- und Leseholz Servituten befreit und weit beßer bewirthschaftet, so daß die großen Forstgrundstüke weit beßer gedeihen. Der Wohlstand im Gebirge ist daher sehr im Wachsen. Dazu kommt die Aussicht auf die Gebirgsj Eisenbahn, welche schon jetzt ein ungemeines Leben hervorbringt. Hier in Hirschberg, wo ein Hauptbahnhof errichtet werden wird, wird schon jetzt ungemein gebaut. Neben der alten Stadt entstehen vor den ehemaligen Thoren neue Vorstädte, die Stadtmauern sind abgetragen und werden in die Gräben geworfen k. Diese werden zugeschüttet und sollen in schöne Promenaden verwandelt werden. Es finden sichl jetzt schon viele Bauliebhaber und Kaufliebhaber und in 10 Jahren wird man Hirschberg nicht wieder erkennen. Auch in Landeshut habe ich ähnliche Veränderungen gefunden und in Schmiedeberg finden die noch in ziemlichem Stande befindlichen Kaufmannshäuser, m bei denen sich sehr häufig Gärten befinden, im Sturm ihre Liebhaber und Bewohner. Von Schmiedeberg bis zur Eisenbahn wird man in 1 Stunde fahren. – Ich habe also hier im Gebirge überall || frisches Leben gefunden, welches mich ungemein erquikt hat. Wo Wohlstand und Bildung wächst, da wächst auch die Freisinnigkeit und selbst auch in dieser Hinsicht [hat] das Gebirge n seit 1848 große Fortschritte gemacht. Die Leute sind politisch viel weiter als ich geglaubt habe, und die Reaktion verliert immer mehr an Terrain. Die Wahlen werden dieses bestätigen. Zwischen dem Märker und dem Schlesier besteht doch ein großer Unterschied. Der Schlesier ist weniger carakterkräftig, aber weit poetischer. Wenn man die großen Dörfer im Gebirge durchreist, findet man überall neben den kleinen Weberhäusern kleine Obstgärten, auch vor den Fenstern viele Blumenbeete, welches den Dörfern einen sehr angenehmen Anblik giebt. Der Märker ist tüchtig, arbeitsam aber weit nüchterner, ohne Phantasie, was man sogleich sieht, wenn man aus der Mark hieher kommt. Ich habe zwischen Landsberg und hier einen großen Gegensatz gefunden. Aber die Kultur des Bodens, die Kolonien in der Neumark haben mir sehr gefallen. – Mutter hat schon mehrere anstrengendeo Parthien mitgemacht und sich sehr tapfer gehalten. Sie ist hier mit auf den Helikon und den Hausberg gestiegen, auch auf den Biberstein und es ist ihr wohl bekommen. Auch sie ergötzt sich ungemein an der schönen Gegend. Jetzt wird nun wohl die größte Hitze vorüber sein, wir haben seit vorgestern kühleres Wetter, aber die heißen Tage waren ungemein drükend, und da unser Logierzimmer mit ungemein schöner Aussicht 2 Treppen hoch südlichp nach dem Gebirge liegt, so konnte man manche Nächte kaum schlafen.

