Carl Gottlob Haeckel an Anna und Ernst Haeckel, Berlin, 21./22. April 1863

Berlin 21 Aprill 63.

Gestern [meine] lieben Kinder, haben wir Eure Briefe erhalten und zugleich mit Fräulein a Huschke 50 rℓ an Euch abgeschikt, die sie wohl Euch eingehändigt haben wird. Die Sache wird sich nun wohl so gestalten, daß ich mit Mutter Pfingst Sonnabend nach Merseburg zu Karos reise, wo ich einige Tage bleiben soll. Von Merseburg aus will ich einige Abstecher nach Halle und Leipzig (zum alten Wieck) machen und so wird wohl eine Woche vergehen, daß wir Sonnabend nach Pfingsten (den 30sten Mai) bei Euch eintreffen und den Monat Juni bei Euch bleiben. Die Geheim Räthin Weiß werdet Ihr wohl besonders einladen und Mutter Minchen wird sich wohl auch einfinden. In der 2ten Hälfte des Juli denke ich nach Schlesien zu reisen und gegen Ende August zurükzukehren, wo wir dann wohl Theodors Hochzeit beiwohnen und bei dieser Gelegenheit die Bonner sehen werden. Im October wenn Carl sein neues Quartier bezogen hat, denke ich dann mit Mutter noch auf 14 Tage nach Landsberg zu gehen. So ist ohngefähr der Plan, soweit sich die Dinge jetzt übersehen lassen.

Inzwischen lebe ich hier unter meinen Büchern auf beschauende Weise fort. Wir haben (Mutter, Clara und ich) in den letzten 8 Tagen Deine italienische Reisebeschreibung für Deine Freunde, die circulirt hat und nun wieder bei uns ist, gelesen und zwar mit Intereße. Die Hauptmomente der Reise, die Alpenüberquerung, der Aufenthalt in Rom, in Neapel, Pompeji, die gefahrvolle Besteigung des Vesuvs, Salerno, die Reise durch die sicilianische Wüste, die Besteigung des b Etna, der Aufenthalt in Messina stellen sich gut heraus und gewährt jedes dieser Momente sein eigenes Intereße. – Wenn ich dann in mehreren Tagen oder in einer Woche so verschiedenes zusammen gelesen habe und darüber in Meditationen, die alles Gelesene durcheinander würfeln gerathen bin, dann besehe ich mir den Brei, der dadurch herauskommt und stelle die Resultate zusammen.

