Heinrich Haeckel an Ernst Haeckel, Baden-Baden, 31. Mai 1913

SANATORIUM DDr. FREY-DENGLER

BADEN-BADEN

31. V. 13

Liebster Onkel!

In dem dir aus deinen wiederholten Aufenthalten so wohlbekannten Paradies an der Oos weile ich seit einigen Tagen, um – zum ersten Male in meinem Leben! – eine Kur zu gebrauchen und etwas für meine körperliche Hülle zu thun. Schon seit Längerem habe ich mit Verdauungsstörungen zu thun, der Darm funktionirt entweder zu toll oder zu wenig, und in steigendem Maße zuweilen || auch Kopfschmerzen, so daß kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht mit Kopfweh aus dem Krankenhause nach der angestrengten Thätigkeit in den heißen Räumen nach Hause zurückkehre und dann für den Rest des Tages zu einer vernünftigen, geistigen Arbeit kaum noch fähig bin. Und so beschloß ich auf den Rath meines mir sehr befreundeten Collegen von der inneren Station des Krankenhauses, meinen diesjährigen Urlaub dazu zu benutzen, || einmal gründlich etwas zu thun für meinen Körper. Das ausgezeichnet von einem sehr tüchtigen Arzt geleitete Sanatorium liegt herrlich dicht unterhalb der Sturdza-Kapelle; ich sehe von meinem Zimmer, das einen Balkon hat, drüben den Berg mit dem alten Schloß, das neue, den Merkur und Staufenberg, unten die Stadt, vorn einen Wald von Bäumen und links drüben die Rheinebene mit den Vogesen im Hintergrunde. Das Wetter ist herrlich, schön warm ohne lästig heiß zu sein; die Rhododen||dren, in den Anlagen in üppigster Blüte, die wundervollen Azaleen waren bei meiner Ankunft noch in voller Pracht. Der Zwang des Sanatoriums ist etwas lästig, aber gerade dadurch gut, daß man so eine ganz genau geregelte Diät einhält und wie die Uhr Tag für Tag dahinlebt. Herrlich ist der vorgeschriebene Frühspaziergang, nüchtern vor dem Frühstück; unmittelbar hinter dem Sanatorium steigt man ohne Ziel durch die Anlagen um die Sturdza-Kapelle || herum in den Wald hinauf, auf den Friesenberg, hinab zum Waldsee und in dem reizenden Wiesenthal des Michelbachs kehrt man zurück. Bäder, Douchen, Elektrisiren nehmen einen großen Theil des Vormittags weg, dafür hat man aber nachmittags Zeit zu ausgiebigen Wanderungen in der herrlichen Umgebung. Es ist ein sehr spaßiges Gefühl, wenn man so lange Patienten behandelt hat, nun selbst Gegenstand von therapeutischen Versuchen zu sein. Die Gesellschaft im Sa||natorium ist langweilig, viele Ausländer, meist Magen- und Darmkranke, Gichtiker, wenig Nervenkranke.

Ich dachte bis 20. Juni hier zu bleiben und muß dann wieder nach Stettin, so daß ich kaum Zeit finden werde, dich auf der Rückreise in Jena zu besuchen. Dafür hoffe ich aber, im September noch eine Kurz-Reise zu machen und dann auch nach Jena zu kommen.

Hoffentlich geht es bei Dir || leidlich dem achtzigsten Jahr entgegen; wenn man sieht, wie Viele schon viel früher zu laboriren haben, dann darf man nicht einmal allzu ungehalten sein, wenn man mit 77 Jahren einen Knacks bekommt.

Mit herzlichsten Grüßen an Tante Agnes und Meyers, falls sie auf dem Landgrafen hausen,

dein treuester

Heinrich

Brief Metadaten

ID
35477
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
31.05.1913
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,2 x 18,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35477
Zitiervorlage
Haeckel, Heinrich an Haeckel, Ernst; Baden-Baden; 31.05.1913; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35477