Heinrich Haeckel an Ernst Haeckel, Stettin, 15. August 1910

Stettin, 15. VIII. 10

Liebster Onkel!

Mit lebhaftesten Bedauern sah ich aus deinem Brief, den Julius an mich weiter sandte, daß du in schwerer Sorge um Tante Agnes gewesen bist, und hoffe nur, daß die Gefahr nun ganz vorüber ist. Diese Herzaffectationen sind leider sehr häufig und unberechenbar, doch arbeitet sich eine widerstands||fähige Natur oft genug wieder zu einem leidlichen Befinden durch – und so möchte ich es auch dir in diesem Falle von Herzen wünschen.

Die Reihen seiner älteren Bekannten und Freunde lichten sich leider bedenklich, und wenn man sieht, daß selbst jüngere wie Riedel, so bald außer Thätigkeit gesetzt werden, so kann man schon ein leichtes Grauen bekommen. ||

Je älter man wird, desto schneller scheint sich Einem die Welt zu ändern; in den 13 Jahren, die ich jetzt hier bin, hat sich in Bekannten- und Collegenkreisen auch schon ein sehr beträchtlicher Wechsel eingestellt, und man selbst rückt langsam in die Reihe der Würdenträger vor. Nun – körperlich merke ich noch nichts vom Alter im Beginn des zweiten Halbjahrhunderts der Lebensjahre, || aber im schnellen Auffassen, im Behalten und Aneignen geistigen Materials macht sich doch schon eine gewisse Abnahme der Elasticität geltend; die Schneiderei, die ich sonst leidenschaftlich interessirt betrieb, verliert auch allmählich an Reiz, wenn man so aus dem Vollen gearbeitet a und so ziemlich Alles vielfach gesehen hat, was auf diesem || Gebiete vorkommen kann. Es ist bei meinem Metier doch sehr viel mechanisch-handwerksmäßiges, wenigstens, wenn man durch die große rein praktische, amtliche Thätigkeit an der Spitze eines großen Krankenhauses so absorbirt wird, daß der Connex mit den allgemeinen Naturwissenschaften kaum noch aufrecht zu erhalten ist. Aber das liegt in der Natur der Sache und es geht allen || praktischen Medicinern, auch denen an den Universitäten, ebenso. Dafür muß der Gedanke entschädigen, daß man mitten im pulsirenden Leben steht und ein nicht ganz theoretisches, überflüssiges Glied des großen Volksorganismus ist. Jedenfalls ist diese Art Mitarbeit im Ganzen immer noch wesentlich befriedigender, als die im staatlichen || und politischen Gebiet in der Gegenwart. Man kann sich nur damit trösten, daß nach der sehr ähnlichen schlaffen Zeit nach 1848 unter dem Wilhelm II. sehr ähnlichen Friedrich Wilhelm IV. doch unerwartet schnell die Sache wieder in aufsteigender Richtung sich bewegte.

Meinen herzlichsten Glückwunsch sende ich dir und Tante Agnes, || die ich aufs Wärmste zu grüßen bitte, zum neuen Enkeltöchterchen in Muenchen. – Nachdem ich im Frühjahr schon fort gewesen, werde ich jetzt wohl nur noch eine kleine Exkursion an unsere Seeküste machen können.

In alter Treue und mit herzlichsten Grüßen dein

Heinrich

a gestrich.: hat

Brief Metadaten

ID
35501
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
15.08.1910
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
11,2 x 18,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35501
Zitiervorlage
Haeckel, Heinrich an Haeckel, Ernst; Stettin; 15.08.1910; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35501