Heinrich Haeckel an Ernst Haeckel, Stettin, 15. Februar 1903

Stettin, 15. II. 03

Liebster Onkel!

Zu Deinem Geburtstag sende ich Dir meine herzlichsten Glückwünsche, die dieses Mal in ein vereinsamtes Haus treffen – und doch ist angesichts der langen und wohl aussichtslosen Psychose Emmas ihre Unterbringung in einer Anstalt wohl unbedingt das Richtige gewesen, das ist schon seit Jahren meine Überzeugung. Ist bei Tante Agnes erst einmal des ersten Trennungsschmerzes Wunde vernarbt, so wird sie sich auch an| dieses Unvermeidliche gewöhnen und durch die wohlthuende Macht, die jeder vollendeten Thatsache innewohnt, zur Ruhe kommen.

Die Wintermonate sind mir in gleichmäßiger Thätigkeit dahingegangen; viel Schneiderei, die erfreulicherweise trotz oft allzu lebhaften Betriebes meinen Nerven nichts anhaben kann, gemischt mit etwas Docententhätigkeit, da ich jetzt zum zweiten Male Fortbildungskurse für Ärzte gebe. Es ist dies eine neue Einrichtung, die vom preußischen Ministerium ausgeht, und bezweckt, die Ärzte eines größeren Bezirks in der abstumpfenden Thätigkeit der Praxis an den größeren Krankenhäusern mit den| Ergebnissen der neueren Forschungen bekannt zu machen. Es macht viel Arbeit, aber auch Freude. Sehr wohlthuend empfinde ich nach dem langen latenten Kriegszustand mit den frommen Männern in Bethanien die Arbeit in gesicherten und geordneten Verhältnissen. Durch meine nunmehr 6jährige selbstständige praktische Thätigkeit bin ich jetzt in das wünschenswerthe Stadium gelangt, in dem man nicht mehr mühsam sich die schwierige Technik der großen Operationen durch anstrengendes Experimentiren und niederschlagende Mißerfolge, aus denen man ja freilich oft am meisten lernt, aneignet, sondern wo man schon mehr über den Dingen schwebt und, wenn| man bei einer so ernsten Thätigkeit den Ausdruck gebrauchen darf, mehr spielend sie beherrscht. Daß daneben eine günstige finanzielle Fundirung des Daseins sehr wesentlich zur Entwicklung eines Gleichgewichts des Gemüths beiträgt, ist begreiflich, so wenig mir am Gelde als solchem liegt. Nun fehlt nur noch eins, von dem ich hoffe, daß der Himmel es mir auch noch bescheert – doch da „hilft nun weiter kein Bemühen, sind’s Rosen, nun, sie werden blühen“ wie Dein Sohn Walther Goethe zu citiren pflegt.

Habe herzlichen Dank für Boelsches Sonnenbuch und die Dissertationen; beides hat mich sehr interessirt. Grüße herzlichst Tante Agnes, Walther und die Leipziger, die wohl zum 69. Geburtstag kommen werden; schade, daß man von hier schlecht so auf Einen Tag nach Thüringen rutschen kann. Dir selbst wünsche ich für die nächsten 3 Decennien die alte Frische! Treuestens Dein

Heinrich.a

Anbei ein Bild bin besonderem Packet das ein Berliner Verlag in einer Sammlung von Ärzten der Gegenwart anfertigte, und eine Zeichnung, die dich interessieren wird, die ich unter alten Papieren von Vater fand.c

a Letze Worte („Tante Agnes […] Heinrich.“) an den Rändern von S. 4 nachgetragen. b eingef.: in besonderem Packet c Postscript an den Rändern von S. 3 nachgetragen

Brief Metadaten

ID
35550
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
15.02.1903
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 22,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35550
Zitiervorlage
Haeckel, Heinrich an Haeckel, Ernst; Stettin; 15.02.1903; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35550