Den 20. August Vormittag. Carl war soeben hier (er logirt bei Lampert) und wird heute Nachmittag mit Lampert noch eine Tour ins Gebirge machen über Hain nach St. Peter auf die Böhmische Seite, morgen den Elbfall herauf über die Schneegruben nach Schreiberhau, übermorgen reist er ab, er kann das Bergsteigen gar nicht satt kriegen und hat die Zeit sehr gut dazu benutzt. Mit mir ist es anders. Gestern bin ich ein Paar Stunden über den Schmiedeberger Kamm bei den Friesensteinenq vorbeigegangen und noch heute fühle ich es in den Gliedern. Das Wetter ist nicht mehr so heiß und angenehm. Die letzten 7 Tage hier werde ich noch mit Mutter zu kleinen Ausflügen und Promenaden benutzen. Alle Morgen um 8 Uhr gehe ich 1 Stunde auf den Kavallirberg, wo ich Schatten und sehr hübsche Promenade habe. Warmbrunn ist sehr voll gewesen und leert sich jetzt. Ich suche nunmehr alte Bekannte auf. Die meisten sind todt. Die neue Generation hat die alte abgestorbene verdrängt, das ist der Lauf der Welt. Inzwischen geht die Weltgeschichte ihren Gang in der Entwikelung der Menschheit mitten durch alle scheinbaren Wirren fort, eine Generation überliefert der andern ihr Besitzthum und ihre Einsichten und die jüngere Generation knüpft daran ihre neuen Ansichten und Erwerbungen. Wir stehen im Uebergang zu einer neuen Periode der Weltgeschichte und schon die Fortschritte, die ich erlebt habe, sind ungeheuer. Vor 30 Jahren schlummerte das Volk noch, mit || der Juli Revolution im Jahr 1830 fing es an zu erwachen, nachdem in den 20ger Jahrenr die politischer Verfolgungen bei uns angefangen hatten, die besonders von Oesterreich genährt wurden. Jetzt tritt dieses perfide absolutistische Oesterreich als der Verfechter und Exekutor der liberalen Ideen auf und benutzt die Dummheit der preußischen Regierung, um sich geltend zu machen und Preußen zu erniedrigen. Dahin hat es Hℓ von Bismarck gebracht, seinen Verfaßungsbruch hat Oesterreich benutzt, um sich in Deutschland wieder aufzuschwingen und uns lächerlich zu machen. Aber die Dinge sind noch nicht zu Ende. Erst wenn der Krieg kommts, wird es sich zeigen, ob Oesterreich der Hort Deutschlands ist. Die Politik geht mir ungeheuer im Kopfe herum, ich kann kaum schlafen, sie läßt mir keine Ruhe. t Oesterreich kann allerdings Deutschland nicht entbehren, um seine Bestimmung im Osten zu erfüllen und dort europäische Kultur zu verbreiten und ein Gegengewicht gegen Rußland zu bilden. Aber der Hort und Stützpunkt von Deutschland kann es nicht sein, es wird sich wohl zeigen, daß dieser woanders liegt. Unterdeß gehen bei uns in Preußen die innern Kämpfe ununterbrochen fort, unser Volk muß sich in diesen Kämpfen seine Freiheit erobern und grade diese Kämpfe müßen es innerlich stählen und kräftigen. Sie sind sehr unangenehm aber nothwendig. Das Volk schreitet aber, wie ich auch hier in Schlesien wahrgenommen habe, politisch vor und an eine Unterdrükung der liberalen Ideen im Volk darf man nicht glauben. – Ich kehre von meiner Reise sehr befriedigt nach Berlin zurück, wenn auch im Innern sehr aufgeregt durch die Epoche, in der wir jetzt leben und die wir durchzumachen haben.

– Ich habe in diesen Tagen an Euern Bruder Carl (den Oekonom) geschrieben. Er soll mir nähere Auskunft geben über das, was er wünscht und was er leisten kann. Dann will ich an meinen Vetter Gottschling bei Inowrazlow schreiben, ob er Carln ein Unterkommen beschaffen kann. Gottschling ist ein sehr tüchtiger, unternehmender Oekonom und die deutschen Oekonomen werden sich jetzt immer mehr ins Herzogtum Posen wenden. Grüßt Eure Mutter Minchen und Heinrich auch die übrigen Verwandtenu von mir und Lotten, und genießt die schöne Jahreszeit. Euer Alter Vaterv Haeckel

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

Liebe Kinder! Dem herzlichsten Gruß an Euch und an Mutter Minchen, Helehne, Bertha etc füge ich nur noch die Bitte bei, daß Ihr Beide, Ernst und Anna nicht das Seebaden übertreiben sollt. Mit herzlicher Liebe Eure

Lotte.

a eingef.: er; b gestr.: über die; c gestr.: über; d gestr.: zurü; e gestr.: Beleuchtungen; f gestr.: Bres; g gestr.: 20–20; h eingef.: kleines; i gestr.: kleine F; j eingef.: Gebirgs; k gestr.: und sollen, l gestr.: sich; m gestr.: die sehr; n gestr.: große; o eingef.: anstrengende; p eingef.: südlich; q gestr.: Schneegruben; eingef.: Friesensteinen; r eingef.: Jahren; s eingef.: kommt; t gestr.: Das; u eingef. mit Einfügungszeichen: auch die übrigen Verwandten; v eingef.: Vater

Brief Metadaten

ID
35660
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
20.08.1863
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,4 x 22,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35660
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Haeckel, Anna; Hirschberg (Jelenia Góra); 20.08.1863; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35660