Die griechisch römische Welt hat Dich mit Recht stark interßirt, mich auch nicht weniger, die griechische Kunst und Philosophie, das römische Kaiserreich mit seinen so höchst interessanten Ruinen, || die griechische Kunst und Bildung und das römische Reich bilden nun einmal eine eigenthümliche höchst intereßante Epoche der Menschheit, und sie werden immer ihre große Bedeutung behalten, wenn auch das Menschengeschlecht noch viele Epochen und Entwikelungen durchzumachen haben wird. Ja, das Menschengeschlecht scheint dazu bestimmt zu sein, recht viele Verwandelungen durchzumachen. Aber der Fortschritt des Geschlechts durch alle diese Verwandelungen ist unverkennbar. Es können in einer einzelnen Periode gewiße Seiten und Kräfte vorzugsweise hervortreten, wie z. B. die Bildnerei in der griechischen Kunst, die Malerei im Mittelalter. Der Fortschritt der neuern Zeit offenbart sich hauptsächlich in der Verallgemeinerung der menschlichen Bildung, sie ist nicht mehr auf einzelne Klaßen von Menschen beschränkt, sie dringt mehr in den ganzen Complexus der Menschheit ein und da ist ja auch nur ein kleiner Anfang gemacht, die Verbindungsmittel der Menschheit haben sich seit den neuern Erfindungen erst ganz leise zu regen begonnen. Ich lese jetzt zu meiner Schande möchte ich sagen, jetzt erst in den Mußestunden meines Alters das alte Testament. So alt es auch ist, so ist doch die Idee der Einheit Gottes, welche sich durch daßelbe hindurch zieht, etwas uns ganz nahe Verwandtes und Ansprechendes. Aber die Idee erscheint nur in ihrer rohesten Form und hat sich durch das Christenthum erst purificirt. Man muß ganze Kapitel, die fast nur Namen der verschiedenen Generationen des jüdischen Volkes enthalten, überschlagen, aber der Glaube an die Einheit Gottes und an die göttlichen Vorschriften (die sittlichen Grundsätze) bilden darin doch einen unverwüstlichen Kern. Du würdest Dich wundern, wenn Du auf meinem Arbeitstisch Bibel und Juden, Griechen und Römer, die Geographie von Mesopotamien und die Geschichte der englischen Constitution alles zusammen fändest, c in die ich doch insgesammt eine gewiße Verbindung zusammen zu bringen suche. – Was unser constitutionelles Leben betrifft, so finde ich es historisch ganz in der Ordnung, daß jetzt alles so schlecht geht. Es ist eine Uebergangsperiode. Wie lange hat es gedauert, ehe der Absolutismus unter Ludwig XIV und d unter den Hohenzollern die mittelalterliche Feudalherrschaft des Adels gebändigt. Nun kommt die Bän-||digung des Absolutismus an die Reihe. Die Freiheit muß aber durch schwere Kämpfe erkauft werden, sonst faßt sie keine tiefe Wurzel. Wir sind erst am Beginn dieser Kämpfe und sie werden noch einige Generationen dauern. Wie elend ist es noch in dem letzten Jahrhundert in England hergegangen, das Unterhaus durch seine Rotten-boroughs ein bloßes Spielwerk der Regierung, erst durch die Reformbill in den 30ger Jahren ist eine ordentliche Volksrepräsentation entstanden und wir in Preußen werden sie schneller bekommen. Dabei darf man aber nicht aus den Augen laßen, daß jeder größere Staat von Bedeutung ein ganz eigenthümliches historisches Gewächs ist und diese Eigenthümlichkeit nicht verläugnen kann. Eine solche ist in Preußen die Junkerei, wahrlich nichts erquickendes in dem jetzigen Augenblik. Aber der zahlreiche kriegerische Adel des Mittelalters in den Marken und Preußen fand durch das Entstehen des Absolutismus seine Verwandelung in ein zahlreiches Officier Corps eines stehenden Heeres und jetzt handelt es sich darum, dieses stehende Heer zeitgemäß zu reformiren, und neben ihm eine stehende Landwehr zu fundiren, was auch nicht ausbleiben wird, aber nicht ohne innere große Kämpfe und ohne auswärtige Kriege. Dazu gehört Zeit. Soll Preußen die Führung des nördlichen Deutschlands erhalten, so muß es auch kriegerisch ausgebildet sein und über dieser Ausbildung sind wir jetzt her. – Es giebt kein Leben ohne Kämpfe, jede Kraft wird sich ihrer nur bewußt durch den Kampf mit ihrem Gegner, so müßen wir den jetzigen Zeitmoment betrachten. Aber diese Kämpfe sind für die darin Befangenen oft sehr hart und bitter und das kann auch bei uns in Preußen nicht ausbleiben. Nur wenn das Volk einschläft, sind wir verloren, dann wird nichts aus uns. – Ich habe noch das gemächliche Philisterleben vor 1806 gekannt. Da bedurfte es der französischen Unterjochung um daraus aufgerüttelt zu werden. Nun hält noch das Andenken an die Freiheitskriege, diese große Volksthat vor und in diesem Gefühl will man es oben wieder zu Knechten einer militärischen Kaste machen! Das ist unsäglich! Durch das öffentliche Leben wie es sich || seit 20 Jahren gebildet, ist das Leben ein ganz anderes geworden. Wir standen in dieser Hinsicht gegen das Alterthum sehr zurük, nun sind wir ihm nachgefolgt und zwar in vollendeterer Weise, da wir keine Sklaven mehr haben. Erweitert ist aber auch das politische Leben dadurch, daß jedes Volk sich seiner Eigenthümlichkeit bewußt wird und sie zu entwikeln sucht. – Wenn ich so auf 60 Jahr zurückblike, es ist unglaublich, wie die europäische Welt eine ganz andre geworden. –

