Heinrich Haeckel an Ernst Haeckel, Stettin, 20. Juli 1897

Stettin, 20. VII. 97

Lieber Onkel!

Habe herzlichsten Dank für die Drucksachen, die Du mir gesendet, noch mehr für die frohe Aussicht, daß Du im August herkommen wirst: diese Mittheilung fiel wie eine glückliche Fluth von Sonnenstrahlen in die dunkle Nacht meines Daseins. Ich hoffe bestimmt, da ich sonst für dieses Jahr gar keine Reiseabsichten habe, mit Dir nach Stockholm| zu gehen und freue mich sehr, mit Dir – für mich zum ersten Mal! – den Norden kennen zu lernen. Bitte, schreibe, sobald Deine Reisepläne greifbare Gestalt angenommen haben, damit ich mich einrichten kann. Denn so ohne Weiteres kann ich meine 50 Schwestern und jetzt 190 Kranken – seit meinem Hiersein um 30 im Durchschnitt mehr – nicht verlassen. Mir geht es hier nach Wunsch. Meine Thätigkeit in Bethanien großartig: ich habe| schon richtig viel gelernt. Jeden Morgen wache ich mit dem frohen Gefühl auf, nicht mehr blos ein überflüssiges Ornament von unserer lieben Alma mater jenensis zu sein, sondern einen mächtigen Wirkungskreis voll und absolut selbständig auszufüllen. Als Chef eines solchen Krankenhauses kommt man sich wie Herr über Leben und Tod vor; auch ich habe naturgemäß dem letzteren eine Reihe von Opfern gebracht; – wir müssen ja Alle tüchtig Lehrgeld zah|len – aber im Allgemeinen kann ich mich nicht über zu viel Unglück beklagen. Privatpraxis macht sich langsam: so etwas will ersessen sein.

Sonst ist Stettin mir ziemlich wurscht! Der Abstand gegen Jena ist zu groß. Doch habe ich nicht einmal viel Zeit darüber nachzudenken, da die mit meiner Thätigkeit verbundenen Aufregungen und Spannung so groß asind, daß sie fast ganz mich in Beschlag nehmen.| Zu meinem lebhaften Bedauern bin ich deshalb auch nicht dazu gekommen ans Heirathen zu denken – vielleicht findet sich in Schweden etwas.

Vater sah ich zu Pfingsten in Potsdam. Er war sehr gealtert; ob Flinsberg, wo kein horizontaler Spaziergang existiren soll, das Richtige für ihn ist, scheint mir zweifelhaft. Allein da sein Arzt und Freund Abegg aus Danzig, die beide Flinsberg genau kennen, bdafür waren, ich aber nur davon gehört habe, so wollte ich nicht dagegen sprechen. Hoffentlich| macht es sich trotzdem noch gut.

Daß Tante endlich besser sich befindet, freut mich sehr; ich wünsche nur, daß das vorhält und der nächste Winter erträglicher für sie wird, als der vergangene.

Grüße sie und Emma aufs herzlichste!

In steter Treue und Dankbarkeit

Dein ungerathener Adoptivsohn

Heinrich.

Zu dem 2-jährigen Jubiläum der von Gott gesandten Prüfung meine innigste Condolation. Was macht denn die alte Narbe in der Fußsohle? – Beste Grüße an die Schweizerhöhenfreunde!

a gestr.: ist b eingef.: dafür waren

Brief Metadaten

ID
35602
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
28.07.1897
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Format
11,8 x 18,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35602
Zitiervorlage
Haeckel, Heinrich an Haeckel, Ernst; Stettin; 28.07.1897; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35602