aSan Martino di Castrozza, 19. IX. 98
Lieber Onkel!
Einen Ruhetag an diesem herrlichen Ort will ich dazu benutzen, Dir zu erzählen, wie es mir ergangen.
Ende Juli war ich für ein paar Tage in Heidelberg zur 25j. Stiftungsfeier der Verbindung Rupertia, der Julius, Friedel und ich angehört haben. Meine Absicht war eigentlich, nicht hinzugehen, denn man soll ja nicht Orte wieder aufsuchen, wo man einmal glücklich war. Indessen, ich war seit 15 Jahren nicht dort ge|wesen und so entschloß ich mich in letzter Stunde noch, doch hinzufahren. Es war famos dort, besonders weil viele alte Freunde aus meiner Zeit dort sich einfanden. Auch Gegenbaur und Quincke besuchte ich, sah beide nicht besonders gealtert wieder. Ende August fuhr ich von Stettin direct nach Prad, einer Station hinter Innsbruck, und begann mit den Stubaier Bergen. Dann gieng’s ins Ötzthal und in die Ortlergruppe. Abgesehen von einigen Tagen im Anfang war das Wetter geradezu unglaublich schön; man sah vom Ortler bei abso|luter Klarheit vom Großglockner bis zum Monterosa! Ich freute mich, daß trotz der Last meiner Jahre das Klettern auf die hohen Berge (ich war u. A. auf der Wildspitze, Ortler, Marmolada) noch ganz flott gieng, nicht minder konnte ich mehrtägige Gletscherwanderungen in den Ötzthaler Bergen noch famos leisten. Schließlich gieng ich noch – und durch den Contrast wurde die Wirkung noch erhöht – in die Wunderwelt der Dolomiten, von denen ich bisher nur einen kleinen Theil, bei Cortina, kannte. Hier in San Martino genieße ich einige| Tage Ruhe und erfreue mich an den zauberhaften Lichteffecten, die die Sonne an den prachtvollen Dolomiten hervorbringt, von denen das reizende Nest unmittelbar überragt wird. Morgen – unsers lieben Vaters Geburtstag, den ersten, den er nicht mehr erlebt – geht’s mit Post an die Brennerbahn und nach kurzer Rast in Muenchen wieder in die Arbeit. Im October denke ich aber endlich für einige Tage nach Jena zu kommen und hoffe dann, euch Alle recht munter wiederzusehen.
Mit herzlichsten Grüßen an Tante Agnes und Emma
treuestens Dein
Heinz
a gestr.: Stettin