Ein andres Intereße gewährt die sich täglich erweiternde Größe Berlins, es ist unglaublich, was auch hier in unsrer Nähe am Kanal gebaut wird, ich verfolge dieses auf meinen täglichen Spatziergängen. Berlin wird eine sehr große Stadt, die Residenz tritt fast zurük. Fabrikation und Handel nehmen täglich zu und Berlin wird der Mittelpunkt eines großen Staats. Das haben die neuen Erfindungen ins besondre die Eisenbahnen und die Dampfschiffahrt herbeigeführt. Es ist in diesen Tagen schon recht grün geworden, ich fange aber auch an, mich sehr ins Freie zu sehnen und Eure schöne Umgebung in Jena wird mir sehr willkommen sein.

Den 22. Aprill. Wenn Dich auch manches in meinen Briefen nicht anspricht, es wird nicht immer so bleiben. Du befindest Dich in einem bestimmten Stadium Deines Lebens und dieses wird vorübergehen. Du wirst über manches im Leben noch andre Ansichten bekommen. Ich bin auch ein Naturforscher nur andrer Art wie Du, Du studirst Pflanzen und Thiere, ich das Leben der Völker, so z. B. jetzt die jüdische Welt im alten Testament. Im neuen Testament ist mir besonders das jüdische Bewußtsein Christi aufgefallen. Er fühlt sich ganz als der verkündete Meßias. Vom Judenthum aus sollte eine neue Reformation des Menschengeschlechts erfolgen. „Auf daß die Schrift erfüllet würde“, das wiederholt er immer wieder. Und die Reformation ist erfolgt und noch in fortdauernder Entwikelung. „Ein Mann mächtig von Wort und That“, so heißt es in den Evangelien und das muß man glauben. Die Begeisterung der Jünger schmükt zwar aus, hüllt in ein poetisches Gewand, aber sie lügt nicht. Ein Kern hat der Sache zum Grunde gelegen, im Leben und Handeln Christi und so muß er auch mächtige Thaten vollzogen haben. Wie weit die Phantasie ausgeschmükt hat, bleibt dunkel, die Ausschmükung ist aber auch nicht das Wesentliche. Seine Lehre aber ist einfach und klar. –

Wenn ich in der Nacht nicht schlafen kann, habe ich oft die allerlebendigsten und klarsten Gedanken. So in voriger Nacht die germanische Colonisation in Osten von Deutschland unter den Slawen und heidnischen Preußen. Der deutsche Orden in Preußen, das war eine blutige Colonisation. Friedlicher war schon die der Thüringer in Schlesien. Sie wurden von den piastischen Fürsten, welche deutsche Fürstentöchter heiratheten, ins Land gerufen, sie gründeten Klöster und diese und die Städte germanisirten Schlesien. Die alten Sachsen dagegen gründeten die Mark Brandenburg, das war wieder ein andrer deutscher Stamm, ganz verschieden von den Thüringern. Die neue Mark, in der Carl jetzt ist, ist in der That die neueste, selbst die Namen der Ortschaften der alten Mark finden sich in der neuen wieder. Die Pommern haben sehr viel ähnliches von den Westphalen in Gestalt und Sprache. So hätte denn Preußen 4 deutsche Stämme, 2 reine, die Franken und Sachsen in Westphalen und am Rhein und die germanisirten in den Marken, in Preußen und in Schlesien. Diese zusammen bilden den jetzigen e preußischen Staat, eine wunderliche Erscheinung, die doch eine große politische Bedeutung in Europa gewonnen hat und sich, so Gott will, durcharbeiten wird.

Euer Alter

Hkl.

Die preußischen Jahrbücher von Haym enthalten viel gute Aufsätze.

a gestr.: Huf; b gestr.: Vesuvs; c gestr.: deren; d gestr.: Friedrich III; e gestr.: deuts

Brief Metadaten

ID
35657
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
22.04.1863
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,2 x 23,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35657
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Haeckel, Anna; Berlin; 22.04.1863; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35657